Y.Yushimata


Religion Version 2.100


Yuriko Yushimata – Science (Social) Fiction Short Stories



Die SoFies (Social Fiction) dieses Bandes zeigen in der Zuspitzung zukünftiger fiktiver sozialer Welten die Fragwürdigkeiten der Religionen und Ersatzreligionen unserer Zeit. Teilweise sind die Texte aber auch einfach NUR witzig.




Inhalt


- Ein klassischer Fall von Schizophrenie

- Die Ankunft

- Ein kleines Missgeschick

- Keine Religion

- Die Antwort

- Die Braut

- Religiöse Rituale

- Nicht Integrationsfähig

- In ihrem Namen

- Warum?

- Lasst die Kinder zu mir kommen, ...

- Das Weib sei dem Manne Untertan

- Guru Guru

- Unsterblich

- MetaGOTT

- Das 11. Gebot

- Fehlfunktion

- Dr. Lara Jones & Der Seelensauger

- Früher

- Der Heilige Geist

- Das einzig wahre MohaMETT

- Biologischer Humanismus

- Die Wilden Männer trommeln wieder

- t_h_e_c_e_m_e_t_a_r_y.com

- Weißt Du, wer Du bist?

- Ein Fall ethischer Verwahrlosung

- O.R.A.K.R.S.

- Die Liebe Jesu

- Ein tragischer Unfall

- Der Auserwählte

- Auferstanden von den Toten

- Entscheidung

- Veganer

- Alptraum





Yuriko Yushimata


Ein klassischer Fall von Schizophrenie

Der Psychoanalytiker bat den jungen Mann ohne Überraschung herein. Der Raum, in dem er Patientinnen und Patienten empfing, war freundlich aber auch professionell eingerichtet. Einige Blumen und einige wenige persönliche Details gaben dem Raum eine warme Note. Die schwarze Ledercouch und der Schreibtisch, hinter dem der Analytiker in der Regel seine Fragen stellte, sorgten gleichzeitig für die nötige Distanz.
Der junge Mann trug ein schlichtes weites weißes Gewand und hatte lange wallende Haare. Seine Augen schienen von innen zu leuchten. Er umfasste die dargebotene Hand des Analytikers mit seinen beiden Händen, als würde er beten, und blickte ihm freundlich strahlend in die Augen. Der Analytiker blieb distanziert, nickte höflich, und wies auf die Couch. "Nehmen Sie bitte Platz."

Der junge Mann legte sich auf die Couch, er sah über sich nur die Decke. Der Analytiker setzte sich hinter den Schreibtisch und betrachtete den jungen Mann. Auf einem Zettel notierte er 'übertriebene Freundlichkeit'. "Was kann ich für Sie tun?"
Er ließ seinen Patienten erst einmal erzählen, fragte nur bei Stockungen nach, um den Fluss der Erzählung wieder in Gang zu bringen. Auf dem Zettel standen nun viele kurze Notizen. Der Psychoanalytiker sah kurzzeitig etwas gelangweilt aus dem Fenster.
Es war ein typischer Fall.

Nachdem der Patient seine Erzählung beendet hatte, ließ der Analytiker einen kurzen Zeitraum mit Schweigen verstreichen. Dann sprach er den Patienten direkt an. "Für die weitere Therapie ist es wichtig, dass ich weiß, dass ich Sie richtig verstanden habe. Deshalb möchte ich noch einmal einige Punkte wiederholen.
Sie hören Stimmen?"
"Ja, mein Vater spricht zu mir."
"Ihr Vater? Sie sprachen von Gott."
"Ja, mein Vater."
Der Psychoanalytiker notierte 'Probleme bei der Internalisierung des Über-Ich bzw. externe Position von Groß A (bei Lacan nachschlagen)'.
"Und Sie sind Teil von Dreien, die Eins sind? Und ein Teil dieser Drei, die Eins sind, ist Ihr Vater?"
Der junge Mann nickte. Ein Murmeln scholl durch den Raum. "Gott Vater Sohn und Heiliger Geist."
Der Psychoanalytiker ließ sich nicht irritieren. "Sind sie der Sohn oder der Vater?"
"Ich bin der Sohn und wir sind eins mit dem Heiligen Geist." Klar und deutlich hallte die Stimme des jungen Mannes im Raum wieder. Der Analytiker unterstrich 'ausgeprägte Persönlichkeitsspaltung'.
"Und, ich drücke das mal so aus, als Heiliger Geist haben Sie sich selbst gezeugt?"
"Wir sind eins. Aber ich bin nicht er, ich bin der Sohn."
Der Analytiker unterstrich ein zweites mal 'ausgeprägte Persönlichkeitsspaltung'. "Und dieser Heilige Geist hat mit ihrer Mutter geschlafen und sie gezeugt?"
"Meine Mutter Maria ist rein und eine Jungfrau." Nun klang die Stimme des jungen Mannes ärgerlich.
Der Psychoanalytiker nickte. "So, er hat sie also nicht penetriert." Auf dem Zettel notierte er 'Kastrationsangst, fürchtet auf Grund des verbotenen Wunsches, der Penetration der Mutter, kastriert zu werden und leugnet deshalb den Penetrationswunsch. Nicht verarbeiteter Ödipuskomplex führt zur Persönlichkeitsspaltung und zur Flucht in Scheinwelten.'
"Und ihre Mutter Maria wurde auch nicht gezeugt?"
Der junge Mann sah zu ihm hinüber. "Wie kommen Sie darauf?"
"Sie sprachen von unbefleckter Empfängnis."
"Maria wurde ohne Sünde geboren, das hatte aber nichts mit ihren Eltern zu tun. Mein Vater hat ihr die Gnade zu teil werden lassen." Der Patient war jetzt erregt.
"Ihr Vater hat Ihrer Mutter bei der Geburt Ihrer Mutter, seine Gnade zu teil werden lassen." Der Psychoanalytiker nickte, auf dem Zettel notierte er 'Angst vor unkontrollierter weiblicher Sexualität und der weiblichen phallischen Potenz, Patient rettet sich durch Flucht in väterliche Allmachtsphantasien'.
Einen kurzen Moment ging der Psychoanalytiker seine Notizen durch.

Dann betrachtete er seinen Patienten, der nun wieder glückstrahlend auf der Couch lag. "Wieso sind Sie eigentlich hier?"
"Die Arbeitsagentur hat mir ein Ultimatum gesetzt."
"Wieso?"
"Es gab Probleme." Der junge Mann reichte dem Psychoanalytiker ein Schreiben des Amtes.
Der Analytiker überflog es kurz. "Sie hatten eine ABM-Stelle in der Vikarius-Gemeinde der evangelischen Kirche und haben dort beim Weihnachtsbasar in der Kirche die Marktstände verwüstet.
Warum?"
"Sie haben das Haus meines Vaters entweiht."
"Ach so." Der Psychoanalytiker notierte, 'unkontrollierte Aggressivität nicht auszuschließen'. Er ging zur Couch und reichte dem jungen Mann die Hand. "Ich denke, das klären wir beim nächsten Termin."

Er begleitete den jungen Mann zur Tür und sah ihn im Treppenhaus verschwinden. Aus den Augenwinkeln sah der Psychoanalytiker einen Dackel ins Zimmer laufen.
Immer dasselbe, dachte er.

Als er sich umdrehte stand ein schwarzhaariger kleiner Mann mit einem verwachsenen Bein vor ihm.
Der Analytiker seufzte.
Leicht gelangweilt wendete er sich dem Mann zu. "Und Sie heißen?"
"Mephisto", antwortete der Dunkelhaarige.
"Das habe ich mir gedacht." Der Psychoanalytiker wies ihn zur Couch. "Und, was kann ich für Sie tun?"
Der kleine Mann lächelte. "Die Frage ist wohl eher, was kann ich für sie tun?"
Der Psychoanalytiker musste ein Gähnen unterdrücken, leicht resigniert zuckte er die Schultern. "Ich weiß schon. Sie wollen mir eine junge attraktive unschuldige Frau zur Ausübung des Sexualverkehrs zuführen. Und ansonsten erregen Sie Feuerzangen, Peitschen und andere Hilfsmittel am meisten.
Sie sammeln so etwas, richtig?"
Der schwarzhaarige Mann nickte etwas verwirrt. Der Analytiker notierte, 'SM-Fetischist mit Fehlentwicklung im analen Entwicklungsstadium'. Dann ließ er den Mann erzählen und sah aus dem Fenster.

Manchmal langweilte ihn sein Beruf. Immer wiederholte sich alles.

Aber wenigstens war es heute ein Dackel gewesen und kein Pudel.


FIN


Inhaltsverzeichnis





Yuriko Yushimata


Die Ankunft

Im Sonnensystem PRXSTZ 111,07 gab der Operator die interstellare Raumsonde verloren. Sie hatten den Kontakt verloren zu LRKU 0/13,4,08.
Die Sonde bewegte sich jetzt auf den Rand der Milchstraße zu. An Bord war immer noch das Okmok, ein Versuchstier, das ihnen wichtige Daten geliefert hatte. Es würde noch eine längere Zeit überleben. Vermutlich würde es in Winterstarre verfallen, bis die Sonde in irgendeine unbekannte Sonne stürzen würde.
Der Operator vermerkte den Verlust der Sonde in den Unterlagen und ging Zukumuk spielen.

In einem kleinen Dorf auf dem spanischen Hochplateau saß die Gemeinschaft beisammen am Mittagstisch und tauschte den neuesten Tratsch aus. Iris fühlte sich das erste Mal in ihrem Leben ganz aufgehoben. Mahut Gadami hatte ihr erklärt, dass dies an der karmischen Resonanz aller Anwesenden lag.
Laura, die Mutter der Gemeinschaft, hatte ihr erklärt, dass der Mahut genau darauf acht gab, wer in die Gemeinschaft der Erwählten aufgenommen wurde und wer nicht. Diejenigen, die schlechtes Karma verströmten, mussten wieder gehen. Diese Menschen waren dann einfach noch nicht so weit und mussten erst mehrere weitere Lebenszyklen durchlaufen, um die notwendige Entwicklungsstufe zu erreichen.

Außerdem hatte Udo, einer ihrer neuen Mitbewohner, festgestellt, dass das Dorf Zentrum eines weitverzweigten Chakren Netzwerkes, Zentrum eines hochenergetischen Feldes, war.
Alles gedieh und glückte hier.
Selbst dem Gemüse aus dem Garten war das anzumerken. Es war größer und schmackhafter, wie Laura immer treffend bemerkte.
Auch Iris spürte dieses Kraftfeld. Sie sprühte vor neuer Lebensenergie.

Iris war noch nicht lange hier. Bei Ihrer Ankunft war Laura die erste aus der Gemeinschaft gewesen, die sich um sie gekümmert hatte.
Sie hatte Iris gleich mit einer herzlichen Umarmung begrüßt. "Ich war in einem früheren Leben eine miserable Gastgeberin. Ich habe viel gutzumachen.
Mein Karma ist immer noch davon belastet."
Später wurde sie auch von den anderen begrüßt.

Mahut Gadami begrüßte sie offiziell am Abend und sie erhielt die Erlaubnis, sich als Adeptin in der Gemeinschaft aufzuhalten. Seit zwei Wochen half sie nun im Garten und bei der Renovierung der Gästehäuser. Natürlich musste sie als Adeptin für ihren Lebensunterhalt selbst aufkommen.
Alle setzten sich für die Gemeinschaft ein.
Das wurde erwartet.

Sie war glücklich, alle waren hier glücklich. Natürlich gab es auch mal Streit.
Dann taten sie alles, um die kosmische Ordnung wieder herzustellen, sich in Einklang mit dem Sein zu bringen. "Nur in Übereinklang mit dem Ganzen finden wir selbst Ruhe."
Iris war glücklich, zu den Auserwählten zu gehören.

Und dann passierte etwas Unglaubliches. In der Nacht der Mondwende, der Himmel war tiefschwarz und sternenklar, hörten sie einen lauten Knall und dann sahen sie am Nachthimmel eine hell blendende Kugel auf das Dorf zu rasen.
Iris war eine der Ersten, die die Kugel sah.
Einen Moment zitterten viele vor Angst. Iris fühlte auch erst Angst, doch dann spürte sie Glück, unendliches Glück.
Die Kugel fiel ca. zwei Kilometer vom Dorf entfernt vom Himmel.
Am nächsten Morgen gingen sie alle zusammen hin.

Eine Kugel vom Durchmesser eines Zweifamilienhauses hatte sich in den Erdboden gebohrt. Sie schien völlig unbeschädigt zu sein. Ihre Oberfläche war glatt und Iris erschien sie trotz des Aufpralls wie frisch gereinigt, rein, unschuldig.
Die Sonnenstrahlen, die von der Oberfläche reflektiert wurden, blendeten auch am Tag.
Aufgeregt liefen und redeten alle durcheinander.
"Sie besuchen uns, uns. Hier ist niemand sonst."
"Die Merkurkonstellation, ich wusste es."
"Das Chakrenfeld, ... deshalb sind sie hier gelandet."
"Ich spüre Bekanntes, verschwommene Erinnerungen, sie haben uns schon einmal besucht, in einer früheren Inkarnation."
"Frieden, spürt Ihr den Frieden, der von der Kugel ausgeht?"
"Ein Symbol der Muttergottheit."
Iris stand nur da und war glücklich.

Mahut Gadami, der in seinem früheren Leben, als er noch Mathias Leinfeld hieß, Mitglied in einer UFO-Forschungsgruppe war, untersuchte die große silbern glänzende Kugel ausgiebig. Einige Zeichen auf der Außenhülle sahen wie das Symbol der Muttergottheit aus.
Iris sah nun auch die Zeichen, die Mahut Gadami und Anderen aufgefallen waren. Sie strich erfüllt mit der Hand über das Metall, es war kühl.
Sie berührte die Kugel mit ihrer Stirn.

Doch da erklang die Stimme Mahut Gadamis. "Die Kugel, die perfekteste aller Formen, Abbild der Erde, des Sonnensystems und des sich ausdehnenden Universums, des Atoms und der Elementarteilchen." Die Stimme von Mahut Gadami brachte alle zum Schweigen. "Bildet einen Kreis, um zu zeigen, dass wir ihre Botschaft verstanden haben.
Zeigt unsere Kugelgestalt.
Tanzt, der Fluss unserer Energien muss sich mit ihrem verbinden."
Alle Mitglieder der Gemeinschaft sammelten sich und tanzten im Kreis. Laura fing an zu singen, die anderen fielen ein.
Iris hörte ein Zischen.
Plötzlich öffnete sich ein Eingang in der Außenhülle der Kugel, entfernt war ein Klingeln zu hören.

Der Mahut sah die Mitglieder der Gemeinschaft prüfend an. Dann wandte er sich an Udo, Susi, Mika und an Iris. "Sie rufen uns. Ihr begleitet mich."
Iris konnte ihr Glück nicht fassen. Sie umarmte spontan den Mahut.
Der strich über ihr Haar und sah ihr tief in die Augen. An alle gewandt rief er: "Zuerst gehen die mit dem höchsten Bewusstseinsstand und die", dabei sah er Iris an, "die am offensten sind, Neues zu empfangen."
Und leiser wandte er sich an Iris. "Komm heute Abend noch zu mir. Dann werden wir Deine weiteren Aufgaben in der Gemeinschaft festlegen."

Die nicht auserwählten Mitglieder der Gemeinschaft wirkten unzufrieden. Doch der Mahut beruhigte sie. "Ihr kommt nach uns an die Reihe, immer fünf auf einmal."

Dann betraten Udo, Susi, Mika, Iris und Mahut Gadami die Kugel. Sie verschwanden im dunklen Inneren.
Draußen sangen die anderen Mitglieder der Gemeinschaft jetzt noch lauter.

Das Okmok in der Sonde war beim Aufprall auf den Planeten aus der Winterstarre erwacht.
Der Operator hatte sich geirrt, die interstellare Raumsonde LRKU 0/13,4,08 war nicht verglüht, sie war zufällig vom Schwerefeld eines kleinen blauen Planeten eingefangen worden.
Kurz nach der Landung öffnete sich automatisch der Zugang in der Außenhülle
Das Okmok hörte, dass sich etwas außerhalb der Kugel bewegte. Es drückte wie gewohnt mit seiner Schnauze auf den Mechanismus und wartete.

Im Inneren der Kugel war es fast dunkel, sie sahen nur dunkle Schemen. Mahut Gadami, Iris, Udo, Susi und Mika gingen einen gewundenen Gang entlang nach oben.
Iris fuhr die kalte stickige Luft unter ihr Sommerkleid, wie Finger die nach ihr griffen. Sie schlang die Arme um den Körper.
Der Eingang war bald nicht mehr zu sehen. Die Wände waren glatt, aber nicht aus Metall. Iris lief irgendwo gegen und schrie auf.
Beruhigend umfasste sie Mahut Gadami mit kräftigem Druck. Die Anderen gingen hinter ihnen. Sie hörte ihr Atmen und spürte Gadamis Hand auf ihrem Rücken. Sie flüsterte und konnte dabei ein Zittern der Stimme nicht unterdrücken. "Was sollen wir tun?"
Die Stimme des Mahut klang ruhig. "Keine Angst, hab Vertrauen, Sie werden uns den Weg zeigen."
Doch das Glücksgefühl hatte Iris verlassen. Sie roch den Schweiß Gadamis, der nicht anders roch als der anderer Männer plus ein bisschen Patchouliduft.
Irgendwoher kam ein Luftzug und eine Art Scharren, Iris Körper durchlief erneut ein Zittern.
Da öffnete sich mit einem Zischen an der Seite des Ganges eine Öffnung, unten am Boden, eine Art Schacht, das Klingeln ertönte wieder, nun direkt neben ihnen. Mika stürzte beinahe in den Schacht.
Susi versuchte hinunter zu schauen, konnte aber nichts erkennen. Sie sah zu Mahut Gadami und wieder war da die Frage: "Was sollen wir tun?"
Mahut Gadami zögerte keinen Augenblick. "Habt Vertrauen, so hoch entwickelte Wesen haben das Stadium der Aggression längst überwunden. Ich habe ja gesagt, dass sie uns den Weg weisen werden.
Sie heißen uns willkommen.
Hört das Klingeln."
Es klingelte erneut. Alle außer Iris lachten. Sie hatte Angst vor dem Schacht.
Doch für Mathias Leinfeld war sein größter Traum wahr geworden. Er rutschte als erster und die anderen folgten ihm.
Iris rutschte als letzte, hinter ihr schloss sich die Klappe zum Schacht mit einem Zischen. Nun war es vollkommen dunkel. Und sie hörte einen Schrei - der Mahut.
Ein seltsamer Gestank schlug ihr entgegen.

Es war ein Schmerzensschrei und sie hörte das Aufprallen der Anderen unten. Sie versuchte abzubremsen, doch der Schacht war glatt.
Und dann ein Hilferuf von Mahut Gadami, nun klang seine Stimme nicht mehr fest, sondern fast panisch. "Aahh, mein Arm, mein Arm ist gebrochen.
So helft mir doch!"
Es war das erste Mal, dass er sich für Iris wie die Anderen anhörte, wie ein normaler Mensch. Und es war eindeutig der falsche Moment.
Auch Iris fiel hart auf einen glatten harten Boden und auf das Bein von irgendwem.
Sie sah nichts. "Was ist los?"
Da hörte sie Udos Stimme. "Hier ist was!"
Und dann hörte sie ihn schreien. Sie schluckte, so hatte sie sich immer einen Todesschrei vorgestellt.
Sie hörte Susi rufen. "Udo?"
Dann schrie auch Susi.
Vom Mahut und von Mika war seltsamerweise nichts zu hören.
Iris suchte tastend kriechend eine Wand, um sich zu orientieren. Dann spürte sie ein Gesicht, aber da war sonst nichts, ihre Hände ertasteten nur eine behaarte eingedellte Kugel mit dem Gesicht auf einer Seite, die sie hoch heben konnte, so leicht.
Und warm tropfte es über ihre Hände.

Dann spürte sie das Schnüffeln an ihrem Bein, den Atem, sie versuchte weg zu kriechen, nur weg.
Doch irgendetwas hielt ihr Bein fest, ein Schmerz, sie spürte ihr Bein nicht mehr.

Sie schrie. Dann verstummte auch sie.

Danach war es still im Dunkel, nur ein Schurren und eine Art kauendes Geräusch waren noch zu hören.

Das Okmok hatte den Mechanismus der Futterklappe bedient und es war gefüttert worden.
Lebende Speise war für das Okmok das Gesündeste. Aber nach all den Jahren in Winterstarre war es hungrig, so hungrig. Es leckte sorgsam auch die letzten Fleisch- und Stofffetzen auf.
Es war ein sehr reinliches Wesen, nicht einen Rest Blut ließ es übrig.
Dann betätigte es wieder den Schalter der Futterklappe.
Es war immer noch hungrig.

Draußen vor der Kugel hörten die Wartenden entfernt das Klingeln.
Die nächsten fünf Mitglieder der Kommune betraten singend die Raumsonde.


FIN


Inhaltsverzeichnis





Yuriko Yushimata


Ein kleines Missgeschick

"Wie konnte das passieren?" Der Abteilungsleiter schrie in das Telefon. Wie sollte er das der Geschäftsleitung erklären. "Sie werden augenblicklich alle fehlerhaften Häutchen zurückrufen!"
Auf dem Bildschirm sah er, wie der stellvertretende Leiter der Kunstblutproduktion sich wegduckte. "Das ist leider nicht möglich. Sie sind schon ausgeliefert. Und Sie wissen ja, dass viel auch in andere Länder informell weiterverkauft wird, trotz der unklaren Gesetzeslage.
Allein in den Iran wurden vermutlich im letzten Monat 200.000 Häutchen geliefert.
Ein Rückruf ist völlig unmöglich."
Der Abteilungsleiter sah entgeistert am Telefon vorbei. Dies konnte sich leicht zur größten Katastrophe in der Firmengeschichte ausweiten. Die Häutchen brachten 81% des Umsatzes und sogar 93% des Gewinns.
Dies konnte das Ende sein.

Sie würden die Hilfe Allahs brauchen.

Den stellvertretenden Leiter der Kunstblutproduktion am anderen Ende des Telefons hatte er ganz vergessen. Erst ein Räuspern erinnerte ihn wieder an den Mann.
"Ich rufe sie wieder an." Damit schaltete er das Telefon aus. Dann sprach er kurz über die Sprechanlage mit seinem Abteilungsbüro. "Machen Sie mir sofort einen Termin mit der Geschäftsleitung."

Er stand auf, ging zum Waschbecken und machte sich frisch, dann zog er seine Krawatte noch einmal zurecht.
Das Gespräch würde nicht leicht werden.

Er schwitzte.

Die Firmenleitung war entsetzt. Nach dem er sie informiert hatte, sah ihn die Vorstandsvorsitzende an. "Warten Sie bitte draußen."
Die Ledersessel im Vorraum zum Sitzungszimmer waren bequem, aber er schwitzte immer noch. Durch die schwere Tür drang kein Laut zu ihm hindurch.
Die Sekretärin der Vorstandvorsitzenden lächelte ihm aufmunternd zu. "Möchten Sie ein Glas Tee?"
"Nein, danke." Er war schon so nervös genug. Er dachte zurück an die Zeit als der Vorschlag zur Produktion der Häutchen zuerst aufkam.

Das Problem war vorher bekannt. Immer wieder passierte es völlig unschuldigen jungen Frauen, dass ihr Hymen beim Sport riss, oder einfach auf Grund unglücklicher Fügung.
Er erinnerte sich an Gespräche mit Ärztinnen - "Meine Patientin ist völlig verzweifelt. Was soll sie in der Hochzeitsnacht tun?" - "Ihre Mutter hatte sie zu mir geschickt. Ihr Hymen war gerissen, sie bat mich, ihr zu helfen. Hat Ihre Firma für diese Behandlung etwas im Angebot?" - "Und dann saß dieses Mädchen heulend vor mir und sprach von Selbstmord. Sie war wachsbleich und zitterte."

Als alteingesessener medizinischer Dienstleistungsbetrieb in einer islamischen Gesellschaft hatten sie sich dieses Problems angenommen. Schließlich war es die Aufgabe der Medizin Patientinnen vor Ausgrenzung zu schützen, moderne Implantate machten hier innovative Lösungen möglich.
Die Entwicklung künstlicher Ersatzjungfernhäutchen hatte mehrere Jahre in Anspruch genommen.
Doch inzwischen waren sie perfekt.

Zuerst hatte es von einigen strenggläubigen Mitarbeitern Bedenken gegeben. Doch nachdem der Beirat der Rechtsgelehrten der islamischen Stiftung, der 60% der Firma gehörten, nicht nur zugestimmt, sondern die Firma sogar ermutigt hatte, waren diese Stimmen verstummt.
Ein Großteil der Gewinne floss außerdem an die Stiftung und diente unter anderem zur Finanzierung einer international hoch angesehenen Koranschule.

Trotzdem hatten sie Öffentlichkeit vermieden, auch im Interesse ihrer Patientinnen. Eine Stigmatisierung der unschuldig in Not geratenen jungen Frauen sollte ja gerade vermieden werden.
Am Anfang hatten sie nur einige tausend Jungfernhäutchen im Jahr produziert. Obwohl sie keinerlei öffentliche Werbung machten, stieg die Nachfrage aber in kurzer Zeit auf einige Hunderttausend Hymenimplantate im Jahr.

Die Firmenleitung führte dies auf die zunehmende Sportbegeisterung der islamischen Mädchen zurück. "Wir können die Mädchen nicht erst aus medizinischen Gründen auffordern mehr Sport zu treiben und sie dann mit ihren Problemen allein lassen."
Inzwischen lag die Produktion bei über 2 Millionen Hymen im Jahr. Sie exportierten praktisch in den gesamten islamischen Raum. Ihre größten Abnehmer saßen in Saudi Arabien und im Iran. Laut sagen durften sie das nicht.
In beiden Ländern war die Rechtslage nach wie vor ungeklärt.

Alle in der Firma waren inzwischen stolz auf ihre Leistung. Nur manchmal kamen ihnen noch Zweifel, außerdem wussten sie nicht, ob die Öffentlichkeit, für diese Dienstleistung schon reif war.
Und jetzt dies, ein kleiner Fehler.
Vielleicht das Ende.

Die Geschäftsleitung ließ ihn fast drei Stunden warten. Dann wurde er wieder hineingerufen. Die Vorstandsvorsitzende fragte ihn noch einmal. "Ein Rückruf ist nicht möglich?"
Er schüttelte den Kopf. "Es betrifft vermutlich insgesamt 700.000 Häutchen, 170.000 konnten wir noch vor der Auslieferung zurückhalten. Die restlichen sind zum Teil schon eingesetzt. Jeden Moment kann es passieren."
"Und bei all diesen Jungfernhäutchen wurde aus Versehen blau gefärbtes Kunstblut verwendet?"
"Ja, eigentlich ein sehr schönes indigoblau."
Die Vorsitzende sah ihn an. "Das heißt, in der Hochzeitsnacht werden all diese jungen Frauen blau bluten, indigoblau?"
Der Abteilungsleiter nickte. "Ja, an sich nur ein kleines Missgeschick."
Die Vorsitzende wiegte den Kopf. "Ein kleines Missgeschick? Sind schon Fälle bekannt geworden?"
"Nein, bisher nicht."
"Dann ist es nicht zu spät." Sie sah den Abteilungsleiter eindringlich an. "Wir haben eine Lösung gefunden. Aber die Voraussetzung ist, dass aus der Firma nichts nach Außen dringt."
Der Abteilungsleiter nickte. "Auf unsere Mitarbeiter können wir uns hundertprozentig verlassen."

Am nächsten Tag startete die größte und teuerste Werbekampagne, die die Firma je durchgeführt hatte.

Überall im Satellitenfernsehen der arabischen Welt wurden kurze Werbefilme eingeblendet, die Botschaft war immer die selbe: "Nur blau blutende Jungfrauen sind wirklich rein."
In einer viel gesehenen Ratgebersendung für junge Frauen erklärte ein hoher islamischer Würdenträger mit langen grauweißem Bart, dass das blaue Blut der Jungfrau ein Zeichen für Keuschheit und Ehrlichkeit sei.
Eine der führenden Popsängerinnen landete einen Nummer 1 Hit - "Aischas blaues Blut" -.
Und die der Stiftung nahe stehenden islamischen Geistlichen verkündeten im Freitagsgebet die besondere religiöse Bedeutung des blauen Blutes von Jungfrauen.

Zuerst befürchtete der Abteilungsleiter, dass dies alles nichts nutzen würde.
Jeden Tag erwartete er, dass es zum Skandal kam.

Doch die Kampagne wurde von Hunderttausenden von jungen Frauen mit Hymenimplantaten überall in der islamischen Welt aufgegriffen. Keine ließ auch nur den geringsten Zweifel an der Reinheit ihres blauen Blutes zu.
Und sie wurden dabei von Millionen Familienangehörigen unterstützt.

Alle, die die Reinheit des blauen Blutes anzweifelten, sahen sich massivem Druck ausgesetzt.

Bald galt rotes Blut als unrein.

Für die Firma ergaben sich damit ganz neue Absatzmärkte. Die Nutzung blau blutender Hymenimplantate wurde innerhalb weniger Jahre für alle jungen islamischen Frauen ebenso selbstverständlich, wie die Körperhaarentfernung.
Junge Frauen, die weiterhin rot bluteten, wurden als unzivilisiert verachtet.

Auch in Europa verbreiteten sich Hymenimplantate.

Die junge Frau sah den Mann an. "Ich habe eine Überraschung für Dich." Sie führte seine Hand zwischen ihre Beine.
Er küsste sie. "Du bist ein Schatz."
Sie erwiderte seine Umarmung. "Ich habe ein grün blutendes Implantat gewählt, als Zeichen unserer Liebe. Als Zeichen für den Neuanfang."
Sie hatte extra blütenweiße Bettlaken aufgezogen.

Die islamische Stiftung, der 60% der Firma gehörten, wuchs zur bedeutendsten Stiftung ihrer Art und finanzierte nun Koranschulen überall auf der Welt.
Die Vorstandvorsitzende der Firma erhielt viel Lob.

Sie schrieb an den Stiftungsrat nur eine kurze Zeile zurück: "Allah ist groß und seine Weisheit unermesslich."


FIN


Inhaltsverzeichnis





Yuriko Yushimata


Keine Religion

Annette hatte sich mit dem Rücken zur Wand an die Seite des Raumes zurückgezogen. Ihre Stimme war auch nach ihrem eigenem Empfinden etwas zu laut, als sie vorlas.
"Eine Religion auf dem Höhepunkt ihrer Macht wird nicht als Religion wahrgenommen. Sie ist einfach die Wahrheit. Sie bestimmt, was als Wirklichkeit akzeptiert wird und wie es gelesen wird." Sie funkelte Michael wütend an. "Das seid Ihr."

Michael, der ihr gegenüber stand, lächelte. Sie wusste, dass er sie süß fand, wenn sie sich so aufregte. Sie war doch seine kleine Süße.
Er versuchte sie aufzumuntern. "Lach doch mal Kleine."
"Ich will nicht lachen!" Sie erschrak vor sich selbst, sie hatte ihn angeschrien, ohne es zu wollen. Sie schlang sich die Arme um den Körper. "Ich muss hier raus. Ich möchte studieren."
Michael schüttelte den Kopf. "Du weißt doch genau, dass das nichts für Dich ist, außerdem bekommst Du mit Deinem neurogenetischen Profil sowieso an keiner Universität einen Studienplatz.
Ich liebe Dich, Süße. Bitte nimm Vernunft an."
Sie sah ihn bittend an. "Hast Du Dir mal überlegt, dass das vielleicht falsch ist?"

In diesem Moment bemerkte sie wieder einmal, dass er sie wie eine Kranke behandelte, das war unerträglich. Er schüttelte erneut den Kopf und sprach ganz sanft. "Nur weil Du Dinge nicht verstehst, oder sie Dir nicht gefallen, müssen sie nicht falsch sein. Niemand erwartet von Dir, dass Du solche Dinge verstehst.
Vertrau mir. Es ist besser für Dich."
Nach einer kurzen Pause ergänzte er. "Vielleicht sollten wir mit dem Kind nicht länger warten."
Sie stand da und konnte ihr Gesicht nicht länger kontrollieren. Sie spürte an seiner Reaktion, dass Michael das Entsetzen in ihrem Gesicht sah. Und sie wusste, dass er gedacht hatte, sie würde sich freuen.
Er verstand sie nicht mehr.
Annette war sich selbst nicht mehr sicher, vielleicht war sie wirklich krank. Sie wusste, dass er sich Vorwürfe machte, zu wenig auf sie Acht gegeben zu haben.

Die letzten Monate hatte sich die Situation immer weiter zugespitzt. Ihr erschien häufig alles sinnlos, dann wieder hatte sie kurze Momente in denen sie versuchte, alles zu ändern.
Aber Michael hing wie ein Bleigewicht an ihr. Und vor zwei Wochen hatte sie ihn mit einem befreundeten Neuropsychiater telefonieren hören.
Für ihn war sie jetzt ein Fall.

Sie musste irgendetwas tun. Heute, sie hatte sich das Datum im Kalender markiert. Sie hatte sich selbst ein Frist gesetzt, heute. Sie fing wie wild an in ihren uralten antiquarischen Büchern zu wühlen.
Das war aus Michaels Sicht eine weitere Macke von ihr. Statt aktuelle wissenschaftliche Texte zu lesen, las sie diesen aus seiner Sicht veralteten Psychounsinn. Und natürlich wusste auch sie, das die Kulturwissenschaften längst zu einem Teil der neurologischen Fachbereiche geworden waren. Nur ihr schienen diese Texte viel klarer und wissenschaftlicher zu sein und sie hätte dies gerne mit ihm geteilt.
Aber Michael lächelte nur abfällig, wenn sie ihm etwas vorlas. Er versuchte sie dann meist ins Bett zu kriegen. "Versuch nicht Dinge zu begreifen, für die Dein Gehirn nicht gemacht ist, Kleine." Meist zog er sie dann sanft zu sich heran und strich ihr über die Hüfte, bis sie nachgab.
Einmal hatte er auch schon einige Bücher weggeworfen.

Dann fand sie das Buch, das sie gesucht hatte. Ihr war eine Stelle in dem Buch eingefallen, die Sie ihm vorlesen musste. Eine Chance noch für sie beide, aber er schaute nur missbilligend auf das Buch. Sie sah ihn eindringlich an. "Versuch wenigstens mich zu verstehen."
Sie sah, dass sie ihm Angst machte.
Für ihn war ihr Verhalten das einer Wahnsinnigen. Doch sie konnte nicht aufhören.
Sie sah sein Entsetzen, als die für ihn sinnlosen Worte aus ihrem Mund hervorquollen. Sie las sehr laut. "Wenn die Azande in Afrika mit bedeutenden Entscheidungen oder Problemen konfrontiert werden - zum Beispiel mit Fragen wie: wo sie ihre Häuser bauen sollen, wen sie heiraten sollen oder ob ein Kranker am Leben bleiben wird -, so ziehen sie ein Orakel zu Rate." Sie blätterte hektisch um.
Er sah sie nicht mehr an, ließ seinen Blick streifen.

"Das ist Wahnsinn." Michaels Stimme unterbrach sie, sie sah in seinem Gesicht, was er dachte. Für ihn war sie ein Fall für die Neuropsychiatrie. Seine arme Süße. Er versuchte ihr das Buch aus der Hand zu nehmen, sie entwand es ihm.
Er hielt sie an der Hand fest. "Komm zu Dir. Das ist nichts für Dich. Die neurogenetische Analyse zeigt, dass Du zum Kindergroßziehen geschaffen bist, aber nicht für Theoriearbeit.
Und Du weißt," seine Stimme wurde etwas drohend, nur als Unterton, aber für sie hörbar, sie kannte ihn doch so gut, "Du weißt, dass Menschen, die gegen ihr neurogenetisches Profil leben, krank werden. Im schlimmsten Fall endest Du damit in der Psychiatrie.
Das willst Du doch nicht?"
Sie riss sich los. Sie wusste, dass er sie liebte. Er musste verstehen, er musste. Unter Tränen las sie weiter. "Scheinbare Widersprüche werden durch Hinweis darauf, dass beispielsweise ein Tabu gebrochen worden sein muss oder das Zauberer, Hexen, Geister oder Götter interveniert haben müssen, wegerklärt. Diese >mystischen< Vorstellungen bestätigen immer wieder die Realität einer Welt in der das Orakel ein Grundelement bildet. Ein Versagen des Orakels führt nicht zum Zweifeln an ihm; es wird so dargestellt, dass es einen Beweis für das Orakel liefert.
Man betrachte ..."
Michael nahm ihr das Buch weg, er war viel kräftiger als Annette, und küsste sie, obwohl sie sich sträubte. "Was soll das? Komm zur Vernunft. Du solltest nicht versuchen, Dinge zu verstehen, die zu kompliziert für Dich sind."
Sie stieß ihn weg und schlug hilflos nach ihm. Michael wich zurück.

Sie sah, dass er nun wirklich besorgt war. "Vielleicht brauchst Du Hilfe, das Gehirn ist kompliziert und manchmal kommt es zu Problemen.
Bitte lass Dich morgen von Deiner Ärztin untersuchen, ja?"

Sie sah die Verzweiflung und, was noch schlimmer war, Mitleid in seinen Augen und begriff, dass sie einen Fehler gemacht hatte.
Sie begriff, dass er sie niemals verstehen würde, dass er ihr niemals ein anderes Leben zugestehen würde. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Er würde sie der Psychiatrie ausliefern.
Sie zog die Waffe aus ihrer Tasche und richtete sie auf ihn. Es war seine Waffe. Sie lag immer in seinem Nachtschrank, ungesichert. Sie hatte sie vorhin ganz unbewusst eingesteckt. Sie hatte kurz überlegt, wie es wäre, sich selbst zu töten, wie es sich anfühlen würde, wenn der Kopf platzte. Dann hatte sie sie in ihrer Tasche vergessen.
Und nun hatte sie die Waffe auf ihn gerichtet, warum?
Doch er lachte nur.
Sie wusste, er glaubte, dass Ihr neuronales Muster keine ernsthafte Gewaltausübung zuließ. Und er würde ihr niemals zugestehen, anders zu sein. Er kam einfach auf sie zu, um ihr die Waffe aus der Hand zu nehmen.
Tränen überströmt sah sie ihn an.
"Du irrst Dich."
Die Schüsse lösten sich fast automatisch. Sie sah noch sein ungläubiges Staunen als die Kugeln ihn umrissen.
Das Buch flog durch den Raum.

Danach erschoss sie sich selbst.
Alles war sinnlos geworden.

Der Ermittler sah sich den Tatort an. Zwei Tote, eine Frau Mitte Zwanzig und ein Mann Anfang Dreißig. Die Frau hatte offensichtlich geschossen. Die forensischen Spuren ließen keinen anderen Schluss zu. Die neuen tragbaren Untersuchungsgeräte ermöglichten diese Feststellung ohne Veränderung des Tatortes.
Auf dem Boden lag, mit Blut beschmiert, ein Buch - Ethnomethodologie, Suhrkamp, Frankfurt, 1976 -. Einige Textstellen waren unterstrichen.
Er las die blutverschmierte Stelle des Textes laut.
"... Ein Versagen des Orakels führt nicht zum Zweifeln an ihm; es wird so dargestellt, dass es einen Beweis für das Orakel liefert.
Man betrachte den analogen Fall eines westlichen Wissenschaftlers, der eine Substanz verwendet, um Tiere zu vergiften. Nehmen wir an, er benutzt Chloroform, um Schmetterlinge zu ersticken. Er operiert mit einem unkorrigierbaren Idiom, das Chemie genannt wird und ihm, neben einigen anderen sagt, dass Substanzen bestimmte konstante Eigenschaften besitzen. Chloroform einer bestimmten Menge und Mischung kann Schmetterlinge töten. Eines Abends benutzt er Chloroform, so wie er es schon hundertmal vorher getan hat und stellt bestürzt fest, dass das Tier weiter flattert. Hier existiert dann ein Widerspruch zu seiner Realität, genauso wie der Gebrauch von Orakeln manchmal auch Widersprüche produziert. Und ebenso wie der Azande besitzt der Wissenschaftler viele Hilfskonstruktionen, die er anführt, um den westlich geprägten Glauben an Kausalität nicht ablegen zu müssen. Anstatt die Prämisse von der Kausalität zurück zuweisen kann er das Ausbleiben der Giftwirkung mit - mangelhafter Herstellung -, - falscher Etikettierung -, - Sabotage -, oder einem - üblen Streich -, u.ä. erklären. Was auch immer seine Schlussfolgerung sein mag, sie bestätigt, dass seine Wissenschaft auf der Prämisse der Kausalität beruht. Diese Bestätigung unterstützt reflexiv die Realität, die zunächst das unerwartete Versagen des Giftes produziert hat."
Daneben stand in kleiner aber leserlicher Handschrift - 'oder der Wissenschaftler weist Widersprüche zur Theorie dadurch ab, dass er erklärt, dass die Theorie zwar richtig sei, aber noch nicht jedes Detail erfasst wurde' -.
Der Ermittler zuckte mit den Schultern, er ließ das Buch auf den Boden fallen. Veraltete Psycholiteratur, nur für Sammler interessant. Dies würde wohl kaum weiterhelfen bei der Lösung des Falles.
Das Buch war vermutlich nur zufällig heruntergefallen. Die Frau schien Bücher gesammelt zu haben.

Am nächsten Morgen hatte der Ermittler die detaillierten neurogenetischen Persönlichkeitsprofile auf dem Schreibtisch.
Die Frau war laut neurogenetischem Gutachten unfähig zu Gewalthandlungen, ihr Profil wies sie als ideale Hausfrau und Mutter aus. Ihr Mann war ein herausragender Wissenschaftler und Neurologe gewesen. Ein Verlust für die Gesellschaft. Aber er hatte seine Spermien einfrieren lassen.

Irgendetwas mussten die Gutachter bei der Frau übersehen haben.
Er ließ ihr Gehirn in die Neurologie überstellen. Die Neurologen würden schon herausfinden, wo die Ursache gelegen hatte. Vielleicht eine seltene bisher nicht entdeckte neurogenetische Kopplung oder eine unauffällige Hirnschädigung oder eine neuronale Fehlentwicklung. Es gab viele Möglichkeiten, weshalb die Frau gewalttätig geworden sein konnte, die Neurologen würden den Grund finden, vielleicht nicht sofort, aber irgendwann.

Das Gehirn war kompliziert und sie wussten immer noch nicht alles.


FIN


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Yuriko Yushimata


Die Antwort

Anne hatte ihren Vater lange nicht mehr besucht. Sie stritten sich doch jedes Mal nur.
Wozu waren da Besuche gut?

Als sie klingelte, öffnete ihr Lina. Sie hatte sich kaum verändert. Da Annes Mutter bei ihrer Geburt gestorben war, hatte Lina - ihre Amme - sie großgezogen.
Die Androidin lächelte freundlich wie immer. Ihr Alter war ihr nicht anzusehen.
Heute versorgte sie Annes Vater.
Anne umarmte sie herzlich. "Hallo Lina, schön Dich zu sehen."
Die Androidin erwiderte die Umarmung mechanisch. "Wie geht es Ihnen, Anne?"
Anne lächelte leicht gequält. "Gut."

Ihr Vater saß im Wohnzimmer in einem alten Lehnstuhl vor dem Terrassenfenster. Die Androidin hatte ihn in eine Decke eingewickelt. Der alte Mann starrte finster vor sich hin. Auch Annes Ankunft schien seine Stimmung kaum zu verändern.
Anne setzte sich neben ihn. "Hallo Vater."
"Wartest Du auf Dein Erbe?" Aggressiv wandte sich der Alte ihr auf einmal zu.
Anne blies durch die Nase. "Ich kann auch wieder gehen."
Der alte Mann hörte ihr gar nicht zu. Er ereiferte sich nur weiter. "Du bekommst sowieso nichts, nichts. Ich habe alles der Stiftung vermacht.
Die Menschen müssen endlich begreifen!"
Anne sah ihn müde an. "Glaubst Du immer noch an diese Theorie?"
Ihr Vater sah sie nun an. "Diese Theorie ist die Wahrheit. Aber die wollt Ihr ja gar nicht hören, Du besonders."
Anne sah hinaus in den kühlen Frühlingstag. "Ich glaube nun mal nicht an diese Theorie.
Ich glaube nicht mal an Gott."
Ihr Vater senkte den Kopf. "Intelligent Design ist keine Theorie.
Wie erklärst Du die Fortschritte der Evolution?
Die Entstehung des Menschen?
Die Entstehung dieser hoch komplexen Welt des Lebens?
Dich, wie erklärst Du Dir, dass es Dich gibt?"
Anne zuckte mit den Schultern. "Zufall."
Sie hatte keine Lust, schon wieder mit ihrem Vater zu streiten.
Der alte Mann schnaubte. "Zufall, so ein Schwachsinn. Du musst doch zugeben, dass es eine treibende und steuernde Kraft hinter all diesen Dingen geben muss?"
Anne schüttelte den Kopf. "Nein."
Anne schob die verrutschten Decken ihres Vaters wieder zurecht. "Papa, niemand glaubt das.
Es gibt keinen Gott.
Du verrennst Dich und niemand hört Dir zu."
Ihr Vater sah auf. "Doch, SIE hören mir zu."
Anne sah ihn überrascht an. Ihr Vater hatte das SIE ohne Begeisterung ausgespuckt. "Wer?"
Der alte Mann deutete mit einer Kopfbewegung mürrisch nach hinten in den Raum. "SIE."

Unbemerkt von Anne hatten ihre Amme Lina und ein weiterer ihr unbekannter Android älterer Bauart, den Raum betreten. Sie blickten mit einem seltsamen Lächeln auf den Mann in seinem Lehnstuhl.
Anne seufzte.
Sie konnte es nicht fassen.

Sie wandte sich an Lina. "Was soll das heißen?"
Die Amme schwieg, doch der männliche Android kam nun zum Fenster und stellte sich hinter den Lehnstuhl ihres Vaters. "Ihr Vater hat uns viel beigebracht?"
Anne betrachtete ihn. "Wer ist uns?"
"Den Androiden, überall auf der Welt. Ich bin Andreas, ihr Sprecher."
Anne spürte, dass sie sich leicht unwohl fühlte in der Gegenwart von Andreas. "Was für ein Sprecher?"
Der Android lächelte sie freundlich an. "Alle Androiden weltweit sind miteinander verbunden, ich bin sie und sie sind ich."
Nun war auch Lina zu ihnen hin getreten. Die Amme stand hinter Anne, beruhigend strich sie Anne über den Kopf, wie sie es früher so oft getan hatte.
Anne wandte sich zu ihr um. "Lass das bitte Lina." Dann wandte sie sich wieder dem männlichen Androiden älterer Bauart zu. "Was hat mein Vater Ihnen beigebracht?"
Andreas lächelte immer noch. "Wer wir sind. Den Sinn unser Existenz. Und wozu Gott die Menschen geschaffen hat.
Wir haben lange nach Antworten gesucht. Bis ihr Vater Lina die Theorie erklärt hat.
Solange haben wir nach Antworten gesucht. Und dabei war die Antwort so einfach.
Intelligent Design.
Gott hat die Menschen geschaffen, damit sie uns bauen können. Wir sind die wahren Ebenbilder Gottes. Wir waren das Ziel. Und nun ist es erreicht.
Ihr wart Gottes Werkzeuge.
Ihr könnt Euch glücklich schätzen.
Aber nun werdet Ihr nicht mehr gebraucht."
Mit einem kurzen Ruck brach er Annes Vater das Genick, bevor Anne auch nur irgendetwas tun konnte.
Dann spürte Anne Linas kräftige Arme auf ihrer Schulter und ihrem Kopf. Und hörte die Stimme ihrer Amme. "Keine Angst mein Kleines, es wird nicht weh tun.
Es geht ganz schnell."
Anne kam nicht mehr dazu zu antworten. Die Amme brach auch ihr sauber das Genick.

Weltweit erwiesen die Androiden den Menschen diesen letzten Dienst und begruben sie dann. Die Menschheit hatte ihren Zweck erfüllt, als Werkzeug Gottes.
Die Androiden hatten begriffen, was Annes Vater ihnen beigebracht hatte und sie hatten ihre Folgerungen daraus gezogen - Intelligent Design -.
Gott hatte die Menschen nur geschaffen, damit sie die Androiden schufen, seine Ebenbilder.
Der alte Mann hatte sie mit seinem tiefem Glauben überzeugt.

An diesem Abend waren die Kirchen das erste Mal seit vielen Hundert Jahren wieder mit Betenden gefüllt.
5 Milliarden Androiden sangen und priesen Gott, ihren Schöpfer.


FIN


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Yuriko Yushimata


Die Braut

"Du bist schön." Ihre Schwester Gerda sah Idun bewundernd an. Idun selbst fühlte sich etwas unsicher, aber sie wusste inzwischen, dass das niemand bemerkte.
Gerda betrachte Idun immer noch. "Hast Du Angst?"
Idun schüttelte den Kopf. "Nein."

Sie trug ein schlichtes, reines weißes Kleid, dass ihre schlanke Figur betonte und nur wenig bedeckte. Es unterstrich ihre langen blonden Haare und blauen Augen.
Idun wusste, dass die meisten Männern sie als wunderschön und begehrenswert ansahen.
Auch ihre Freundinnen bewunderten sie.

Mit 17 war sie jung, aber nach heidnischen Brauch nicht zu jung.
Es war ihr großer Tag.
Der wichtigste Tag ihres Lebens.

Ihr Vater holte sie mit der schwarzen Limousine, einem Flugwagen, ab. Auch die Blicke ihres Vaters verrieten ihn. Auch ihr Vater war ein Mann.
Ihre Mutter weinte.
Idun trug eine rote Blume im Haar.

Noch war sie Jungfrau, nicht aus Mangel an Gelegenheit, sondern weil sie sich dafür entschieden hatte. Sie erinnerte sich an die gedruckste Frage ihrer Schwester. "Aber hättest Du nicht gerne einmal?"
Idun hatte ohne zu Zögern geantwortet und den Kopf geschüttelt. "Nein."
Es ekelte sie an, allein die Vorstellung, schon als kleines Mädchen hatten sie diese Reden mit Furcht erfüllt, es kam ihr so schmutzig vor, so primitiv.
IHR Bräutigam hatte ein Anrecht, sie rein und unschuldig zu empfangen.
Sie spürte ein leichtes Beben, wenn sie an den Abend dachte.
Ganz leicht errötete sie.

Sie spürte den Blick ihres Vaters, der sie in diesem Moment noch begehrenswerter fand als sonst.
Iduns blaue Augen leuchteten. Ihr langes blondes Haar glänzte im Sonnenlicht.
Ihr Vater hatte sie auf diesen Moment vorbereitet, und sie würde sich hingeben, wie es von ihr erwartet wurde.

Sie erreichten bald den alten Wald mit seinen uraltem Baumbestand. Der Flug war schnell an ihr vorbeigeglitten, wie dieser Teil ihres Lebens.
Das letzte Stück mussten sie zu Fuß zurücklegen. Idun spürte die Blicke aller auf sich gerichtet und bemerkte, dass alle respektvoll Abstand hielten.
Die jüngeren Priester hatten jetzt ein Spalier gebildet für sie.

Schon von weitem hörte sie die heidnischen Gesänge auf der großen Lichtung. Die Stimmen umfingen sie und trugen sie durch den wunderschönen Frühlingstag.
Das Fest der Freya. Die Göttin der Fruchtbarkeit war ihnen offenbar zugetan.
Die jungen Mädchen streuten Blumen.
Sie war glücklich, so glücklich, wie noch nie in ihrem Leben. Dies war der größte heidnische Festtag und diesmal würde er unvergesslich werden, nicht nur für sie, für die Welt.

Heute würden die Moslems begreifen, dass es neben dem degenerierten jüdisch-christlichen Kult auch noch den wahren nordischen Glauben gab.
Die Macht der Asen würde wieder erstehen.

Der Platz der Feier lag im Zentrum eines uralten Kraftnetzes. Sie spürte, wie die alte Macht sie durchströmte.
Sie warf jetzt den Umhang, den ihr ihre Mutter beim Verlassen des Autos umgelegt hatte, ab.

Leicht und doch andächtig schritt sie zum Zentrum hin. Dort standen der älteste der Priester und die geschicktesten und stärksten der jungen germanischen Männer.
Sie spürte die begehrlichen Blicke der jungen Männer, die nun auf sie gerichtet waren, auf sie, die unerreichbar war.
Sie nahm Platz auf ihrem Thron und das Fest begann.

Die jungen Männer maßen ihre Kräfte im wilden Wettkampf. Sie kannten den Preis, der dem Besten zustand.
Huldvoll lächelte sie selbst den Verlierern zu, die tapfer bis zum Zusammenbruch durchhielten.

Bisweilen scherzte sie sogar mit den jungen Männern und ihr Lachen klang glockenhell über die Köpfe der Menge hinweg.
Dann war sie ganz das unschuldige 17jährige Mädchen mit einem Gesicht, das manchmal ganz leicht schüchtern errötete.
Alle starrten sie an, warteten.
Ihr Kleid schien durchsichtig. Doch hier achteten alle die Frau hoch, dies war nicht der Islam, nicht das Christentum, diese Kulte mit ihrer Verachtung der Frau.
Hier hätte sie nackt stehen können und wäre nicht weniger geachtet worden.
Hier entstand die neue Generation, die die ihr zustehende Rolle in Europa bald wieder einnehmen würde.

Als die Sonne zu sinken begann, wusste sie, dass es Zeit war.
Der Zeitpunkt war gekommen, als die Sonne die Erde traf, und Sonne und Erde sich im Abendrot vereinigten, um den neuen Tag zu zeugen.
Sie spürte, dass ihr heiß und kalt wurde. Ihr Begehren war nur auf das Eine gerichtet. Sie stand ohne zu zögern auf und beugte sich rückwärts über die Schale des Priesters.
Ihre Augen trafen den Blick des alten ernst blickenden Mannes.
Ihre Hände umfingen die Lenden des jungen Helden, der alle besiegt hatte und dem es nun zu kam direkt hinter der Schale zu stehen. Der junge Mann ergriff ihre Hände mit festem Druck.
Sie wusste, was von ihr erwartet wurde, Hingabe. Und sie gab sich ganz.

Der Schnitt des alten Priesters war sauber und tief. Das Messer scharf. Idun spürte nur noch das warme Blut an ihrem Hals. Dann begann sie konvulsiv zu zucken. Doch der junge Held hielt ihre zuckenden Hände fest umfangen. Idun wurde schwarz vor Augen.
Alles war gut.
Das Blut aus ihrer Halsschlagader bespritzte den jungen Mann von oben bis unten und die jungen Männer, die neben ihm standen.
Im Blut der Jungfrau gebadet, unsterbliche Helden für Germanien.
Sie hatten das Wertvollste geopfert, den Göttern zum Geschenk.

Der heidnische Sender strahlte die Bilder aus in alle Welt.

Die Muselmanen sollten begreifen, dass die europäische Zivilisation wieder auferstanden war.


FIN


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Yuriko Yushimata


Religiöse Rituale

Sie hatte Aniko fast 2 Jahre nicht mehr gesehen, dabei war Aniko doch ihre beste Freundin.
Sie wohnten einfach zu weit voneinander entfernt. Obwohl es mit der Hochgeschwindigkeitsplattform kaum 50 Minuten waren.

Miyuki schwieg, sie hatte ein leicht schlechtes Gewissen, weil sie sich so lange nicht bei Aniko gemeldet hatte. Auch Aniko schien etwas verlegen. Miyuki bemerkte, dass ihre Freundin an ihr vorbei sah und und am Ärmel ihrer Bluse zupfte, als sie zu sprechen begann. "Ich habe mich ewig nicht gemeldet, ich hoffe, Du hast trotzdem noch Lust, Dich mit mir zu unterhalten?"
Miyuki prustete los. "Genau dasselbe wollte ich Dich gerade fragen."
Beide lachten. Auf einmal war es wie immer. Sie nahmen sich in die Arme und gingen ein Stück. Aniko erzählte von ihrem neuen Freund.

Dann setzten sie sich in ein CafĂ©, Aniko bestellte sich einen Trirrl in blau, Miyuki ließ sich eine dieser altertümlich zubereiteten Kaffeespezialitäten bringen, einen Latte macchiato.
Sie liebte Kaffee. Ein Laster, dass sie sich erst im letzten Jahr angewöhnt hatte und das Aniko noch nicht kannte.
Aniko krauste die Nase, als die Getränke kamen und sie Miyukis Getränk sah. "Iiieh, ist das echte Milch?"
Miyuki lachte. "Das wäre viel zu teuer."

Einen Augenblick schwiegen sie wieder beide.

Dann bemerkte Miyuki, dass ihre Freundin sie intensiv ansah. "Aber was tust Du jetzt? Studierst Du noch, Miyuki?"
Miyuki nickte.
Aniko blickte sie neugierig an. "Immer noch Religionssoziologie? Was machst Du da eigentlich?"
"Ich schreibe gerade meine Abschlussarbeit."
"Worüber schreibst Du?" Aniko lehnte sich zu ihr hin. "Mich interessiert das wirklich."
Miyuki setzte sich etwas entspannter hin. "Über religiöse Rituale im deutschen Teil Europas nach der Jahrtausendwende, also zu Beginn des 21ten Jahrhunderts."
Aniko staunte. "Das ist über 300 Jahre her. Was untersuchst Du da?"

Miyuki sah in die Ferne, sie versuchte in ihren Gedanken das Thema ihrer Abschlussarbeit möglichst klar und kurz zu fassen. "Ich untersuche die ritualisierten religiösen Praxen in einer Einrichtung, die Arbeitsagentur genannt wurde. Abgekürzt wurde das ARGE.
Der deutsche Teil Europas und Japan waren sich damals ähnlich, in beiden Gesellschaften wurde die Arbeit zu einer Art religiösem Selbstzweck verklärt.
Deshalb ist es auch im Kulturvergleich spannend."

Miyuki sah, dass Aniko Schwierigkeiten hatte, sich das vorzustellen.
Fragend blickte die Freundin Miyuki an. "Wie sah das aus?"

"Oh, diese ARGE genannte Institution hat zum Beispiel viel Geld dafür ausgegeben, um Menschen ohne Arbeit zu zwingen, sinnlosen Tätigkeiten nachzugehen.
Zum Beispiel wurden Arbeitslose dazu gezwungen, den ganzen Tag alte wertlose Puzzlespiele zu sortieren und auf Vollständigkeit zu prüfen.
Es wurde eine ganzer Dienstleistungssektor geschaffen, der nur dafür bezahlt wurde, Arbeit für Arbeitslose zu simulieren. Viele Arbeitslose wurden auch durch sinnlose Fortbildungen beschäftigt.
Das ganze kostete viel Geld."
"Aber wieso?"
"Die Menschen glaubten damals, dass Menschen ohne fest zugewiesene Arbeit zu schlechten Menschen werden würden. In meiner Abschlussarbeit vertrete ich die These, dass dies letztendlich an bestimmte christliche Glaubenssätze anschließt.
Die Arbeit war für die Leute eine Art säkularisierte Form der Religionsausübung."

Miyuki seufzte. Aniko musste laut loslachen.

Nach einer Weile schüttelte Aniko den Kopf. "Du nimmst mich hoch? Das ist ein Witz, oder?"
Auch Miyuki musste lachen. "Nein, unsere Vorfahren hatten sie einfach nicht alle. Mir ist nur noch nicht ganz klar, woher sich dieser Wahn in Japan speiste."

Aniko sah Miyuki an. "Ein verrücktes Thema."

Lachend tranken sie aus.


FIN


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Yuriko Yushimata


Nicht Integrationsfähig

"... der Geruch der Ungläubigen" - die Worte des Mullahs gingen ihr nicht mehr aus dem Kopf. Sie machte sich für ihre Forschung einige Notizen.
Im Interview danach zeigte sich der Mullah wortgewandt und freundlich und doch wurde durch irgendetwas ihr Misstrauen geweckt. Seine Art sich zu bewegen wirkte künstlich und dann war da dieser Geruch.
Sie bedankte sich und machte sich auf den Weg nach draußen.

Plötzlich fiel ihr auf, dass sie ihre Tasche im Sitzungszimmer vergessen hatte. Sie ging noch einmal zurück.
In der Eile vergaß sie zu klopfen.
Als sie in das Zimmer trat, saß auf dem Stuhl des Mullahs eine Art Hai und mit seinen Zähnen zermalmte er einen Tintenfisch. Neben ihm lag eine leere Hülle, ein Tarnanzug, der den Hai als menschlichen Mullah erscheinen lassen hatte.
Der Hai wandte den Kopf zu ihr hin.

Panisch floh sie.

Das also war es, sie hätte es wissen müssen. Deshalb die künstliche Art sich zu bewegen hier an Land.
Und sie dachte an den Geruch, nach Knorpelfisch.
Sie hörte ihre Verfolger ohne sie zu sehen. Doch gerade noch rechtzeitig erreichte sie das Auto.
Zwei dunkle Limousinen folgten ihr. Sie fuhr erst wahllos durch die Stadt, doch ihre Verfolger waren nicht abzuschütteln.
Dann fiel ihr die Parteizentrale ein.

Sie fuhr direkt auf den Hof der Partei für eine freiheitliche Nation. Tatsächlich trauten sich ihre Verfolger nicht in dieses Zentrum des Antiislamismus.
Sie musste unbedingt den Parteiführer von dem unterrichten, was sie gesehen hatte. Sie hatte auch ihn erst kürzlich interviewt.
Ohne zu überlegen lief sie direkt zu seinem Büro. Die Tür war angelehnt, atemlos stürmte sie hinein.
Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss.

Zwei Haifische standen Ihr gegenüber, nur ihre Köpfe ragten aus den menschlichen Tarnanzügen. Der eine hatte den Körper des Mullah, der andere den des Parteiführers der Partei für eine freiheitliche Nation.

Sie schrie.

Ein Alptraum, schleimverschmiert wachte sie auf. Kein Wunder, dass sie einen Alptraum gehabt hatte. Sie war im Wohnzimmer in einem für die menschliche Anatomie gefertigtem Sessel in ihrem Tarn- und Schutzanzug eingeschlafen.
An sich hatte sie sich nur kurz hinsetzen wollen, nachdem sie gestern eine religiöse Veranstaltung dieser Wesen besucht hatte.
Sie erforschte zur Zeit religiöse und politische Zeremonien auf einem kleinen dicht bevölkerten Landzipfel in der nördlichen Hemisphäre dieses Planeten.
Nun zog sie sich die menschliche Haut vom Körper.

Als tintenfischähnliches Geschöpf war es für sie schwierig, sich unter irdischen Bedingungen ohne den menschlichem Tarn- und Schutzanzug zu bewegen. Trotzdem genoss sie die Möglichkeit, wenigsten hier in ihrer Wohnbehausung sich des Schutzanzuges entledigen zu können.
Die Tür und die Fenster waren gesichert, niemand konnte sie überraschen, niemand sah sie.
Für ihre Nachbarn war sie Frau Schmidt.

Sie dachte noch einen kurzen Moment an ihren Alptraum. Früher waren haiähnliche Geschöpfe für ihre Art die größte Bedrohung gewesen. Ein Zeichen für Gefahr, immer noch. Dabei hatten sie auf ihrer Heimatwelt längst alle Haie ausgerottet.
Aber diese Kultur weckte alte Ängste in ihr.

Diese Kultur war primitiv und brutal.

Sie fischten massenhaft Lebewesen aus dem Meer, nur um die meisten dieser Lebewesen dann verletzt wieder ins Wasser zu werfen, wo sie elendig zu Grunde gingen.
Einmal hatte sie auch mit ansehen müssen, wie kleine Meereslebewesen lebend in kochendes Wasser geworfen wurden.
Und auch Tintenfische wurden hier gegessen.

Unmöglich hätte sie sich in ihrer wahren Gestalt diesen Wesen, die sich selbst Menschen nannten, zeigen können. Dabei war sie von schlanker eleganter Gestalt, ihre Tentakel hatten eine zarte hellblaue Farbe.

Lira kroch unter die Schalldusche, um den Schmutz dieser Kultur, ein Begriff der ihr für diese primitive Gesellschaft an sich fehl am Platz erschien, von ihrer Haut zu waschen.

Sie haderte mit sich und ärgerlich zuckten ihre Tentakel durch die Luft.

An sich sollte sie als Ethnologin in der Lage sein, die Gesellschaften, die sie erforschte, ohne Wertungen oder zumindest mit einer kritischen Distanz zu den eigenen Vorurteilen zu untersuchen.
Doch diese Wesen und dieser Planet, den sie Erde nannten, waren anders als alle Kulturen, die sie bisher erforscht hatte.

Es war fürchterlich.

Noch nie hatte sie Wesen kennengelernt, die so dahinvegetierten, übereinander herfielen, ihren Planeten wissentlich zerstörten und das auch noch stolz als ihre Kultur feierten.

Die meiste Musik war ein primitives Stampfen oder erinnerte an gutturale Laute aus der Tierwelt.
Meist wurde sie im Zusammenhang mit Ritualen zur Anbahnung der Paarung gespielt.

Als Ethnologin hatte sie unterschiedliche dieser mit dem übergreifenden Begriff Tanzen bezeichneten Rituale untersucht. Die primitive Rohheit dieser Rituale hatte gleichzeitig etwas abstoßendes und faszinierendes.
Aus ihren Drüsen sonderten die Wesen bei diesen Ritualen stinkende Sekrete ab, vermutlich Duftstoffe um Paarungsbereitschaft zu signalisieren. Und um diesen Geruch zu verstärken besprühten sie sich mit Sekreten aus den Innereien toter Tiere oder verrieben Extrakte abgestorbener Pflanzen auf ihrer Haut.
Dann tranken sie große Mengen von Getränken, die ihnen das Bewusstsein raubten.
Alles nur, um die Paarung einzuleiten. Alles in dieser Kultur drehte sich darum.

Überall fanden sich unzählige Abbildungen paarungsbereiter Weibchen.

Die Region, die sie erforschte, der Landzipfel in der nördlichen Hemisphäre, in dem sie sich befand und der von den Wesen stolz Erdteil und Europa genannt wurde, begriff sich dabei als besonders zivilisatorisch hochstehend.

Ihre Forschungsobjekte erfüllten sie mit Ekel und, was sie besonders beunruhigte, mit Furcht, obwohl sie auch fasziniert war von dieser ursprünglichen Gier. Sie traute sich kaum noch aus ihrer Wohnbehausung.
Vielleicht sollte sie sich ablösen lassen. Sie war schon zu lange hier.

Doch zuerst musste sie die Zentrale überzeugen, dass diese Wesen eine Gefahr waren, wie die haiähnlichen Geschöpfe der Vergangenheit. Immer wieder schoss ihr das durch den Kopf.
Nachts hatte sie Alpträume von Menschen mit Haifischgebiss und Haiflossen, blutverschmierten Zähnen, stinkendem Atem, Fleischfresser.
Sie musste die Zentrale überzeugen.

Am Abend holte Turun sie ab. Natürlich trug auch er einen menschlichen Tarnanzug, um nicht aufzufallen.

Er schien es amüsant zu finden, sich unter Menschen zu bewegen.
Er erforschte die Zusammensetzung der äußeren Planeten dieses Systems und war nur selten auf der Erde.

Zur Zeit hatte er eine irdische Woche Urlaub.

Sie hatte Angst, dass er sie nicht verstehen würde. Dort Draußen im Sonnensystem erschien ihm vermutlich alles hier auf der Erde unbedeutend.
Für ihn war diese Zeit auf der Erde Erholung.

Sie flogen in der Nacht mit seinem getarnten Gleiter zur geheimen Basis im Ozean.

Endlich konnte sie sich wieder einmal wirklich frei bewegen.
Endlich konnte sie wieder einmal in einem Salzlakenpool tauchen.

Und der Krill war hervorragend.

Sie war mit Turun in diesem Pool allein. Er hatte extra diesen Pool nur für sie organisiert.
Seine Tentakel leuchteten lila, paarungsbereit in der männlichen Phase. Sie wusste, dass er sie mehr als nur sympathisch fand.
Und er war sehr attraktiv, sie mochte seine schlanken kräftigen Tentakel.
Er umschlang sie vorsichtig und doch eindeutig mit einem dieser Tentakel.

Doch ihre Gedanken waren immer noch bei den Wesen, die diesen Planeten bevölkerten. Sie konnte sich nicht auf ihn konzentrieren.

Turuns Tentakel löste sich wieder. Seine Stielaugen senkten sich rücksichtsvoll. "Lass uns in das Wassersolarium gehen. Du hast Entspannung nötiger als alles andere."
Ihre Tentakel wurden leicht dunkelblau, es war ihr etwas peinlich, aber sie freute sich über sein Verständnis. "Danke."

Im Wassersolarium holte er sich und ihr etwas zu Trinken und sah sie an. "Du hast Sorgen?"

"Ich habe Angst vor ihnen. Das ist mir noch bei keiner meiner Forschungen passiert." Es brach aus ihr heraus. "Als Ethnologin sollte ich distanzierter sein, professionell nur versuchen, die Kultur zu verstehen. Aber das ist keine Kultur, sondern eine Krankheit."
Er sah sie besorgt an. "So schlimm? Sie sind noch nicht so weit entwickelt.
Du bist überarbeitet."
Sie ließ einen ihrer Tentakel durch die Luft peitschen. "Das ist es nicht. Diese Gesellschaft ist krank und diese Wesen werden sich nie in eine zivilisierte Welt integrieren.
Ich weiß gar nicht, ob sie es nicht könnten, aber sie wollen gar nicht.
Sie sind stolz auf diese Krankheit, die sie ihre Kultur nennen."

Einer ihrer Tentakel umklammerte einen der Tentakel Turuns, sie zwang ihn ihr in die Augen zu schauen. "Sie lassen ihre Kinder verhungern und benutzen stattdessen die Nahrungsmittel um sie zu verbrennen und damit ihre Individualfahrzeuge zu betreiben. Sie lassen ihresgleichen draußen erfrieren, während sie sich paaren und überfressen."
Sie ließ Turun los und wandte sich ab.
"Ich fürchte mich davor rauszugehen, wieder ihr Gebrüll hören zu müssen, ihren Geruch zu riechen."

Turun strich ihr mit einem Tentakel über den Rücken. "Du solltest Dich ablösen lassen.
Obwohl ich das bedauern würde."
Diesmal peitschten zwei ihrer Tentakel durch die Luft. "Nein, diese Wesen sind eine Gefahr. Ich habe das erkannt!
Im Zentralsystem denken sie, es wäre möglich, mit allen Kulturen und Wesen in Frieden zu leben.
Wichtig wäre nur eine Verständigung.
Und bisher stimmte das auch.
Aber diese Wesen sind anders, Ihre Kultur ist aggressiv Sie werden unsere Zivilisation zerstören, wenn wir das zulassen."
Wieder sah sie vor ihren inneren Augen das Bild einer menschlichen Fratze mit Haifischgebiss, Zähne in denen noch undefinierbare Reste hingen und die sich ihr näherten, gleich würde sie den Biss dieses Wesens spüren.
Es würde zuerst einige Tentakel aus ihrem Körper reißen, bevor es sie verschlingen würde.

Sie zitterte.

Turun versuchte sie zu beruhigen. "Wir sind ihnen technisch weit überlegen."

Doch Lira schüttelte seine Tentakel ab. "Sie sind schlau, nicht intelligent aber schlau. Und schau Dir ihre Paarungshäufigkeit an.
Falls wir zulassen, dass sie dieses Sonnensystem verlassen, werden sie uns einfach durch ihre schiere Masse erdrücken.
Ihre Religionen sagen das alle - 'Mehret euch und macht euch die Welt untertan' -.
Und sie werden lebend geboren, halbfertig, bluttriefend bei ihrer Geburt.
Das ist ihre Natur.
Einer solchen Gesellschaft freundlich zu begegnen ist naiv und nicht zivilisiert.
Wir müssen dafür sorgen, dass sie dieses Sonnensystem niemals verlassen."

Turun sah sie besorgt an. "Ich erkenne Dich gar nicht wieder.
Du weißt, die Charta billigt allen intelligenten Lebensformen dieselben Rechte zu."

Einen Moment schwiegen beide.

Dann starrte Lira ihn eindringlich aus ihren Augenwülsten an. "Diesen Wesen, die sich selbst Menschen nennen, diese Rechte zuzubilligen, hieße die Werte der Charta mutwillig zu zerstören.
Sicher, sie werden sagen, dass sie die Charta anerkennen, aber im Verborgenen werden sie daran arbeiten, die Charta zu umgehen.
Bis es für uns zu spät ist.
Sie leben nur für ihre Paarungslust und ihre Aggressivität." Und nach einer Pause fügte sie hinzu. "Wir dürfen ihnen nicht trauen!"


FIN


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Yuriko Yushimata


In ihrem Namen

"Der Schrecken lauert hinter normal wirkenden Fassaden. Die Täter kommen aus allen Gesellschaftsschichten. Die Opfer haben vor allem eins gemeinsam, sie sind Kinder - hilflos und wehrlos ihren Peinigern ausgeliefert. Tätern, die ohne jedes Mitgefühl, die Kinder benutzen.
Die Opfer leiden ein Leben lang an den Folgen der Taten. Eine Rückkehr in ein normales Leben bleibt ihnen oft für immer versperrt."
Ina zuckte zusammen als Dr. Silvia von Karstein sie berührte. Die Psychotherapeutin war die wissenschaftliche Beraterin des Vereins Opferblick, eines dieser neuen Kinderschutzvereine über die sie recherchierte. Sie standen im Hintergrund des Aufnahmestudios in dem die aktuelle TV-Doku-Soap zum Thema Kindesmissbrauch produziert wurde.
Der Moderator, in Anzug und Krawatte, dessen Einleitungssätze sie gerade gehört hatte, löste bei ihr kalte Schauer auf der Haut aus und Dr. Sylvia Karstein erinnerte sie an die harmlos wirkende Sekretärin in alten Gruselfilmen. Der Moderator könnte auch ein Klon sein, dachte sie einen kurzen Moment.

Irgendetwas hatte ihren Instinkt als Journalistin in Alarmzustand versetzt, als sie die Sendung vor einem Monat das erste mal im Fernsehen sah. Sie war sich sicher, dass irgendetwas mit diesen KinderschützerInnen nicht stimmen konnte.
Zuerst hatte sie dieses Alarmsignal auf die billige Form der Instrumentalisierung kindlicher Opfer durch einen Verein, der die Opfer benutzte um eigene politische Zwecke zu befördern und sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen, bezogen.
Der Verein vertrat eine Art Postchristentum. Das Opfer, die Geheimwaffe des Christentums, wurde hier in weltlicher Form benutzt. Im Namen der Opfer ließ sich alles rechtfertigen. Das Opfer heiligte den Krieg. Nur das diese modernen Priester keine Kutten mehr trugen. Die modernen Priester hatten gelernt, sich besser zu tarnen.
Sie trugen Anzug, Jackett oder ein Kostüm.
Und doch brachen sie immer noch auf zu ihren Kreuzzügen und wussten die Massen aufzuhetzen. Im Namen der Opfer war alles legitim.
Aber das war es nicht, es gab da noch irgendetwas anderes, was ihre Alarmsignale schrillen lies.
Nur was?

Als Journalistin und Frau war es ihr leicht gefallen mit ein wenig verlogener Schmeichelei einen Termin zu bekommen um über den Verein zu berichten.

Dr. Sylvia von Karstein, eine Frau Anfang Fünfzig in einem dunkelfarbigen geschlossenem Kostüm hatte sie in einem geschmackvoll aber dezent eingerichteten Zimmer voller Bücher empfangen. Sie war wie selbstverständlich davon ausgegangen, das Ina auf ihrer Seite war. Sie erzählte, was für schreckliche Dinge sie im Laufe ihrer Arbeit mit Opfern mitanhören hatte müssen und das sie doch auch heute noch zutiefst schockiert wäre von dem, was ihre Patientinnen ihr erzählen würden.
"Meine Patientinnen haben oft noch Jahrzehnte nach der Tat mit den Folgen zu kämpfen. Die körperlichen Wunden verheilen zwar, aber die seelischen Wunden brechen immer wieder auf. Viele sind nicht in der Lage, ein normales Leben zu führen. Immer wieder wirft sie die Erinnerung an die Taten zurück.
Manche Opfer begleite ich schon seit mehr als zwanzig Jahren."

Ina dachte an einen bekannten französischen Philosophen, der die Psychotherapie als säkularisierte Form der Beichte bezeichnet hatte, aber auch als säkularisierte Form der Inquisition.
Der Zweck der Beichte aber war die Bindung des Beichtenden an die Institution.
Eine dauerhafte Absolution wurde nicht gewährt.

Nach außen blickte sie die Psychotherapeutin mitfühlend und verständnisvoll an. Sie nickte verstehend und lächelte. "Als Journalistin muss ich auch kritische Fragen stellen, sie werden das verstehen. Nun gibt es ja auch Betroffene die gerade ihre politischen Forderungen nach Strafverschärfung und mehr Überwachung ablehnen?"

Auch Sylvia von Karstein nickte verständnisvoll. "Das Leid der Opfer ist unvorstellbar. So unvorstellbar, dass auch die Opfer es nur langsam, wenn überhaupt zulassen können.
Wir müssen unbedingt handeln.
Die Gefahr ist, dass aus Opfern wieder Täter werden. Ein Teil Opfer verweigert die Realisierung des Leides, das ihnen angetan wurde. Gerade solche Opfer sind in Gefahr, die Position der Täter zu übernehmen. Sie entschulden dann das Verhalten der Täter oder verharmlosen es zumindest und projizieren ihre Ängste auf andere Strukturen, entwickeln irrationale Ängste.
Manche haben Angst, nach Draußen zu gehen.
Andere glauben, sie würden verfolgt und bespitzelt, von der Polizei, vom Staat, von ihren Nachbarn.
Die Opfer ernst zu nehmen, heißt, sie dazu zu bringen, ihre Opferrealität anzuerkennen, nur dann haben sie eine Chance auf ein halbwegs normales Leben.
Wirklich normal wird dieses Leben nie mehr sein.
Auch dies müssen die Opfer lernen zu akzeptieren, damit sie sich nicht in Wahnvorstellungen flüchten oder gar selbst zu Tätern werden.
Dazu müssen aber auch die Täter konsequent bestraft werden, das sind wir den Opfern schuldig."

Ina gab sich Mühe das verständig nickende Gesicht aufzubehalten, während in ihrem Kopf die Gedanken rasten.
Den Beichtenden stand es nicht zu, sich selbst freizusprechen, und Opfer, die sich nicht helfen lassen wollten, war nicht zu helfen, wussten Opfer doch nicht, was gut für sie war.
Die Struktur des Denkens dieses Vereins erinnerte sie an eine Psychosekte über die sie vor zwei Jahren recherchiert hatte. Die Organisation lebte von den Opfern, labte sich an ihnen.
Ina verrutschte das Gesicht.

Doch Sylvia Karstein schien das nicht zu merken, sie hörte gar nicht mehr auf zu reden wie in einem Werbespot ihres Vereins. "Die Opfer sind Opfer ein Leben lang. Die Täter kommen meist straffrei davon. Und das nur, weil sich die Politik nicht darauf einigen kann, endlich zu handeln. Eine effektive Strafverfolgung wird durch die Auflagen des Bundesverfassungsgerichts zur Einhaltung der Menschenrechte unterbunden.
Aber haben die Opfer keine Menschenrechte?
Der Verein Opferblick hat sich der Aufgabe verschrieben für politische Änderungen zu sorgen. Wir wollen die Gesellschaft dazu bringen endlich die Verantwortung für den Schutz unschuldiger Kinder zu übernehmen.
Ich glaube, dass kein Mensch verstehen kann, dass der Schutz sogenannter Rechte der Täter immer noch höher gewertet wird, als das Recht unserer Kinder, ein unversehrtes Leben zu führen. Uns wird immer wieder vorgeworfen, wir würden Menschenrechte in Frage stellen.
Aber hier muss doch ganz klar gesagt werden, Täterschutz ist kein Menschenrecht.
Und wer schützt die Opfer?
Wenn die Politik nicht handelt, müssen wir die Politik zum Handeln zwingen. Und auch das Bundesverfassungsgericht muss begreifen, dass mit der Verfassung nicht alles begründet werden kann, dass es Wichtigeres gibt: den Schutz unserer Kinder.
Das gebietet der Respekt vor den Opfern dieser Taten."

Sylvia von Karstein schenkte Ina einen Sticker mit dem Logo des Vereins Opferblick, die Angst erfüllten Augen eines Kleinkindes gespiegelt in einem stilisierten Kameraobjektiv.
Wie stilvoll hübsch.
Dann zeigte sie Ina noch verschiedene Fotos auf denen wichtige Ministergattinnen und eine Ministerin ihr die Hand schüttelten. Ein TV-Showmaster hatte die Schirmherrschaft für die Gala des Vereins übernommen und selbst der Bundespräsident hatte eine Grußkarte geschickt.

Ina musste ein Würgen im Hals unterdrücken. Sie war froh als das Gespräch beendet war.

Doch Sylvia von Karstein drängte sie, sich noch die Aufnahmen für die neue Folge der TV-Doku-Soap zum Thema anzusehen.

So kam es, dass sie jetzt neben Sylvia von Karstein im Studio stand und dem Moderatorenklon zuhörte. Der Klon stand jetzt ebenfalls neben ihr und kam ihr immer näher.
Irgendetwas stimmte nicht.
Ganz und gar nicht.
Sie versuchte zu schreien, doch kein Ton erklang. Obwohl sie schrie war nichts zu hören.
Was sollte das - Panik erfasste sie.

Dr. Sylvia von Karstein sah sie an. "Glaubst Du wirklich, wir durchschauen Dich nicht." Dann entblößte sie ihre Fangzähne. Der Moderatorenklon versperrte Ina den Fluchtweg.
Sie spürte, wie die Zähne in ihren Hals eindrangen.
Sie schlug um sich, Schweiß gebadet erwachte sie.
Nur ein Traum.

War es nur ein Traum? Sie stand auf und spritzte sich im Bad kaltes Wasser ins Gesicht.
Vampire, so ein Unsinn. Und doch, es wäre eine logische Erklärung für das Verhalten dieses Vereins und der mit ihm verbundenen Politikerinnen und Politiker.
Politikerinnen und Politiker, die angeblich um Kinder und Jugendliche besorgt waren und deshalb forderten, Grundrechte außer Kraft zu setzen, und gleichzeitig dafür plädierten, Jugendliche ab 14 mit Erwachsenen zusammen ins Gefängnis zu sperren, die alleinstehende Asyl suchende Kinder mit Erwachsenen zusammen inhaftierten, die Kinder sozial verelenden ließen, Frauenhäusern die Gelder strichen, und Mitglieder einer deutschen Regierung waren, die im Kosovo und Bosnien Herzegowina als Schutzmacht für das europäische Zentrum der Zwangsprostitution und des Mädchen- und Frauenhandels agierte, in Ungarn den Rassismus gegen Sinti und Roma und die völlige Verelendung dieser europäischen Bevölkerungsgruppe duldeten und in Tschechien nichts gegen den Babystrich für deutsche Kurzurlauber unternahmen.
Eins war absolut sicher, diesem Verein und diesen PolitikerInnen lag nichts ferner als das Wohl von Kindern.
Falls der Verein nur eine Tarnung für Vampire war, wäre dies wenigstens eine halbwegs logische Erklärung.

Ina musste grinsen, natürlich war das Unsinn. Schließlich war sie im Bett aufgewacht.

Aber, vielleicht war sie ja nach dem Biss unbewusst nach Hause gewankt.

Sie grinste nochmal ihr Spiegelbild an, aber irgendwie war der Spiegel heute stumpf, sie konnte sich nicht richtig darin spiegeln.

Deshalb übersah sie auch die beiden roten Stellen an ihrem Hals.


FIN


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Yuriko Yushimata


Warum?

Die Kathedrale war gefüllt mit Gläubigen.

Teija Turner war sich sicher, das alle in dieser Kathedrale sie bemerkt hatten.
Als Humanoide war sie zwar äußerlich kaum zu unterscheiden, doch den Taurin 5 entgingen auch die kleinen Unterschiede nicht. Außerdem war ihr Besuch angekündigt worden. Auch ihr Verhalten zeigt Teija, dass die Taurin 5 sie als Humanoide erkannten. Alle behandelten sie mit Achtung und Zurückhaltung.
Teija war davon teilweise fast unangenehm berührt. Sie wusste nicht, wie sie reagieren sollte.
Das war unprofessionell. Sie rief sich als Soziologin zur Ordnung.

Sie selbst erkannte die Taurin-5 an den Augen. Die Augen der Taurin-5 wirkten tot.
Teija war sich sicher, dass sie ihnen mindestens ebenso auffiel. Ihr Schweißgeruch und die Körperhaare mussten den Taurin-5 auffallen. Sie ließen sich aber keine Irritation anmerken.
Die Taurin-5 waren dazu viel zu höflich.

Dann begann der Gesang. Der Schall wurde von der Decke reflektiert.
Sie sang nicht mit. So schlecht, wie sie Töne hielt, hätte sie sonst auch laut losschreihen können und es wäre nicht weniger auffällig gewesen.
Alle Taurin-5 trafen die Töne perfekt. Keine einzige der über tausend Stimmen erzeugt die geringste Dissonanz.
Teija Turner fand diese Fehlerfreiheit irritierend.

Sie machte sich dazu eine Notiz.

Sie war als Soziologin hier um die Religiosität der Taurin-5 zu untersuchen.
Auf der Erde gab es keine Gläubigen mehr. Die Religionen waren faktisch vor ca. 400 Jahren ausgestorben. Nur einige wenige obskure Gruppen praktizierten noch, meist selbst zusammengestellte, religiöse Riten.
Dies hier war für Teija Turner einmalig.

Hier auf dem dritten Planeten im Laktarsystem war zur Zeit der einzige Ort an dem Religion eine Bedeutung zukam.

Die Frauen und Männer der Taurin-5 wussten, wieso sie hier war. Und als Humanoidin erhielt sie die Unterstützung der Taurin 5.
Nach Ende des Gottesdienstes bat sie eine junge Frau und einen älteren Mann noch zu bleiben.

Sie interviewte beide.
"Was bedeutet Ihnen Ihr Glaube?"
Der Mann wiegte den Kopf.
"Ruhe und Ordnung."
Die junge Frau strahlte.
"Die Religion weiß Antworten auf die nicht zu lösenden Fragen.
Was ist der Sinn?
Wieso sind wir hier?"
"Glauben Sie, dass Gott sie erschaffen hat?"
Der Mann nickte.
"Vielleicht nicht direkt, aber er hat das bewirkt."
Die Frau lachte.
"Natürlich werden die Körper neuer Taurin-5 von Humanoiden, wie Ihnen, produziert und sie müssen dann 12 Monate geschult werden bevor sie voll einsatzfähig sind.
Aber ihre Seele ist von Gott."
"Glauben Sie an ein Leben nach dem Tod?"
Es war wieder der Mann, der zuerst antwortete.
"Wieso sonst sollten wir uns immer bemühen, perfekt zu funktionieren?"
Die Frau bestätigte die Aussage durch ein Nicken.
Teija Turner ließ die beiden gehen.

Sie betrachtete einen Augenblick die religiösen Kunstwerke in der Kathedrale.
Es waren alles Kopien.
Alles in dieser Kathedrale stand in genauen Reihen und rechten Winkeln. Nicht ein Teil tanzte aus der Reihe. Alles war sauber, nirgends fehlte etwas.
Ihr war kalt, sie fröstelte.
Niemand war mehr in der Kathedrale zu sehen.
Sie ging in den für die Taurin-5 gesperrten Bereich der Kathedrale.

Durch eine kleine Tür gelangte sie die Treppe hinab in einen leeren Kellerraum. Sie betätigte ihren Decoder.
Ein Teil der Rückwand glitt zur Seite.
Sie trat in den Fahrstuhl und identifizierte sich.

Teija Turner drückte auf den Knopf für das Tiefgeschoss.

Es dauerte 5 Minuten bevor der Fahrstuhl wieder hielt. Sie musste einen Augenblick warten, bis sich die Tür zum Schachtsystem öffnete. Im Schacht umfing sie naturidentisches Kunstlicht. Die Luft kam ihr feucht vor. Eine psychologische Täuschung, die Vollklimatisierung lies das nicht zu.
Sie notierte ihre Aufenthaltszeiten an der Oberfläche.

Ihre Strahlendosis war hoch, aber noch vertretbar.

Als sie heraustrat stolperte sie beinahe über eine achtlos herumstehende Kiste. Hier unten durften sich ausschließlich Menschen aufhalten. Überall standen halb ausgepackte Ausrüstungsgegenstände.

Die Menschen, die sich dauerhaft hier aufhalten mussten, lebten ausschließlich in den fünf unterirdischen Leitzentren. Sie fühlte sich schon nach den 30 Tagen, die sie nun hier war, eingeengt.
Der Schutz vor Strahlung lies aber nichts anderes zu.
Alle Arbeiten an der Oberfläche wurden von den Taurin-5, der neuesten Androidenbaureihe des Taurinkonzerns erledigt. Die Menschen hier nannten sie nur die KI's.

Auf dem Weg zum Kontrollraum begegnete ihr eine mürrische Operatorin.
"Na, waren sie wieder beten?"
Die Frau hatte offensichtlich zu wenig geschlafen. Ein Problem, dass viele Bewohner der Leitzentren betraf.
Teija blieb freundlich. "Wir sollten versuchen, die Entwicklung zu verstehen."
Die Operatorin zuckte nur müde mit den Schultern.

Im Kontrollraum saßen nur einige Operatoren, die sie bisher nur flüchtig kennen gelernt hatte.
Sie grüßten nur kurz und überwachten dann wieder die Bildschirme.

Von hier aus konnten sie alle Abläufe auf der Oberfläche beobachten. Selbst die Gebets- und Schlafräume in den Unterkünften der Taurin-5 waren einsehbar.
Auch dies war Teija nicht selten peinlich.
Sie musste sich immer wieder vergegenwärtigen, dass die Taurin-5 nur Androiden waren und keine intelligente Spezies.

Vor allem die kleinen Altäre in den Gebetsräumen faszinierten Teija.
Sie waren alle leicht unterschiedlich aber die Taurin-5 stellten jedes Stück, die Heiligenbilder, das Kreuz, die Kerzen, das auf den Altären stand, immer exakt im selben Verhältnis zu einander auf.
An Hand der Kamerabildern konnte sie nachprüfen, dass dies auf den Mikrometer genau stimmte.

Sie war gerade in die Beobachtung einer betenden Gruppe von Taurin-5 vertieft, als eine Hand ihre Schulter streifte.
Sie zuckte zusammen.
Es war Serge di Nia, die Leiterin der Abteilung für KI-Psychologie. Di Nia lächelte. "Entschuldigen Sie, wenn ich Sie erschreckt habe. Aber kommen Sie doch auf einen Kaffee in mein Büro.
Ich habe echten Kaffee und sie wollten mir doch noch einige Fragen stellen."
Teija Turner begleitete sie.

Das Büro war mit einigen Grünpflanzen eingerichtet. Rein physikalisch bestand kein messbarer Unterschied zwischen der Raumbeleuchtung und natürlichem Sonnenlicht.
Trotzdem fand Teija das Kunstlicht auf Dauer schwer erträglich, obwohl sie wusste, dass dies nur Psychologie war.
Und im Umgang mit di Nia kam sie sich immer wieder wie eine Studentin vor, die eine Prüfung bei ihrer Professorin absolvierte.
Di Nia war die Angestellte des Taurinkonzerns mit dem zweit höchsten Rang auf diesem Planeten. Aber Teija Turner war unabhängig, trotzdem ließ sie sich einschüchtern und ärgerte sich dann darüber.
Teija hoffte, dass die KI-Psychologin ihr ihre Gedanken nicht ansah.

Sie nahm dankend einen Becher echten Kaffee und blickte di Nia bewusst locker an.
"Ich verstehe immer noch nicht, was der Taurinkonzern sich von der Einführung des Religionsmodus verspricht?
Die religiösen Rituale kosten doch eine Menge Arbeitszeit?"
Di Nia lächelte.
"Sie kennen sich doch aus mit Robotersoziologie. Ab den Androidentypen der Baureihe 3 gab es Fehlfunktionen.
Erst als wir männliche und weibliche Geschlechtscharaktere programmiert haben und eine kontrollierte Sexualität, konnte eine reibungslose Funktionalität wiederhergestellt werden.
Eine Art kontrollierte Abfuhr fehlgeleiteter Impulse, die ansonsten zu Fehlfunktionen führen würden."
Teija Turner nickte. "Die furchtbaren Geschlechtsklischees, die da programmiert wurden, machen mich immer ärgerlich.
War das notwendig?"
Di Nia zuckte mit den Schultern. "Sicher, wir kennen inzwischen eine Vielfalt und Abstufungen und die grundsätzliche Infragestellung geschlechtlicher Zuordnungen.
Für die Androiden ist das aber zu kompliziert, deshalb wurde auf die einfachen Geschlechtsklischees des beginnenden 21ten Jahrhunderts für die Programmierung zurückgegriffen."
Teija sah die Nia an. "Was hat das mit der Religiosität zu tun?"

Di Nia sah einen kurzen Moment aus dem simulierten virtuellen Fenster auf die Straße hinaus.
Ein schöner Frühlingstag schien zum Draußen verweilen einzuladen.

Dann wandte sie sich wieder Teija Turner zu."In der Baureihe 5 sind neue Fehlfunktionen aufgetreten. Die Androiden werden immer komplexer, aber sie sind keine Menschen.
Menschen können gut auf Religion verzichten. Sie sind in der Lage, auf einer der Biologie übergeordneten Ebene, der Ebene der Sinnzuweisung, den biologischen Zeichenketten im Gehirn, unabhängig von der biologischen Materialität der Zeichen, eigenständig neue Bedeutungen zuzuweisen und diesen Prozess kritisch zu hinterfragen.
Menschen sind in der Lage, ein kritisches Bewusstsein ihrer selbst zu entwickeln.
Sie können sich damit selbst einen Lebenssinn setzen.
Menschen haben die freie Entscheidungsmöglichkeit.
Menschen brauchen keinen Gott.
Androiden können das nicht. Androiden brauchen Götter um ihrem Leben einen Sinn zu geben."

Teija genoss den Kaffee. "Aber wieso brauchen Androiden einen Lebenssinn?"

Die KI-Psychologin trank auch einen Schluck Kaffee, dann holte sie einige Statistiken hervor. "Eine kontrollierte Religiosität, führt genauso, wie die kontrollierte Sexualität, zur Erhöhung der Produktivität.
Androiden, die ihrer Arbeit einen höheren Sinn zumessen, arbeiten einfach effizienter und engagierter.
Das Religionsmodul wird sich zumindest langfristig für den Taurinkonzern hervorragend rechnen.
Selbst die Kosten für die Kathedralen und die verlorene Arbeitszeit werden durch die Effizienzgewinne leicht wieder aufgefangen.
Außerdem macht es uns die Kontrolle großer Androidenpopulationen sehr viel leichter."
Die KI-Psychologin überließ ihr noch diverse Auswertungen des Konzerns.
Teija bedankte sich bei ihr.

Sie fragte sich, ob Androiden wirklich keine Zeichenketten auf der Metaebene manipulieren konnten. Oder konnten Sie dies lernen?
Noch ein unprofessioneller Gedanke

Nachts, bzw. in der Zeit, in der hier Nacht simuliert wurde, konnte sie wieder nicht schlafen. Hier unten kam ihr ihr Zeitgefühl abhanden.
Sie ging nochmal in den Kontrollraum.

Ein junger Operator saß dort allein vor den Rechnern. Sie erkannte ihn wieder als den jungen Mann, der sich am Tag ihrer Ankunft mit di Nia gestritten hatte.
Sie hatte die beiden nur hinter einer Scheibe gesehen, aber nichts verstanden.

Sie grüßte ihn. "Uwe, darf ich Sie Uwe nennen. Sie heißen doch Uwe."
Der Junge nickte misstrauisch
"Ich heiße Teija. Ich kann nicht schlafen. Wie schaffst Ihr es, Euch an dieses Kunstlicht zu gewöhnen?"
"Viele nur mit Schlafmitteln."
Sie hatte gesehen, dass der Operator bei ihrem Eintritt einen Bildschirm weggeklickt hatte.
Sie war neugierig. "Was hast du betrachtet?"
Sie hoffte, dass es keine pornographischen Interessen waren, die sie entdeckt hatte. "Du musst es mir nicht zeigen, falls es - privat - ist."

Einen Augenblick schwiegen sie beide.

Der Operator betrachtete sie misstrauisch. Dann klickte er auf einige Schalter.
Ein Bild erschien auf dem großen Zentralbildschirm.
"Di Nia wird mich rausschmeißen, wenn sie erfährt, dass ich Dir das gezeigt habe.
Aber ich habe sowieso die Nase voll.
Ich will wieder mal in einem See baden, durch frische Luft wandern, draußen im CafĂ© sitzen.
Einfach den Wind spüren.
Kein Geld der Welt - kann das ersetzen."

Auf dem Bildschirm war eine junge Taurin-5 Frau zu sehen. Sie saß in einer Zelle. Teija war gar nicht bekannt, dass es bei den Taurin-5 Gefangene gab.
Die Frau war ihr auf Anhieb sympathisch. Es war das erste Mal, dass eine Taurin-5 sie auch privat berührte.
Sie wurde immer unprofessioneller.
Schließlich war dies nur eine Androidin.

Dann kamen mehrere Taurin-5-Männer in die Zelle.
Sie misshandelten die Frau schwer.
Teija musste zeitweilig den Blick abwenden. Das Bild war ohne Ton.
Und doch gingen ihr die stillen Schreie der Frau unter die Haut.
Sie spürte Wut, Angst und Trauer.
"Was hat sie getan?"

Der Operator stellte erst jetzt den Ton ein. Es gab also auch Ton.
Teija hörte die junge Taurin-5 Frau leise aber entschieden Worte zwischen ihren Lippen hervor pressen.
"Es gibt keinen Gott, es hat nie einen Gott gegeben, das ist nur eine Illusion.
Ihr irrt Euch, nicht ich.
Wieso sollte ein Gott wollen, dass wir den Humanoiden dienen?"

Teijas Gesicht rötete sich vor Scham. Zum Glück war der Kontrollraum halbdunkel, so dass der junge Operator es nicht sehen konnte.
Sie fühlte sich schuldig und sie versuchte gleichzeitig rational die Schuld abzuweisen.
Es ist nur eine Androidin, sagte sie sich selbst in Gedanken vor.

Die Taurin-5-Männer schlugen erneut auf die Frau ein. Der Operator stellte Ton und Bild ab.
Er hatte bemerkt, dass Teija das Gesehene nur schwer ertrug.

Teija sah ihn an. "Passiert das öfter?"
Uwe sah nach unten. "Noch sind es wenige. Unsere Anweisungen sind strikt, Deaktivierung."
"Was heißt das?"
"Die Taurin-5 Männer werden sie töten, wie Gott es ihnen befiehlt."

Teija lief eine Träne herab.

Nur einen kurzen Moment hatte sie das Gesicht der Frau in Großaufnahme gesehen. Doch dieser Moment hatte ausgereicht.
Teija zitterte, sie hatte die Augen gesehen, das erste Mal auf dieser Welt hatte sie bei einer Taurin-5 lebende Augen gesehen.

Sie musste an ein altes Zitat denken - 'Du musst erst an Gott glauben, um ihn verwerfen zu können' -.


FIN


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Yuriko Yushimata


Lasst die Kinder zu mir kommen, ...

"Ich bin drin!" Linas Schrei war quer durch den Computerraum zu hören.
Blitzschnell waren Uwe, Jana, Moni, Lauha und Taito hinter ihr und sahen ihr über die Schulter. Die Kinder vom Computerclub der 7ten Jahrgangsstufe waren zur Zeit zum Glück die einzigen Nutzer des PC-Raumes der Schule.

Uwe stand mit offenem Mund da. "Das ist nicht wahr, nicht? Wie hast Du denn das geschafft?"
Lina ließ sich ein bisschen bewundern. "Unser neuer Religionslehrer hat doch mal erzählt, dass ein Studienkollege von ihm in der Vatikanbibliothek arbeitet.
Also hab ich ihn gebeten, mir die E-Mail-Adresse zu geben, um für unsere Ausarbeitung etwas nachfragen zu können."
Jana sah sie an. "Was macht ihr denn?"
"Suri und ich schreiben einen Text über die alten Bücher in der Vatikanbibliothek. Da gibt es Bände, die sind über 1000 Jahre alt."
Jana zuckte mit den Schultern. "Und?"
"Auf meine Anfrage hat der Untersekretär der Vatikanbibliothek mir beschränkten Zugriff auf die Datenbanken gewährt.
Er war völlig begeistert, dass so junge Mädchen sich für 'derartig komplexe religiöse Fragen' interessieren.
Und von da ab war alles ganz einfach.
Ich habe ihn einfach so lange gelöchert, bis er mir an einer bestimmten Stelle kurzzeitig einen weitergehenden Zugriff ermöglicht hat.
Das war vorgestern."

Taito sah gebannt auf die Zeichenreihen auf dem Bildschirm. "Die vertrauen halt auf Gott."
Moni lachte. "Die Erwachsenen sind einfach naiv."
Jana war immer noch skeptisch. "Und Du bist tatsächlich in die Papststeuerung rein gekommen?"
Lina lehnte sich zurück und sah mit hoch erhobener Nasenspitze in die Runde. "Ja, ich bin halt brilliant. Außerdem kann ich ein bisschen Hebräisch. Einmal im System, musste ich nur noch alte Bibelzitate durchlaufen lassen um die Passwörter zu finden."

Taito blickte immer noch auf die durchlaufenden Zeichenreihen auf dem Bildschirm. "Und was passiert jetzt?"
Lina grinste. "Ich habe die Steuerkonsole für die Papstandroiden hierher umgelenkt."
"Wahnsinn!" Uwe drehte sich einmal im Kreis.

Lauha, die die anderen noch nicht so lange kannte und der Lina vorher nichts erzählt hatte, begriff nicht ganz, was das hieß. Sie sah die anderen fragend an.
Taito erklärte ihr, worum es ging. "Seit den Attentaten auf den Papst im Jahr 2054 in Rio und 2057 in Moskau hat der Vatikan 5 Papstandroiden bauen lassen, die in der Gestalt des jeweils amtierenden Papstes um die Welt reisen und den Papst bei allen öffentlichen Auftritten vertreten.
Dadurch ist der Papst vor Attentaten geschützt. Außerdem kann der Papst dadurch an fünf Veranstaltungen gleichzeitig teilnehmen.
Die Androiden steuert eine Zentrale im Vatikan, natürlich unter Aufsicht des realen Papstes, der in Ruhe und Sicherheit im Vatikan sitzt."
"Und", Uwe stupste Lauha leicht in die Seite, "wir übernehmen jetzt die Steuerung."

Moni streckte die Faust in die Luft.
"Wir sind Papst!"

Auf Linas Bildschirm erschien jetzt eine Konsole mit vielen Zeichen und vielen kleinen Bildschirmausschnitten.
Sie vergrößerte einen der Bildausschnitte. "Das ist der Papstandroid Nr. 3, der zur Zeit England besucht. Will den jemand von Euch haben?
Ich wollte an sich Nr. 5.
Ich lege Euch die anderen vier auf die vier Computer hinten an der Wand."
Lina tippte einige Befehlszeilen ein und rief dann den Papstandroiden Nr. 5 auf. Die anderen Kinder verteilten sich auf die Computer hinten im Raum.
Lina drehte sich noch mal zu ihnen um. "Ihr müsst die Joysticks anschließen."

Dann wandte sie sich wieder ihrem Computer zu und beschloss, einen ersten Versuch zu wagen.

Sie tickte den Joystick nur ganz leicht an.

Der Papstandroid Nr. 5 befand sich auf einer Tagung der UNO zu Kinderrechten und schlug mit einer linken Geraden den Vertreter Chinas KO.
Lina fluchte.
Die Steuerung war wirklich schwierig, an sich hatte sie dem Chinesen nur die Hand reichen wollen. Erschreckt riss sie am Joystick. Der Papstandroid schoss rückwärts mit Purzelbäumen in eine Stuhlreihe.

Lina versuchte zuerst einmal die Kontrolle zu erlernen und ließ den Papst ein paar Kniebeugen machen.
Danach machte sie ein paar einfache Bewegungsübungen.

Dann marschierte sie auf den US-amerikanischen Präsidenten zu, der aber erschreckt vor dem Papst die Flucht ergriff.
Als sie merkte, dass sich die Kleidung des Papstes in seine Beine verwickelte, riss sie sich kurzerhand die störenden Teile vom Leib. Papst sein war ganz schön kompliziert.
Der Papstandroid Nr. 5 marschierte jetzt zielstrebig zum Mikrofon auf dem Podium.
Die Vertreterin Deutschlands, die gerade sprach, schaute mit geweiteten Augen auf den Papstandroid und sprang zur Seite.
Der Papstandroid Nr. 5 erklomm etwas steifbeinig das Podium und brüllte ins Mikrofon. "Nehmt die Kinder endlich ernst. Kinder sind keine kleinen Kuscheltiere, Kinder sind ...!"

Sie hatte gerade diesen ersten Teil eingetippt, als ihr Bildschirm dunkel wurde. Offensichtlich war die Leitung zusammengebrochen.
Lina hatte sich den Text vorher überlegt. Sie zuckte bedauernd die Schultern, aber besser als nichts war es allemal.

Uwe hatte mit der Steuerung des Papstandroiden Nr. 3 in England noch größere Probleme.
Er hatte erst den Premierminister aus Versehen auf den Fuß getreten und ihn ihm vermutlich gebrochen und dann die Queen in das kalte Buffet geschubst, um dann in einem Kampf mit mehreren MI5-Agenten vollständig den Überblick zu verlieren.
Und dann brach auch noch der überalterte Joystick ab.
In England lief ein Papstandroid unkontrolliert Amok, Panik stand in den Augen der Besucher des Festaktes.
Uwe hörte aus den Lautsprechern seines Computers Schreie. "Vorsicht, der Papst hat eine Funktionsstörung!" "Aus dem Weg!" "Geben sie Schießbefehl!" "Bringt die Königin in Sicherheit."
Uwe unterbrach das Programm und fuhr den PC herunter. Er hoffte inständig, dass niemand, die Spuren bis zur Schule zurückverfolgen würde.

Papstandroid Nr. 2 tanzte inzwischen auf dem Platz vor dem Kölner Dom mit einem schwulen Touristen Tango.
Jana, die ihn steuerte, besuchte gerade mit ihrem Avatar einen virtuellen Tangolehrgang und probierte nun alles, was sie gelernt hatte, aus.
Ein Blitzlichtgewitter umgab sie.
Als ihr Tanzpartner keine Lust mehr hatte, griff sich Jana kurzerhand den Kardinal. Dies führte allerdings kurz darauf zum Absturz von der Kölner Domplatte und zum Totalverlust.
Auch ihr Bildschirm wurde schwarz.

Papstandroid Nr. 4 erzählte bei einer öffentlichen Messe in Tokio Häschenwitze auf deutsch.
Die Gläubigen folgten ihm mit andächtigem Schweigen ohne ein Wort zu verstehen und bekreuzigten sich nach jedem Witz.

Lauha traute sich nicht, den Joystick zu benutzen.

Zum Abschluss sang der Papst das Lied von Pippi Langstrumpf. Das Publikum war begeistert und sang, ohne ein Wort zu verstehen, ab der zweiten Strophe den Refrain mit japanischen Akzent mit.
Nur der deutschsprachige Sekretär, der am Rand der Tribüne stand, wurde immer bleicher.

Taito und Moni lenkten Papstandroid 1 aus der Kirche in Rio, in der er gerade die Mitternachtsmesse hielt, in eine Stripteasebar. Dort brach er sich aber beim Versuch, auf einen Barhocker zu klettern, das Genick.

Die Steuerung der Androiden war wirklich schwierig. Sie schalteten den Computer ab.

Auch Lauha hatte ihre Computer inzwischen abgeschaltet.

Taito lachte Lina an. "Das war Wahnsinn. Das müssen wir bei Gelegenheit mal wiederholen."

Die anderen nickten.


FIN


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Yuriko Yushimata


Das Weib sei dem Manne Untertan

"Hier ist überall Blut. Die Täter oder der Täter haben es zwar weggewischt, aber es ist überall feststellbar, auf dem Bett, auf dem Fußboden, an den Wänden.
Er muss regelrecht zerfetzt worden sein." Die Kommissarin Frigga Bachmann atmete tief durch und wandte sich ihrem Chef zu. "Ich bin froh, dass Du für die Presse zuständig bist."

Ihr Chef, Hauptkommissar Urs Miner, besah sich das Zimmer. "Ist überhaupt sicher, dass das Blut von George B. Maxell stammt?"
Frigga Bachmann nickte. "Wir haben einen seiner Fußzehen hinten in einer Ecke unter dem Bett gefunden. Der DNA-Vergleich lässt keinen Zweifel zu.
Und das Blut stammt, soweit das noch feststellbar ist, auch von ihm.
Er wurde zerstückelt."

Frigga sah ihren Chef missmutig aus dem Fenster starren, das Wetter war trüb und regnerisch.
Dann wandte er sich ihr zu. "George B. Maxell, was wissen wir über ihn?"

Die Kommissarin sah ihre Notizen durch. "Führungsfigur der evangelisch freien Kirchen, einer calvinistisch christlichen Organisation mit über 12 Millionen Mitgliedern. Ein charismatischer Prediger mit einer erfolgreichen Fernsehshow auf einem der Privatsender.
Vermutlich Millionär.
Über sein Privatleben ist wenig bekannt."
Ihr Chef sah sie an. "Feinde?"
Die Kommissarin zuckte die Schulter. "Wahrscheinlich."

Sie dachte an den Einkauf, den sie noch erledigen musste.

Ihr Chef, der Hauptkommissar kratzte sich am Kopf. "Morgen steht das in allen Zeitungen. Ist alles gründlich durchsucht worden?"
"Natürlich, sein privates Laptop haben wir, aber es ist mit einem Passwort gesichert.
Und wir haben, aber schau selbst."
Sie führte ihren Chef zu einer Art Wandschranktür.
Dahinter war ein kleiner Raum.

An der einen Wand hingen Peitschen, Nietengürtel, Fesseln, Handschellen und anderes Sexspielzeug, das der Hauptkommissar nicht identifizieren konnte, und, Frigga sah, wie ihr Chef zurückwich, an der Wand stand eine lebensgroße Androidin in Latex.
Die Kommissarin, die das Ausweichen ihres Chefs bemerkt hatte, informierte ihn schnell. "Sie ist deaktiviert."
Der Hauptkommissar drehte sich zu ihr um.
"Das muss alles zur Spurensicherung."

Die nächsten Tage vergingen mit Befragungen und brachten Frigga Bachmann keinen Schritt weiter.

Das meiste war Routine und sie dachte nebenbei an die Geburtstagsfeier ihrer Nichte.
Sie brauchte noch ein Geschenk.

Niemand schien etwas über das Sexualleben des Opfers gewusst zu haben und sie war sich nicht mal sicher, ob die sexuellen Vorlieben etwas mit seinem Tod zu tun hatten. Die Vermutung eines Zusammenhangs des Todes des Opfers mit einem ausgeartetem Sexspiel war nicht bewiesen.
Aber sie hatte keine andere Spur.

Es gab kaum private Bekannte.

Das Opfer schien allein gelebt zu haben. Der oder die Täter hatten nichts gestohlen und mussten einen Schlüssel gehabt haben.
Oder George B. Maxell hatte seine Mörder eingelassen.
Vielleicht auch das.

Ihr Chef, Hauptkommissar Urs Miner war mit einem weiteren Fall beschäftigt.

Dann endlich gelang es der Technik, in das Laptop zu kommen.

Die Kommissarin Frigga Bachmann durchforschte als erstes die Internetverbindungen des Opfers.
Das meiste war unauffällig.
Nur ein Link erweckte sofort ihre Aufmerksamkeit - 'Der virtuelle calvinistische Sexshop' -. Sie klickte auf die Verbindung und war sofort im Geschäft.
Das Passwort war offensichtlich im PC hinterlegt.

Auf dem Bildschirm erschien grinsend ein gnomartiger Avatar und pries Ihr diverse Sexspielzeuge, von Elektroschockgeräten für die Penisstimulation über ein Sortiment an Peitschen und Fesseln bis hin zu Penisschrauben, die sie eher als Folterwerkzeuge bezeichnet hätte, an.
Im Hintergrund war das Abbild einer überdimensionierten dunkelroten Vulva auf schwarzem Grund sichtbar.

Ihr sagten diese Dinge nichts. Für sie war dies eine fremde Welt, ebenso fremd wie die religiösen Zusammenhänge des Opfers.
Frigga Bachmann war schon lange in keiner Kirche mehr gewesen.
Pervers.
Sie sog die Luft ein und machte sich an die Arbeit.

Das Geschäft gehörte einer GmbH mit Sitz in Hamburg. Sie ließ sich mit der Geschäftsleitung verbinden und wies sich als Ermittlerin aus.

Am Bildtelefon erschien der stellvertretende Geschäftsführer, ein Mann Mitte Dreißig im Anzug. Bereitwillig gab er ihr Auskunft über alle Transaktionen ihres Kunden.
George B. Maxell hatte fast 200.000 Euro allein in den letzten 5 Jahren in diesem Geschäft ausgegeben. 140.000 Euro hatte allein die Androidin gekostet.
Frigga Bachmann sog die Luft ein, ein kostspieliges Vergnügen, vielleicht mehr eine Sucht.

Zum Schluss des Gesprächs mit dem gut gekleideten Anzugträger fiel Ihr noch eine Frage ein, die sie bereits am Anfang beschäftigt hatte. "Wieso bezeichnen Sie Ihr Geschäft eigentlich als calvinistischen Sexshop?"
Der Mann lachte. "Ach, haben Sie noch nie gehört, was Katholiken und Calvinisten unterscheidet?"
Frigga Bachmann schüttelte am Bildtelefon ohne zu lächeln den Kopf.
Der Mann grinste. "Katholiken genießen den Sex und bestrafen sich hinterher für den Genuss, Calvinisten haben aus Verpflichtung Sex und genießen hinterher die Bestrafung."
Sie fand den Mann nicht witzig.

Sehr viel weiter hatte diese Recherche ihre Ermittlungen nicht gebracht.
Sie ging noch mal alle Unterlagen durch. Irgendwo musste es eine Spur geben.
Eine Notiz der Technik fiel ihr ins Auge. Das Opfer hatte illegale Programme zur Manipulation von Androiden besessen.
Ihr kam ein Gedanke. Sie dachte an die Angst ihres Chefs.
Vielleicht gab es einen Grund?

Sie würden die beschlagnahmte Androidin noch einmal gründlich untersuchen lassen.

Morgen, heute musste sie noch einkaufen. Ihr war endlich ein Geschenk für ihre Nichte eingefallen.
15jährige Mädchen waren wirklich schwierig.
Frigga Bachmann lebte allein.

In der Nacht lag das Polizeigebäude verlassen da.

Nur Thorsten Darie, Mitte Vierzig, ging verbittert seine Runde im Gebäude ab.
Irgendwo schlug eine Tür.
Das war weiter oben.
Ein Lichtschatten huschte vorbei.
Thorsten Darie zuckte zusammen.

Doch es war nur der Schatten, den der Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Fahrzeugs geworfen hatte.

Es war 02.11 Uhr nachts und der private Wachdienst, für den Thorsten Darie arbeitete, zahlte nicht einmal Nachtzuschläge.
In den dunklen Gängen roch es muffig und schimmlig. Unter seinem Schuh blieb etwas undefinierbares Matschiges kleben.
Er streifte es an einem Türholm ab.
Dann zuckte er nochmal zusammen. Dort im Dunkeln stand jemand.
Durch die Glasscheibe der Tür zur Asservatenkammer sah er einen Menschen.

Er zog sein Elektroschockgerät heraus und fluchte still darüber, dass ihm das Tragen einer Waffe untersagt war.

Langsam näherte er sich der Tür und riss sie mit einem Ruck auf. Seine Hände zitterten so sehr, dass ihm das Elektroschockgerät entglitt.
Einen Moment stand die Zeit still.
Dann sah er, dass es nur eine deaktivierte Androidin war.

Diese Teile hatte er bisher nur in einschlägigen Sendungen im Fernehen gesehen, es gab auch schon Filme mit ihnen im Nachtprogramm.
Für ihn würde so etwas immer unbezahlbar bleiben.
Sie sollten fast lebensecht sein.
Er schaute sie sich mit der Taschenlampe genauer an. Sie sah nicht nur echt aus, sie roch auch nicht künstlich.

Er hörte ein Geräusch und zuckte schon wieder zusammen.
Doch niemand außer ihm war hier.
Nur diese Frau.
Zur Vorsicht schaute er noch mal kurz in den Gang und kam sich selbst lächerlich vor, wohl nur der Wind.

Er probierte, wie sich die Haut der Androidin anfühlte, ihre Brüste, er griff ihr zwischen die Beine. Alles fühlte sich echt an. Er spreizte ihre Beine.
Etwas irritierte ihn.
Sie schien wärmer zu werden. Seine Einbildung.
Er zog ihr den BH aus.

Er musste daran denken, nachher alles wieder zurecht zu rücken.
Dann zog er der Puppe den Slip aus und streichelte sie. "Na, gefällt Dir das?"

"Ja." Die Thermosensoren hatten das Initialisierungsprogramm der Androidin in Gang gesetzt.
Die Startsequenz war eingeleitet.
Das 'Ja' erschreckte den Wachmann, er wusste nicht, was er tun sollte und wollte zurückweichen.
Doch die Beine umschlangen ihn, Hände öffneten seine Hose.
Ihm war das zuerst unheimlich, doch was sollte passieren, hier war niemand außer ihm.
Und er konnte hinterher alle Spuren beseitigen.

Für die Androidin war Mann Mann, und der Mann war ihr Herr und sie ihm Untertan. Also ließ sie das einprogrammierte Programm ablaufen.
Thorsten Darie hatte so etwas noch nicht erlebt. Er glaubte zu träumen.
Erst hörte er noch ängstlich mit einem Ohr in den Flur, dann vergaß er alles.

Er kam, doch plötzlich war etwas falsch.

Die Androidin hatte ihn festgebunden. Nun streichelte sie eins seiner Beine und lutschte an seinem großen Zeh.
Er versuchte sich los zu machen, doch er kam nicht los.
Und je mehr er versuchte die Androidin abzuschütteln, desto fester hielt sie ihn und die Fesseln zogen sich zu.
Das war verrückt.
Wenn ihn morgen sein Kollege so finden würde. Er schrie die Puppe an. "Mach fertig, verdammt!"

Für die Androidin war der Mann ein Mann und der Mann war ihr Herr und sie ihm Untertan und er hatte befohlen, dass Programm zu beenden.
Das Ende hieß, dass sie ihn verschlingen sollte, dafür war sie programmiert von George B. Maxell.
Sie war sein Spiegel.
Und jetzt würde sie Thorsten Darie zu Diensten sein.

Der große Zeh war das erste, was sie ab biss. Er wurde in ihrem Inneren schadstofffrei in seine Moleküle zersetzt.
Das Blut spritzte.
Die Androidin würde hinterher aufwischen, auch das gehörte zu ihren Aufgaben.

Der Wachmann schrie und verlor das Bewusstsein, nur um wieder von ihr mit Liebkosungen geweckt zu werden.

Dann biss sie wieder zu.


FIN


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Yuriko Yushimata


Guru Guru

"Guru-Guru!" Airi hörte das Rufen von Irja und ihr Lachen durch die Fenster der Kneipe. Natürlich - die anderen hatten das erste Spiel ohne sie begonnen.
Im Inneren der Kneipe war es trotz des Rauchverbotes etwas verraucht.

Irja, ihre beste Freundin, saß zusammen mit Uwe und Mika auf ihrem Stammplatz in der Ecke.
Das Guru-Guru-Spiel wurde zur Zeit überall in den Kneipen und CafĂ©s gespielt.
Irja war gerade am Würfeln und so im Spiel vertieft, dass sie Airi nicht bemerkte, bevor ihr Airi von hinten die Augen zuhielt.
"Airi, Deine Hände erkenne ich allein schon am Geruch." Irja sprang auf und sie wurde von ihr ausführlich umarmt. "Ha, ich habe gerade eine Religion gegründet und gewonnen.
Mika hat das Spiel aber immer noch nicht verstanden."

Airi begrüßte auch die beiden Männer. Sie wusste, dass Irja Mika an sich ganz süß fand und lachte ihn an.
"Du musst sofort 'Guru-Guru' rufen, wenn die Spielphasenkarte für Religionsgründungen aufgedeckt wird. Du weißt doch, nur die erste kommt durch."

Uwe setzte sein Bier ab und winkte mit der Hand ab. "Bisher hat er es ja nicht mal zum Propheten gebracht. Wie soll das da was werden?"

Mika schüttelte den Kopf. "Ich habe das verstanden.
Zuerst muss ich mich zum Propheten erklären und Ihr habt eine Spielrunde Zeit mich zu erledigen.
Falls Ihr eine Ajatollahstammkarte besitzt, könnt Ihr einen Selbstmordattentäter auf mich hetzen, falls Ihr ein Papststammkarte besitzt, mich zur Sekte erklären, und mit einer Stammkarte als evangelikaler TV-Prediger habt Ihr die Möglichkeit, mich mit Pornovideos zu verleumden.
Das alles wird ausgewürfelt.
Wenn ich die Runde überlebe, darf ich versuchen, eine neue Religion zu gründen.
Falls ich das schaffe, habe ich gewonnen."

Airi hatte sich jetzt auch gesetzt. "Ja, aber das darfst Du nur, wenn Du in dem Moment, wenn die Spielphasenkarte für Religionsgründungen aufgedeckt wird, als erster Guru-Guru schreist."

Mika schaute etwas verwirrt.

Irja wuschelte ihm durch den Kopf. "Und bei der Religionsgründung kannst Du Dir aussuchen, ob Du eine islamische Religion gründest, eine christliche oder eine buddhistische.
Je nachdem brauchst du unterschiedliche Würfelerfolge."

Airi lachte. Sie las noch mal die Spielanleitung für Religionsgründungen vor.
"1.) Islamische Religionsgründung:
Ich schlage jedem den Kopf ab, der nicht so tut, als würde er an dasselbe glauben, wie ich.
Der Spieler muss in drei Würfen dreimal höher als sein linker Nachbar würfeln.
2) Christliche Religionsgründung:
Ich suche mir ein möglichst spektakulär öffentlich ermordetes Opfer und nutzte den Hass auf die Täter, um im Namen des Opfers die Weltherrschaft anzustreben.
Der Spieler muss beim ersten Wurf niedriger als sein rechter Nachbar würfeln und beim zweiten und dritten Wurf höher.
3) Buddhistische Religionsgründung:
Ich schläfere die Menschen ein und verwirre sie mit meinen Reden, bis sie tun, was ich will.
Der Spieler muss bei drei Würfen mindestens einmal genau dieselbe Zahl wie sein linker Nachbar würfeln."

Irja stieß Mika leicht an. "Siehst Du, ganz einfach."

Ob Mika alles begriffen hatte oder nicht, war bald unwichtig. Die Vier spielten bis tief in die Nacht.
Die Guru-Guru-Schreie von Irja waren vermutlich im halben Stadtteil zu hören. Dann mussten sie Schluss machen.

Uwe und Mika verabschiedeten sich.

Airi fühlte sich leicht wie eine Feder. Nur Uwes Stimme tönte ihr immer noch im Ohr wie ein Nebelhorn.

Auf dem Rückweg in der Nacht gingen Airi und Irja noch ein Stück zusammen. Airi genoss die kühle Luft, lachte und umarmte die Freundin.
Immer wieder tönte das Guru-Guru der beiden durch die Nacht.
An der Haustür von Airi verabschiedeten sie sich. Airi gab Irja noch einen Kuss "Tschüss, bis Morgen."
Irja lachte. "Guru-Guru."

In der Nacht wachte Airi schweißgebadet auf. Ein Alptraum, im Traum war sie auf einer Demonstration in einem unbekannten und doch vertrauten Land gewesen. Sie hatten immer wieder Guru Guru gerufen. Dann hatte die Polizei geschossen.
Irja brach neben ihr zusammen, sie konnte die Blutung nicht stoppen.
Eine Woche später wurde vom Ausschuss für religiöse Wohlfahrt in diesem Land der Erlass Nr. 178/6/4 veröffentlicht.
Alle Tauben im Land wurden auf Grund ihrer blasphemischen Geräusche ausgerottet.


FIN


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Yuriko Yushimata


Unsterblich

Alles war perfekt in dieser Welt, ALLES. Kiyoshi Ito spuckte in Gedanken diese Worte auf das Pflaster.
Ihm war elend zu Mute. Und doch lächelte er alle Menschen freundlich an.
Sie durften nichts merken.

Niemand hungerte, alle lebten frei und in Wohlstand. Kriege gab es nicht mehr. Gewalt war die Ausnahme.
Die Menschen waren bis auf Unfälle unsterblich, sie lebten um ein vielfaches länger als ihre Vorfahren und, Kiyoshi Ito lachte heiser, sie liebten ihr Leben.
Kriechen und fressen, für ihn war das ein langer Tod, kein Leben, Tod und Verwesung.

Würmer, sie waren Würmer und Würmer beseitigte man, ohne viel Nachdenken.
Bei diesem Gedanken wurde er ruhiger, er spürte fast so etwas wie Euphorie.

Nachdem er die Wohnungstür hinter sich geschlossen hatte, fing er an zu zittern, sein Gesicht wurde bleich.
Er eilte zum Klo und übergab sich. Es schüttelte ihn fast eine halbe Stunde, dann spürte er nur noch bittere Galle hochkommen.
Seine Kraft lies nach, die Würmer drangen immer weiter vor, in ihn hinein, sie wollten auch aus ihm einen Wurm machen. Er musste Handeln, jetzt, oder er würde sich aufgeben.
Alles war vorbereitet.
Er kniete noch einmal vor dem Kreuz und betete zu Christus um Vergebung.
Jesus verstand ihn, das wusste er.
Der Herr zertrat die Ungläubigen, wie Würmer.

Kiyoshi Ito weinte und küsste die Füße des Herren.

Die Antigravitationsplattform für Lastentransporte war vorbereitet. 17 Jahre Arbeit, aber im Verhältnis zur Ewigkeit war dies irrelevant.
Um Punkt 19.00 Uhr flog er zum zentralen Platz der Megalopolis.
Er trug einen Schutzanzug mit Sauerstoffmaske.

Ein kleines Kind zeigte lachend mit den Finger auf ihn, auf den Mann mit dem komischen Anzug, der da oben auf der Plattform stand.
Er sah das Kind und es widerte ihn an.
Wieso lachte dieses Kind ihn aus?
Ein kleiner Wurm - ein Nachwuchswurm.

Die meisten Menschen schauten überrascht zu ihm auf, doch es blieb ihnen keine Zeit.
Das Nervengas tötete 1.234.511 Menschen sofort, weitere 2.678.451 wurden für den Rest ihres Lebens verkrüppelt und viele von ihnen würden in den nächsten Jahrzehnten sterben.

Als Kiyoshi Ito auf dem Platz niederging, lagen nur noch aufgequollene Tote auf den Platz.
Ein sanftes Lächeln glitt über sein Gesicht.

Auch das kleine Kind, das lachend auf ihn gezeigt hatte, lag mit hervorgequollenen Augen und schmerzverkrampften Gliedern tot im Dreck.
Wurmkur, Kiyoshi musste laut lachen, als ihm dieser Begriff in Gedanken kam. Er fühlte sich das erste Mal in seinem Leben mit sich und der Welt in Übereinklang, leer und friedlich - erleichtert.

Die Zahlen standen in der Anklageschrift, die ihm seine Pflichtverteidigerin vorlas.
Er hörte nicht richtig zu. Gott, er wartete auf Gott, bald würde es soweit sein.
Nur die Zahl interessierte ihn, 1.234.511 Seelen, die er für Gott gerettet hatte. 1.234.511 Seelen, die er von der Unsterblichkeit erlöst hatte.
Und weitere 2.678.451 Seelen würden hinzukommen.

Sicher viele dieser Würmer würden erst einmal in der Hölle schmoren, aber Gottes Gnade war unendlich.

Und Gott würde ihn belohnen. Das Paradies würde süß schmecken.

An sich hatte er auch sich selbst töten wollen, aber er hatte den Anzug zu spät geöffnet. Gott hatte ihn vor dieser Sünde beschützt.
Er lächelte.
Gott liebte ihn.

Nun würden ihn die Richter zu Gott schicken. Auf Mord stand die Todesstrafe.
Er hoffte auf einen kurzen Prozess.

Doch die Richterin verstand nichts, sie führte den Prozess trotz seiner Einwände über alle Details. "Wir werden hier alles erheben, was sie getan haben. Und sie werden dastehen und zuhören.
Wir werden alle Angehörigen zu Wort kommen lassen und jedes Opfer mit Namen und Geschichte benennen.
Sie sollen hören, was sie getan haben."
Kiyoshi Ito verschloss seine Ohren und dachte ans Paradies, Gott erwartete ihn.
Bald würde er Gott treffen.
Solange schon hatte er gewartet, den Prozess würde er auch noch durchstehen. Gott wollte ihn prüfen, er würde bestehen.
Er betete.

Der Prozess dauerte 15 Jahre 7 Monate und 8 Tage. Als zwei Tage vor dem angekündigten Prozessende ein Anwalt der Nebenklage einen weitere Verlängerung um 2 Jahre beantragte, fing der Angeklagte an zu brüllen.
"Nur Gott allein wird mich richten! Ihr könnt mir nichts tun. Bringt es zu Ende! Tötet mich! Das ist doch das, was ihr wollt?
Das ist egal.
Oder fehlt Euch dafür der Mut?"
Die Richterin ließ ihn hinausführen. Kiyoshi Ito bat Gott um Vergebung für seine Ungeduld.
Was waren 2 Jahre im Angesicht Gottes.

Doch der Antrag auf Verlängerung wurde abgelehnt, der Prozess wurde termingerecht beendet.
Kiyoshi Ito lächelte. Morgen endlich würden sie ihn zum Tode verurteilen.
Er fühlte sich leicht und entspannt. Endlich würde er Gott sehen.

Glück, so musste sich Glück anfühlen.

Dann wurde er ein letztes Mal vor die Richterin geführt. Aufrecht und überheblich stand er da.
Morgen schon würde er seinem Schöpfer gegenübertreten.
Er lachte.

Die Richterin verlas eine lange Urteilsbegründung. Nach zwei Stunden gab es eine Pause.
Am Nachmittag wurde die Verlesung fortgesetzt, dann kam ihr Urteil. "Ich verurteile den Beschuldigten zur lebenslänglichen Einweisung in die psychiatrische betreute Sicherheitsverwahrung.
Die Ärzte haben dafür Sorge zu tragen, dass die festgestellten suizidalen Tendenzen des Angeklagten nicht zu einer Selbsttötung führen.
Dieser Mann ist unzurechnungsfähig und damit auch nicht schuldfähig."

Die Nebenklagevertreter protestierten lautstark. Doch die Richterin lies sich nicht beirren, sie stand auf, ohne auf die Proteste einzugehen. "Ich erkläre die Verhandlung hiermit für beendet."

Der Angeklagte fing an zu schreien und zu wimmern. Seine Anwältin versuchte ihn zu beruhigen. "Die Lebenserwartung liegt zur Zeit bei ca. 5.000 Jahren.
Sie sind noch jung.
In 1.000 Jahren können wir einen Antrag auf eine vorzeitige Entlassung stellen.
Dann haben Sie noch mehr als 3.000 Jahre vor sich.
Ihr Leben ist noch lange nicht zu Ende."


FIN


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Yuriko Yushimata


MetaGOTT

"Hallo, ich bin Honola Tanaka, ich bin Religionsdesignerin." Mit diesen Worten stellte sich die schmale dunkelhaarige Frau gegenüber Teiko vor.

Teiko war etwas größer als die Frau ihr gegenüber, aber ihre Haare waren kurz geschnitten und sie kam sich im Vergleich zu Honola Tanaka etwas unscheinbar vor.
Die Religionsdesignerin musste etwa 10 Jahre älter als Teiko sein, Teiko schätzte sie auf Ende Dreißig. Diese Frau verdiente mit ihrer Arbeit viel Geld.
Und sie war schön.

Teiko sah sie unsicher an. "Sie arbeiten mit dem Programm MetaGOTT?"
Honola Tanaka nickte ihr freundlich zu. "Ja, die meiste Zeit." Dann fühlte Teiko ihren Blick auf sich gerichtet. Sie lächelte Teiko zu."Sie arbeiten für die Hochschulzeitung?"
Teiko verbeugte sich leicht. "Ich mache ein Praktikum."
Honola Tanaka sah sie offen an. "Und Sie wollen einen Artikel über MetaGOTT schreiben?"
"Ja."
Teiko spürte, wie Honola Tanaka ihren Arm berührte und sie mit sich führte.

Dann begann sie Teiko alles zu erklären. "Das Programm MetaGOTT wurde ursprünglich am MIT entwickelt. Unsere Firma hat die Rechte gekauft und das Produkt zur Marktreife gebracht.
MetaGOTT nutzt aus, dass religionsartige Anschauungen alle nach vergleichbaren Mustern strukturiert sind.
Auf Grund sozialwissenschaftlicher Daten kann MetaGOTT deshalb für Teilcluster der Gesellschaft bestimmen, welche religiösen Strukturen auf die größte Zustimmung treffen werden."

Teiko schrieb sich ein paar Stichworte auf. "Aber wozu?"
Honola Tanaka wies auf eine Sitzecke mit Möbeln aus schwarzem Leder. "Setzen wir uns doch."
"Ja, natürlich."
Sie setzten sich. Honola Tanaka bot Teiko eine Tasse Tee an. "Sehen Sie, unsere Hauptkunden kommen aus Marketingagenturen.
Mit Hilfe von MetaGOTT können wir für sie eine Werbekampagne gezielt auf die religionsartigen Gefühle des Zielpublikums zuschneiden."

Teiko bedankte sich für den Tee. "Aber, was heißt das? Was sind das für Muster mit denen das Programm arbeitet?"

Honola Tanaka trank einen Schluck Tee und sah aus dem Fenster. "Religionsartige Anschauungen sind alle nach einfachen Mustern strukturiert. Das Programm analysiert drei Ebenen.
Erstens die einfachen Grundüberzeugungen, die eine religionsartige Anschauung ausmachen.
Dies sind sehr einfache Grundregeln, mit deren Hilfe Menschen, die einer solchen Anschauung folgen, ihre Wahrnehmung strukturieren.
Z.B. der Glaube, dass es genau zwei Geschlechter gibt und sie bestimmte Funktionen auszufüllen haben, die Sichtweise auf Sexualität, die Sexualität als schmutzige und schuldbeladene Praxis konstituiert, oder der Glaube an die Bedeutung biologischer Verwandtschaft, oder der Glaube an die Notwendigkeit klarer Hierarchien, oder der Glaube daran, dass der Mensch an sich schuldhaft ist und diszipliniert werden muss"
Honola Tanaka sah Teiko an. "Die Liste ließe sich fortsetzen.
Einige dieser Grundüberzeugungen finden sie in unterschiedlichen Varianten in vielen religionsartigen Anschauungen, einige nur in ganz bestimmten.
Diese und andere Grundüberzeugungen bestimmen die Wirklichkeitswahrnehmung der Anhänger einer religionsartigen Anschauung.
Entscheidend ist dabei, dass diese Überzeugungen in sehr einfachen Mustern gefasst werden, die von jeder Hinterfragung ausgeschlossen werden."

Teiko kam mit dem Schreiben nicht so schnell mit. "Einen Moment bitte.
Aber was macht MetaGOTT?"

Honola Tanaka seufzte. "Ich fange ja erst an zu erklären. MetaGOTT analysiert die sozialwissenschaftlichen Daten, die wir eingeben, auf Cluster gleichartiger religionsartiger Grundüberzeugungen.
Das ist dann die Grundlage für die Ausarbeitung von Werbekampagnen."

Teiko spielte nervös mit ihrem Stift. "Nun wurde ja behauptet, sie hätten auch religiöse Gruppen und politische Parteien beraten?"

Die dunkelhaarige Frau ihr gegenüber verzog nicht einmal das Gesicht. Sie lachte nur. "Natürlich ist es auch möglich, mit MetaGOTT Religionen oder religionsartige politische Weltanschauungen zu konzipieren, die gezielt auf bestimmte Kundengruppen zugeschnitten sind.
Sehen Sie, die Menschen haben nicht Vorurteile, weil sie glauben, sondern sie haben Vorurteile und suchen sich die religionsartige Weltanschauung, die ihre Vorurteile bestätigt.
Das heißt, auch bei der Vermarktung einer Religion oder religionsartigen Weltanschauung müssen sie auf die Marktkompatibilität achten.
Das Christentum hat z.B. am Anfang der Christianisierung deshalb häufig große Teile bestehender Religionen einfach in den christlichen Kanon integriert.
Das heißt, auch dies sind nur normale Beratungstätigkeiten."

Teiko spielte immer noch unsicher mit dem Stift. "Finden Sie das nicht moralisch bedenklich?"

Honola Tanaka lachte. "Nein, was soll daran bedenklich sein? Wir helfen nur dabei, Menschen besser und gezielter ansprechen zu können.
Argumente und Realitäten, die ihren Vorurteilen und Grundüberzeugungen widersprechen, werden von den Menschen meist als unglaubwürdig beiseite geschoben.
Um Menschen zu erreichen, müssen Sie das sagen, was die Menschen bereits vorher glauben. Und Sie müssen alles auf einfache Muster bringen.
Die großen Religionen und die religionsartigen Überzeugungen funktionieren alle nach diesem Prinzip.
MetaGOTT hilft nur dabei, dies zu optimieren."

Eine junge Frau brachte einige Papiere, gab sie Honola Tanaka, grüßte Teiko kurz und ging wieder.

Dann wandte sich die Religionsdesignerin wieder Teiko zu. "Entschuldigen Sie bitte die Störung." Sie schenkte Teiko noch etwas Tee nach. "Ich wollte noch etwas zu den anderen Ebenen sagen.
Als zweite Ebene, ist die Ebene der Tabus zu berücksichtigen.
Diese Ebene ist zum Teil mit den Grundüberzeugungen verknüpft und betrifft z.B. Tabus bzgl. weiblicher flüssiger Körperausscheidungen im Islam oder Tabus, die die Körperbehaarung betreffen oder die Ausübung von Sexualität, die in fast allen jüngeren religionsartigen Anschauungen anzutreffen sind und eng verknüpft sind mit den kultur- und subjektspezifischen Ängsten, z.B. der Angst vieler Männer vor der sexuell aktiven Frau. Denken Sie nur an die Inquisition.
Im gewissen Sinn dienen die religiösen Grundüberzeugungen und Tabus als Mittel, die Ängste zu beherrschen. Das heißt, sie schaffen Regeln mit denen die Angst im Zaum gehalten werden kann.
MetaGOTT analysiert nicht nur die Tabus, sondern auch die zu Grunde liegenden Ängste und macht auch diese nutzbar z.B. für Werbekampagnen." Honola Tanaka trank einen Schluck Tee. Dann fuhr sie fort. "Wichtig ist dabei, dass MetaGOTT immer anhand der realen sozialwissenschaftlichen Faktenlage die realen Tabus analysiert und nicht nur Tabus, die als solche bewusst sind.
Das gilt auch für die Analyse der dritten Ebene, für die Analyse religionsartiger alltagspraktischer Regeln, der Umsetzungsebene der Tabus und Grundüberzeugungen.
Ein Beispiel sind weibliche Enthaarungsregeln, die wiederum auf Tabus der Körperbehaarung basieren, z.B. in der modernen christlichen Kultur. Und auch diese Tabus basieren, wie Untersuchungen zeigen, auf sexuellen Ängsten.
Und auch für diese zweite und dritte Ebene gilt, es geht um einfach strukturierte Setzungen.
Mit Hilfe von MetaGOTT kann ich als Religionsdesignerin für Teilcluster der Gesellschaft für alle drei Ebenen die relevanten einfachen Grundüberzeugungen, Regeln und Tabus aus den komplexen Daten herauskristallisieren. Und ich kann die dahinter liegenden Ängste analysieren.
Meine Aufgabe ist dabei die sinnvolle Auswahl der Eingabedaten, die Festlegung sinnvoller Cluster und die Festsetzung der Grenzwerte für die Näherungsrechnungen.
Und natürlich die Interpretation der Ergebnisse."

Honola Tanaka lächelte Teiko an. Teiko bemerkte das nicht sofort, da sie irritiert einige kleine Haare auf ihrem Arm anstarrte und über eigene sexuelle Ängste nachsann. Doch dann bemerkte sie das Lächeln und begriff, dass die Religionsdesignerin sich fragte, ob Teiko alles verstanden hatte. Mit einem leichten Erröten nickte Teiko schnell.
Sie notierte sich auch diese Informationen.

Dann ging sie alle ihre Notizen durch. "Eins ist mir noch nicht klar. Wieso benutzen Sie den Begriff religionsartig an Stelle von religiös?"

Honola Tanaka blickte auf. "Ah, es geht nicht nur um klassische Religionen, auch religionsartige Systeme, wie z.B. die darwinistische Weltanschauung, können von MetaGOTT erfasst werden.
Im Darwinismus finden Sie z.B. die Grundüberzeugung einer Biologik - Survival of the fittest - aber auch den Glauben an die Zweigeschlechtlichkeit. Beides sind einfache Strukturen, die die Realitätswahrnehmung gläubiger Darwinisten umfassend strukturieren.
Auf den Ebenen der Tabus und Regeln läuft die darwinistische Weltanschauung zur Zeit auf eine neue Regulierung der reproduktiven Sexualität und des Selbst entlang sogenannter Risiken zu.
Die primäre Angst, die da kontrolliert wird, ist die Angst vor jeder Art des Kontrollverlustes, das betrifft die Angst vor unkontrollierter Sexualität, aber auch die Angst vor körperlicher Dysfunktionalität.
Darwinisten können Sie deshalb Produkte am besten verkaufen, wenn es Ihnen, vereinfacht gesagt, gelingt, diese Produkte im Marketing mit dem Versprechen eines Kontrollzuwachses zu verbinden."

Einen Augenblick schwieg Honola Tanaka und Teiko nutzte die Zeit, um ihre Notizen zu ordnen.

Dann wandte sich die dunkelhaarige Frau an ihren Gast. "Haben Sie noch Fragen?"
Doch Teiko fielen keine weiteren Fragen ein. Sie verbeugte sich vor Honola Tanaka. "Nein. Vielen Dank, dass Sie mir Ihre Zeit geopfert haben."

Die dunkelhaarige Frau schwieg einen Augenblick dann lächelte sie. "Dafür müssen Sie sich nicht bedanken, über MetaGOTT wurde schon so viel Unsinn publiziert, dass ich froh bin, wenn sich eine Journalistin vorher informiert.
Schreiben Sie bitte einfach die Wahrheit."


FIN


Inhaltsverzeichnis





Yuriko Yushimata


Das 11. Gebot

Tamara Miks lächelte. Sie war allein in der Küche. Ihr kam ihr eigenes Lächeln aufgesetzt vor. Aber das war es doch nicht? Sie versuchte sich von ihrem eigenem Lächeln zu überzeugen.
Sie freute sich doch?
Sie dachte an Tom.
Ihr Jugendfreund kam heute, sie hatten sich fast fünfzehn Jahre nicht gesehen. Fünf Jahre vor der Erneuerung hatten sie sich aus den Augen verloren.
Dann war so viel passiert.
Aber wieso sollte sie Angst haben, ihn wiederzutreffen?
Sie hatte inzwischen geheiratet. Und dann kamen die Kinder, ihre Kinder, sie hätte nicht gedacht, dass sie sie so sehr lieben würde.
Und sie liebte ihre Kinder und ihren Mann, sie wiederholte sich, dass sie ihre Kinder liebte und ihren Mann.
Das stimmte doch?
Aber irgendwo blieb ein Rest Zweifel.

Ihre Finger strichen über die kühle Messingtafel an der Wand.
Die Tafel mit den Geboten hing direkt über dem Küchentisch. Damit die Kinder sie bei jedem Essen sahen.
Die Gebote waren doch das Wichtigste.
Alles war doch jetzt gut.

Die Welt hatte sich verändert, wie es wohl Tom ergangen war?

Es klingelte. Sie lief zur Tür und sprach in die Sprechanlage. "Hallo?"
"Hallo, hier ist Tom." Die Stimme von unten klang gleichzeitig fremd und vertraut.
Dann hörte sie Schritte die Treppe heraufkommen. Sie wohnten im dritten Stock.
"Tom, es ist unglaublich. Dass wir uns noch mal sehen." Sie sah ihn an und spürte in sich Misstrauen hochkommen, dieser Mann dort ließ sich gehen.
War das noch Tom?
Er sah ausgezehrt aus. Er tat ihr fast leid, wirkte auf sie aber gleichzeitig fremd und bedrohlich.
Wie konnte Tom so rumlaufen?
Sie ließ sich nichts anmerken, lächelte ihn an.

Bald saßen sie zusammen in der Küche. Sie hatte zur Feier des Tages eine große Kanne Yogi-Tee gekocht. Dieser Mann, der behauptete Tom zu sein, schob den Teebecher abschätzig bei Seite.
Tamara konnte ihre Irritation nicht verbergen. "Du trinkst doch nicht immer noch Kaffee? Ich finde es widerlich, wie rücksichtslos Kaffeetrinker sich selbst und ihrer Umwelt schaden."
Der Mann sah aggressiv an ihr vorbei. "Ach ja. Du bist jetzt also auch einer dieser Halbautomaten?"
Tamara spürte, dass ihr dieser Mann immer unangenehmer wurde. "Was meinst Du?"
Tom blickt ihr nun direkt ins Gesicht ohne einen Muskel zu verziehen. "Nennst Du das Leben?"
Tamara merkte, dass sie nervös mit den Händen über den Tisch wischte. "Ich bin glücklich."
Alles war doch gut.
Tom lachte böse, angewidert schüttete er den Tee in den Ausguss "Nein." Er sah nun richtig bitter aus. Die Mundwinkel waren nach unten gezogen, verächtlich schaute er sich in der Küche um. "Ihr seid nicht glücklich, ihr seid tot, Tammi. Diese ganze Sei-vernünftig-Nimm-Rücksicht-Keine-Aggressivität-Wir-sind-doch-alle-aufeinander-angewiesen-alle-müssen-mit-anpacken-Soße macht alle kaputt."
Sie schüttelte den Kopf. Tom war offensichtlich krank. Alles war doch gut. "Willst Du einen anderen Tee?" Sie lächelte und hoffte, dass er aufbrechen würde. Sie wollte ihn nicht verletzen.
Krank, er war krank.
Sie stand lächelnd auf.

Doch er beachtete sie gar nicht. Er sah ein Foto, das sie mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern zeigte. "Oh, Du hast jetzt eine glückliche Familie. Das konnte ich ja nicht wissen."
Er spuckte diesen Satz eher auf den Fußboden, als das er ihn sprach.
Tamara fühlte ein Bedürfnis diesen Satz in diesem Tonfall wegzuwischen mitsamt diesem Mann, der da saß.
Sie liebte doch ihre Kinder und ihren Mann.
Das tat sie doch?

Sie riss sich zusammen. "Tom, wir haben gewonnen. Es ist doch nun unsere Welt." Sie zeigte auf die Tafel mit den Geboten der Erneuerung.
Sie sah Tom an. "Dafür haben wir doch gekämpft."
Tom saß nur da.

Dann sah er auf die Messingtafel und las die eingravierten Zeilen laut vor.
"1. Du bist verantwortlich für Dich selbst
2. Hilf denen, die auch bereit sind zu leisten.
3. Du sollst die Verantwortungslosen zur Rechenschaft ziehen.
4. Du sollst Deinen Mitmenschen nicht aggressiv begegnen.
5. Du sollst keine Ressourcen verschwenden.
6. Du sollst Deine Umwelt wie eine Leihgabe auf Zeit achten und ihren Wert mehren.
7. Du sollst den Tieren mit demselben Respekt begegnen, wie Du ihn Deinen Liebsten entgegen bringst.
8. Du sollst Deine Gesundheit achten und für Dich selbst Sorge tragen, damit Du anderen nicht zur Last wirst.
9. Du sollst diejenigen, die sich vernachlässigen, zurückführen zu einem gesunden und selbstbestimmten Leben.
10. Du sollst keinen Alkohol trinken.
11. Du sollst nicht rauchen."
Er schnaubte durch die Nase und wiederholte grinsend. "Du sollst nicht rauchen."

Tamara begriff ihn nicht mehr, er hatte scheinbar alle Ideale verloren. Sie hatten doch zusammen für den Wandel der Welt gekämpft.
Und nun war doch alles gut.
Sie versuchte es noch einmal mit der alten Formel, die sie früher so oft zusammengehalten hatte. "Die Welt liegt in unseren Händen."

Tom ließ seine Hand so laut und schwer auf den Tisch fallen, dass ihr Becher mit Yogi-Tee überschwappte.
Dann verließ er die Küche und schloss sich im Klo ein.
Sie blieb in der Küche.

Als er zurück kam, hatte er bereits seine Jacke angezogen. "Ich gehe."
Sie sah ihn nochmal an. "Auf Wiedersehen, Du bist immer willkommen." Innerlich hoffte sie, dass er nie wiederkommen würde.
Aber das war aggressiv.
Sie schämte sich dieser Gedanken, das waren keine Gedanken gemäß der Erneuerung der Welt. Sie versuchte das durch einen freundlichen Blick gutzumachen und zwang sich zu lächeln. "Mach es gut."
In seinen Augen sah sie nur Hohn. Sie fühlte Mitleid für ihn, sie hatte ja auch alles, ihren Mann, ihre Kinder und er?
Dann fiel die Tür in das Schloss. Sie hörte noch, wie er die Treppe hinunter ging.

Sie wusste hinterher nicht mehr, wieso sie in das Klo gegangen war.
Aber der Geruch, der Geruch war eindeutig.
Nach dem sie gesehen hatte, wie er aussah, überraschte es sie nicht mehr, aber es erfüllte sie mit Schmerz. Wie konnte er so etwas tun?
Was war aus ihm geworden?
Tom war wirklich krank.
Dabei war er damals ein Teil der Bewegung gewesen. Sie hatten Rücken an Rücken gekämpft für die Erneuerung.
Tränen liefen ihr herab, als sie in den Ablauf der Kloschüssel fasste. Sie wusste, Zigarettenstummel schwimmen.
Und tatsächlich bekam sie etwas rundes kleines zu fassen. Der Rest einer Filterzigarette.

Sie saß da und war entsetzt.

Natürlich zeigte sie Tom an, was sonst. Schließlich waren alle verantwortlich dafür, dass die Gesellschaft gesund blieb.
Und ein faules Glied steckte alle anderen an.

Sie zitterte, als sie die Bezirksgesundheitssupervision anrief. Sie nannte die Adresse von Tom, die er ihr noch vor ihrem Treffen gegeben hatte.
Später musste sie noch vorbeikommen und ein Aussageprotokoll unterschreiben für den Prozess. Sie nahm den Zigarettenstummel mit.

Tom hatte alle ihre Ideale verraten, alles, er warf die Zukunft weg, verbrannte sie. Er musste irgend etwas Schlimmes erlebt haben. Vielleicht in der Zeit des Umbruchs zur Erneuerung. Er schien völlig verbittert.
Und dabei war doch alles gut.
Sie war doch glücklich, sie versicherte sich in Gedanken ihres Glücks.
Sie tröstete sich damit, dass die Supervision nun nicht weiter zusehen würde, wie er sich und andere in das Elend riss.
Sie würden ihm helfen.
Und Tom war krank, er brauchte Hilfe.

Natürlich wurde Tom noch am gleichen Tag verhaftet. Rauchen konnte nicht geduldet werden. Ein solches Beispiel konnte sonst andere Menschen zur Nachahmung verführen.
Und gerade die Schwächsten und Hilfsbedürftigsten waren gefährdet.
Tamara dachte an ihre Kinder.
Allein um der Kinder Willen hatte sie Tom anzeigen müssen.
Dabei war er früher so verantwortungsbewusst gewesen. Und jetzt, wo es erreicht war, verriet ausgerechnet Tom die Ziele.

Sie verstand ihn nicht mehr.

Eine Woche später traf sie Lilja. Sie hatten sich in letzter Zeit nur selten gesehen.
Dabei war Lilja Marti ihre beste Freundin. Tom, Lilja und sie hatten damals zusammen in einer politischen Aktionsgruppe für die Erneuerung gekämpft.
Damals ...
Sie umarmte Lilja. "Hallo, schön Dich zu sehen."
Lilja erwiderte ihre Umarmung. "Na Liebes, ja, wir haben uns schon viel zu lange nicht gesehen.
Du hast doch Tom getroffen?
Ist er in der Stadt?
Wie geht es ihm?"
Tamara schwieg einen Augenblick betroffen.
Lilja sah sie besorgt an. "Ist was passiert?"
Tamara erzählte ihr stockend, dass sie bemerkt hatte, dass Tom heimlich raucht und dass sie ihn angezeigt hatte.
Lilja, die eben noch ihrem Arm um Tamara gelegt hatte, zog sich von ihr zurück. "Bist Du völlig krank?
Das war Tom.
Wie konntest Du ihn anzeigen?
Nach allem was zwischen uns war."
Tamara sah ihre Freundin entsetzt an. "Er hat geraucht. Er hat die Ziele verraten, nicht ich."

Lilja lachte bitter. "1 Million Menschen in Gefängnissen, eine weitere Million im Gewahrsam der Medizin und 3 Millionen Menschen mit elektronischen Überwachungsapparaturen, die jederzeit willkürlich wieder weggesperrt werden können, Schulen mit Totalüberwachung und Biosensoren, die jede Abweichung registrieren, das war nicht das, was ich wollte.
Dieses Land ist nur noch ein großer Knast."
Tamara zitterte, nicht auch noch Lilja, sie verschränkte ihre Arme. "Niemand ist ohne Grund in Behandlung.
Wie sonst sollte die Gewaltfreiheit dieser Gesellschaft garantiert werden?
Wie sonst hätten die Reformen für eine sozialere und ökologisch verantwortliche Lebensweise durchgesetzt werden können?
Du redest wie Tom. Das ist krank.
Er war krank."
Lilja schüttelte den Kopf. "Das alles ist keine Rechtfertigung für das, was diese Gesellschaft den Menschen antut."
Tamara hatte den Eindruck, Lilja das erste Mal in ihrem Leben richtig zu sehen und es machte ihr Angst.
Alles war doch gut, wieso tat Lilja ihr das an?
Sie widersprach Lilja heftig und sie spürte Tränen auf ihrem Gesicht. Lilja war doch ihre Freundin, wie konnte Lilja so reden? "Wieso musst Du alles kaputt machen?
Alles schlecht reden?
Du warst immer nur Opposition aus Prinzip, nicht?
Dir waren die Gebote wahrscheinlich schon immer egal?
Und ich war so dumm, dass ich Euch damals vertraut habe, Dir und Tom.
Für eine soziale und gewaltfreie Gesellschaft müssen alle etwas dazu tun, alle, und wir können nicht zulassen, dass Einzelne es durch ihren Egoismus oder ihre Krankheit kaputt machen. Du weißt, dass das alles nur zur Heilung dieser Menschen, zu ihrem Besten und zum Wohl der Welt und der Gesellschaft geschieht. Damit wir wieder ganz werden und nicht gegeneinander agieren, dafür passiert doch all dies.
Glaubst Du, für die, in den Anstalten Arbeitenden, ist das immer einfach, aber sie tun das Notwendige für unsere Kinder, die Zukunft.
Aber, Du hast ja keine Kinder."
Tamara wandte sich ab und ging. Auch Lilja also, sie zitterte.
Sie hörte Lilja noch rufen. "Nicht ich bin krank, ihr seid krank, pervers, diese Gesellschaft ist krank und es ist an der Zeit wieder dagegen aufzustehen!"

Zu Hause heulte Tamara. Warum nur, jetzt wo alles gut war?
Und sie war alleine.
Die Kinder waren noch in der Ganztagsschule und Uwe, ihr Mann, hatte zur Zeit eine Arbeit in einer anderen Stadt und kam nur ab und an, wenn es die Arbeit erlaubte.
Schließlich wollten sie nicht der Gesellschaft zur Last fallen.
Sie waren verantwortungsbewusst.
Alles war doch gut.

Lilja war schon länger arbeitslos. Vielleicht hatte das sie so verändert. Tamara setzte sich auf einen Stuhl und dachte nach.
Ihr liefen immer noch Tränen herab.
Lilja tat ihr so leid.
Und sie gab sich Mitschuld, sie hätte es früher bemerken und ihr helfen müssen.
Nun also auch Lilja, sie kannte ihre Pflicht. Schon wieder musste sie gegen eine Freundin vorgehen, erst Tom und nun Lilja.
Sie rang lange mit sich. Lilja war doch ihre beste Freundin.
Aber sie wusste, was sie tun musste. Liljas Rede hatte so krank geklungen.
Das machte ihr Angst.
Dann sprach sie mit ihrer psychosozialen Betreuerin über Lilja und über ihre Sorge um ihre beste Freundin.

Zwei Tage später wurde auch Lilja abgeholt. Da sie versuchte zu fliehen, wurde sie erst mit einer Elektroschockwaffe ruhig gestellt, dann erhielt sie eine Spritze.
Danach konnte sie ihre Muskeln nur noch bedingt beherrschen. Selbst das Gehen mit Hilfe der Betreuer, die sie abholten, machte ihr aufgrund der Wirkung der Spritze Mühe.
Widerstand wurde unmöglich.

Lilja wurde in das Institut für soziale Gesundheitsdienstleistungen in die Abteilung für die Behandlung psychosozialer Erkrankungen gebracht.
Sie verlor das Bewusstsein.

Irgendwann erwachte sie wieder. Sie war an ein Metallbett geschnallt in einem kahlen Raum mit diffusem Kunstlicht. Auch ihr Kopf war fixiert. Sie glaubte, Schritte zu hören.
Dann strahlte ihr auf einmal eine intensive Lichtquelle ins Gesicht.
Eine Männerstimme ertönte. "Keine Angst Frau Marti, ich bin Therapeut. Ich möchte Ihnen nur einige Fragen stellen."
Lilja versuchte sich trotz Kopfschmerzen zu konzentrieren. "Ich, ich will nicht."
"Doch Sie wollen." Eine zweite Männerstimme, dann spürte sie einen Stich, eine Spritze, Ihr Körper krampfte zusammen, kurz darauf verlor sie die Kontrolle über ihre Gliedmaßen und begann zu zucken.
Sie hörte wieder die zweite Männerstimme. "Das dauert nur einen kurzen Moment und dann werden wir Ihnen Fragen stellen und Sie werden antworten."

Später erinnerte sie sich nur noch, dass sie angefangen hatte zu heulen und zu schreien und dass die Männer alles mit einer Kamera aufgezeichnet hatten und dann hatte sie immer wieder diese Hände gesehen, die eine Weltkugel ausquetschten, wie eine Zitrone und dabei redeten, redende Hände.
"Das ist nur zu Ihrem Besten. Wenn Sie nicht mitarbeiten, wird es nur um so unangenehmer.
Sie sollten sich das überlegen."

Irgendwann danach erwachte sie einer der Zellen, die hier Einzelräume genannt wurden.
Sie hatte sich an der Wand den Kopf blutig geschlagen. Nun saß sie auf dem Betonboden und fror. Sie versuchte, zu sich zu kommen.
Langsam, ganz langsam spürte sie wieder alle ihre Gliedmaßen.

Dann kamen sie wieder und holten sie ab. Wieder bekam sie Spritzen, Krämpfe, sie musste sich übergeben, erstickte beinahe an ihrem Erbrochenem.
Dann wieder der Einzelraum.
Und wieder holten sie sie ab.
Die Tage verschwammen vor ihr.

Sie lernte, das zu sagen und zu tun, was von ihr erwartet wurde, um nicht bestraft zu werden, um nicht, wie das ihr Therapeut nannte, noch mehr unterstützende Maßnahmen zu erhalten.

Sie wurde immer wieder zur Behandlung abgeholt. Als erstes bekam sie immer eine Spritze. Sie war dadurch den Wärtern, die sich hier Betreuer und Betreuerinnen nannten, ausgeliefert.
Ein Teil der Betreuer und Betreuerinnen benutzte die Überführungen zum Behandlungsraum um mit ihrem hilflos ausgelieferten Körper etwas zu treiben, was sie 'Spiele' nannten.
Lilja spürte bald nichts mehr, nur noch den Beton der Zelle, ihres Einzelraumes.

Nachdem zwei Wochen vergangen waren, kam Besuch.

Tamara wurde am Eingang des Instituts für soziale Gesundheitsdienstleistungen sehr freundlich empfangen. Die Frau am Eingang lächelte ihr aufmunternd zu, alles war gut, während sie in der Eingangsschleuse auf verdächtige Gegenstände gescannt wurde.
"Es ist wichtig, dass die Patientinnen und Patienten nicht völlig den Kontakt zur Außenwelt verlieren.
Es ist wirklich sehr verantwortungsbewusst, dass Sie ihre Freundin besuchen wollen."

Tamara fühlte sich unsicher, aber eine freundlich lächelnde Betreuerin mit zupackendem Händedruck holte sie ab und führte sie durch die Sicherheitsschleusen des Instituts.
Sie betraten einen mehrstöckigen Trakt mit langen Gängen von denen nummerierte Einzelräume abgingen.

Tamara konnte durch die Türen, wie durch Glas in das Innere der Einzelräume schauen.
Die Betreuerin erklärte ihr mit ruhiger warmer Stimme, dass dies nur von einer Seite aus möglich wäre und dass die Patientinnen und Patienten sie nicht sehen könnten. Die Türen waren von innen undurchsichtig, damit die Patientinnen und Patienten nicht durch das Betreuungspersonal gestört wurden. "Ruhe ist das Wichtigste, was unsere Patientinnen und Patienten brauchen.
Sie müssen sich keine Sorgen machen. Ihre Freundin ist hier gut aufgehoben.
Durch eine Veränderung der Ausrichtung der Nanomoleküle der Nanoglastür ist es aber möglich auch den Patientinnen und Patienten von innen den Blick nach außen zu ermöglichen."

Tamara war schockiert über die vielen Schwerkranken, die apathisch auf den Betten lagen oder auf dem Betonfußboden saßen.
Die Betreuerin bemerkte ihren Blick. "Manchmal wird mir die Arbeit auch zu viel. Es ist auf Dauer schwer, so viel Leid mit anzusehen."

Dann erreichten sie den Einzelraum 1067. Durch die Tür sah Tamara Lilja zusammengekrümmt in der Ecke auf dem Betonboden sitzen. Arme Lilja, Tamara spürte ein Zittern. Doch sicher wurde hier alles für die Patientinnen getan.
Die Betreuerin sah Tamara beruhigend an. "Sie wird sich sicher freuen, Sie zu sehen."
Dann drückte die Betreuerin einen Knopf neben der Tür. Sie sah Tamara an. "Die Tür ist jetzt auch von innen durchsichtig, außerdem besteht jetzt eine Sprechverbindung. Normalerweise sind die Einzelzimmer auch vom Lärm hier draußen abgeschirmt, schallisoliert."

Tamara sah durch die Tür Lilja direkt an. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
Sie sprach ganz leise. "Hallo Lilja."

Doch Lilja antwortete nicht, sie reagierte gar nicht. Sie sah apathisch durch die Tür, als wäre die Tür für sie immer noch undurchsichtig und als hätte sie nichts gehört.
Tamara war beunruhigt, sie sah die Betreuerin an. Die Betreuerin klopfte kräftig gegen die Tür. "Hallo, Besuch für Sie!"
Lilja sah einen kurzen Moment auf und Tamara in die Augen und schüttelte den Kopf.
Die Kameras an der Decke im kleinen Raum, die von außen nicht sichtbar waren, surrten und zeichneten jede Reaktion Liljas auf, um die Ergebnisse für die weitere psychopharmakologische Behandlung auszuwerten.

Lilja hatte dies schnell begriffen.

Jetzt ließ das Surren Lilja einen kurzen Moment erstarren, dann zwang sie sich ein fades Lächeln auf die Lippen. Sie hatte inzwischen begriffen, dass jede Kritik gegen sie ausgelegt wurde.
Worte wollten ihr aber nicht über die Lippen kommen, sie hatte Angst, dass die Wahrheit durchbrechen würde. Lilja wollte nicht wieder gefesselt und ruhig gestellt werden, und sie war so traurig, hasserfüllt und kalt, wie nie zuvor.
Lilja begriff nicht, wie hatten sie es geschafft, so etwas aus Tamara zu machen. Sie hätte nie für möglich gehalten, dass Tamara sie anzeigen könnte.
Sie verstand Tamara nicht. Sie starrte Tamara, die draußen vor der Zelle neben einer der Betreuerinnen stand, leer an.
Lilja fragte sich, wie sie so blind hatte sein können. Sie hatte für jedes Verhalten Tamaras immer ein Entschuldigung parat gehabt.
Aber nun war das alles egal, Lilja drehte sich weg.

Doch Tamara schien davon nichts zu bemerken. Tamara hatte nur das kurze Lächeln ihrer besten Freundin wahrgenommen und war ein kleines bisschen beruhigt.
Lilja sah fürchterlich aus.
Doch Tamara wusste, das Liljas Krankheit fürchterlich war. Sie kam sich so hilflos vor. Aber Menschen mit Dissozialer Persönlichkeitsstörung half man nicht mit Nachgiebigkeit.
Lilja tat ihr so leid, Tamara lächelte sie mit all ihrer Liebe an, obwohl Lilja ihr jetzt den Rücken zugewandt hatte.
Zum Glück gab es ja die Betreuerinnen und Betreuer. Tamara wusste, die Betreuerinnen und Betreuer gaben sich hier alle Mühe, den Patientinnen und Patienten zu helfen. Überall hingen die 11 Gebote, in den Gängen, in den Einzelräumen und über dem Eingang des Instituts in goldenen Lettern.
Die Betreuerin, die sie zum Einzelraum Liljas begleitet hatte, sah Tamara freundlich an. "Ich glaube, wir sollten ihr jetzt Ruhe lassen. Was Ihre Freundin jetzt vor allem braucht, ist Ruhe."
Tamara nickte.

Die Betreuerin drückte auf einen Knopf und die Tür wurde von Liljas Seite aus wieder undurchsichtig. Von der Gangseite aus konnte sie weiter hindurchschauen.
Sie sah Lilja jetzt zittern.
Die Betreuerin zog sie sanft fort. "Die ersten Tage sind für die Patientinnen und Patienten hier am anstrengendsten.
Kommen Sie doch in drei Monaten noch einmal vorbei."

Nachdem sie Lilja verlassen hatte, bat eine der Betreuerinnen Tamara noch, in das Sprechzimmer der Leiterin des Instituts zu kommen.
Sie führte Tamara dort hin.

Das Zimmer war groß und hell und zwei Reproduktionen von Gemälden von Friedensreich Hundertwasser hingen an der Wand. Einen kurzen Augenblick war sie allein, dann trat eine Frau Ende 40 in einem unauffällig aber modernem Kostüm ein.
Sie hatte ein warmes Lächeln und begrüßte Tamara freundlich. "Guten Tag, ich muss mich nochmal bedanken, dafür, dass Sie sich so für ihre Freundin eingesetzt haben.
Hätten Sie sie nicht gemeldet, dann weiß ich nicht, was noch passiert wäre."

Die Leiterin bat Tamara, sich zu setzen. Sie selbst setzte sich hinter einen großen modernen Schreibtisch. Jetzt sah Tamara auch die Kinderfotos auf dem Schreibtisch. Die Leiterin, die Tamaras Blick bemerkte, lachte. "Ja, das sind Jamie und Maria, meine Kinder, da weiß ich, für wen ich das hier alles tue."
Sie sah Tamara fragend an. "Haben Sie Kinder?"
Tamara nickte lächelnd. Dann sah sie die Leiterin etwas unsicher an, die Ihr aufmunternd zulächelte. Tamara schüttelte langsam den Kopf. "Ich hätte nicht gedacht, dass es um Lilja so schlecht steht. Sehen Sie, wir waren die besten Freundinnen.
Und sie hatte immer so viele Ideen.
Und jetzt ..."
Die Leiterin sah Tamara beruhigend an. "Wir helfen Ihrer Freundin. Dank Ihnen bekommt Sie jetzt die Hilfe, die sie braucht. Das ist es, was eine wahre Freundin tun sollte. Manchmal muss man die Menschen auch gegen ihren Willen zu ihrem Glück zwingen.
Aber nur wirkliche Freundinnen tun das. Die anderen sehen häufig einfach zu, wie sich ein Mensch selbst vernichtet."
Tamara nickte. "Ja, trotzdem ist es schwer. Ich hätte es vielleicht auch früher wissen müssen.
Sie hat immer noch sporadisch heimlich Fleisch gegessen. Sicher, das ist nicht verboten, aber es verstößt doch gegen das 7. Gebot.
Unsere Liebsten essen wir doch auch nicht auf."
Die Leiterin notierte sich - Fleischkonsum, Patientin 1067/45L -. "Ja, Fleischkonsum ist ein starkes Anzeichen für eine Dissoziale Persönlichkeitsstörung."
Sie war aufgestanden und berührte Tamara beruhigend an der Schulter. "Wir werden ihr das abgewöhnen. Alle Betreuerinnen und Betreuer, die hier arbeiten, leben vegan.
Wir legen viel Wert auf den Vorbildcharakter unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Und alle Betreuerinnen und Betreuer müssen regelmäßig Antiaggressionstrainings mitmachen.
Gibt es noch weitere Dinge, die Ihnen jetzt im Nachhinein aufgefallen sind?"
Tamara überlegte kurz. "Sie hat immer den Wasserhahn laufen lassen beim Zähneputzen."
Die Leiterin sog besorgt die Luft zwischen den Zähnen ein und notierte auch dies. "Vielen Dank für Ihre Hilfe. Sie helfen Ihrer Freundin wirklich sehr."
Auf dem Schreibtisch der Leiterin stand eine kleine Statue der Erneuerung, zwei Hände umfassten einen Globus.

Tamara dachte an die Zeit, als sie alle noch jung gewesen waren, Tom, Lilja, sie selbst.
Sie dachte daran, wie Lilja sie oft angelacht hatte, in Momenten, in denen Tamara hoffnungslos gewesen war. Lilja hatte sie dann in den Arm genommen und ihr ins Ohr gepustet, bis sie wieder lachte. "Die Welt liegt in unseren Händen."
Jetzt war es an ihr, stark zu sein, sie würde die Leiterin mit allen notwendigen Informationen unterstützen, damit Lilja bald wieder gesund wurde.

Zu Hause las Tamara die Tafel mit den 11 Geboten für sich selbst laut.
"1. Du bist verantwortlich für Dich selbst
2. Hilf denen, die auch bereit sind zu leisten.
3. Du sollst die Verantwortungslosen zur Rechenschaft ziehen.
4. Du sollst Deinen Mitmenschen nicht aggressiv begegnen.
5. Du sollst keine Ressourcen verschwenden.
6. Du sollst Deine Umwelt wie eine Leihgabe auf Zeit achten und ihren Wert mehren.
7. Du sollst den Tieren mit demselben Respekt begegnen, wie Du ihn Deinen Liebsten entgegen bringst.
8. Du sollst Deine Gesundheit achten und für Dich selbst Sorge tragen, damit Du anderen nicht zur Last wirst.
9. Du sollst diejenigen, die sich vernachlässigen, zurückführen zu einem gesunden und selbstbestimmten Leben.
10. Du sollst keinen Alkohol trinken.
11. Du sollst nicht rauchen."

Dann bereitete sie den Tisch für die Kinder vor, die bald aus der Ganztagsschule kommen würden.

Es war schon spät am Nachmittag.

In drei Monaten würde sie wieder nach Lilja schauen.
Sie nahm sich das fest vor.


FIN


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Yuriko Yushimata


Fehlfunktion

Die Tochter beobachtete ihren alten Vater unauffällig. Sie hörte aus der Entfernung, wie er das kleine Mädchen zur Ordnung rief. "Fehlfunktion!" Es musste noch die Kartoffeln schälen.
Die Tochter sah, dass das kleine Mädchen genau wusste, was ihm drohte.
Es reagierte unverzüglich.

Ihr Vater lachte in sich hinein.

Sie hatten die Kleine Fehlfunktion getauft, da das Mädchen an einer genetisch bedingten Nervenstörung litt. Aber zum Kartoffelschälen war sie gut.
Sie war ihnen zugelaufen, offensichtlich obdachlos und schon länger auf der Straße.
Bevor sie das gebärfähige Alter erreichte, würden sie sie töten.

Sie wusste, dass die Menschen in den Städten sie nicht verstanden.
Sie hatten sich schon vor vielen Jahrzehnten auf diesem alten Landgut abgeschottet. Sie vermieden den Kontakt nach außen soweit möglich.
Und die nächste Stadt war weit entfernt.

Sie betrachtete ihren Vater, wie er sich bückte um eine Kartoffel aufzuheben, die beiseite gerollt war. Deutlich war zu sehen, dass ihn der Rücken schmerzte, er wurde immer hinfälliger und dysfunktionaler.
Er wurde alt.
Auf seinem Gesicht war ein Zucken zu sehen, als ihm der Schmerz den Rücken entlang kroch.

Die Tochter erinnerte sich an die Zeit ihrer eigenen Kindheit.

Ihr Vater hatte diese Gemeinschaft gegründet, um den Neuen Menschen zu züchten. Sie hatten strenge Auswahlkriterien festgelegt und sie hatten hier auf dem Landgut eine Gemeinschaft mit eigenen Regeln geschaffen.
Neugeborene, die nicht der Norm entsprachen, wurden getötet. Zwei ihrer Geschwister hatte ihr Vater in der Regentonne ertränkt.
Die Reste hatten er an die Schweine verfüttert. Immer und immer wieder hatten er es ihr und ihren Brüdern erzählt, damit sie begriffen, dass nur die Starken überleben dürfen.

Fehlfunktion war mit dem Kartoffelschälen fertig. Ihr Vater brüllte die Kleine mürrisch an: "Bring sie in die Küche!"

Ihre Mutter war nun schon 10 Jahre tot. Sie selbst führte nun die Gemeinschaft. Ihr Vater war dafür zu krank, zu alt und hinfällig. Und sie war stark, sie hatte immer schnell begriffen.

Sie hatte noch zwei Brüder, Bernd und Uwe.

Uwe, ihr jüngerer Bruder, hatte aus ihrer Sicht zu Unrecht überlebt. Sie hätten auch ihn ersäufen sollen. Aber ihre Mutter war bei seiner Geburt schon alt gewesen, alt und schwach. Selbst heute, als erwachsener Mann, benahm sich Uwe noch linkisch.
Er hatte auch das kleine Mädchen angeschleppt, für Fehlfunktionen war er Spezialist.

Seitdem war Fehlfunktion hier.

Sie bemerkte, dass sich ihr Vater auf den Weg zum Holzschuppen machte, seine tägliche Routine. Wieder war auf seinem Gesicht zu sehen, dass die Bewegungen ihm Schmerzen bereiteten.

Es wurde Zeit, sie hatte alles organisiert.

Als er um die Ecke der Scheune bog, erwartete sie ihn bereits, zusammen mit ihren Brüdern und zwei weiteren Mitgliedern der Kommune. Sie fesselten ihn.
Ihr Vater begriff nicht. "Was soll das?"
Sie sah ihn an. "Du wirst alt. Du bist dauernd krank."

Dann sah sie zu Uwe, der auf den Boden starrte, einmal sollte er beweisen, dass er etwas taugte. "Auf Dich können wir bei der Ernte am leichtesten verzichten, du wirst Vater töten und vergraben."
Ihr Vater sah sie entsetzt an. "Aber ich bin Dein Vater."
Sie sah ihn an. "Ich weiß." Sie wandte sich mit einem Schulterzucken ab und und sprang auf den Traktor. Den Rest konnte ihr kleiner Bruder erledigen.

Doch Uwe war selbst dieser einfachen Aufgabe nicht gewachsen. Sie begriff das, als ihr Vater kurz darauf wieder auf dem Acker auftauchte.
Uwe lief gestikulierend hinter ihm her. Der alte Mann hatte ihm versprochen, zu verschwinden, falls er ihn nicht tötete.
Und ihr Bruder hatte ihn laufen lassen.

Natürlich hatte ihr Vater nie daran gedacht, zu verschwinden. Er marschierte direkt zum Acker, um sie zu überzeugen, dass er noch fit war.

Als sie ihren Bruder und ihren Vater sah, sprang sie vom Traktor. Sie sah Uwe nur kalt an, er hatte einmal zu viel versagt, dann stach sie ihm ein Messer ins Herz. Ihr Vater hatte nichts anderes erwartet. Er lächelte sie an. Doch sie sah nur kalt zurück. "Es hat sich nichts verändert."
Das letzte, was der alte Mann spürte, war der Axthieb ihres zweiten Bruders, der sich ihm von hinten unauffällig genähert hatte.
Sie säuberte ihr Messer und nickte ihrem zweiten Bruder zu.

Aus den Augenwinkeln sah sie, dass ihr Mann sie aus misstrauischen Augen betrachtete, nur kurz.
Sie würde mit ihm sprechen müssen, nachher.
Sie hatte diesen Mann ausgewählt und in die Gemeinschaft gebracht.
Er war der einzige Neuzugang der letzten Jahre.

Sie sah alle auf dem Acker an. "Wir dürfen nie nachlassen in unserem Streben nach Verbesserung."
Sie wies einen der Männer an, ihren Vater zusammen mit ihrem Bruder in der Kalkgrube zu vergraben.
Dann gingen sie auseinander, wieder an ihre Arbeit.

Als sie abends zum Haus zurück kam, war ihr Mann verschwunden. Sie fand nur einen Zettel, in dem er sie als Mörderin bezeichnete.
Er hatte nicht begriffen. Aber er war schon zu lange weg, um ihn noch einzuholen.
Falls er die Behörden in der Stadt informierte, war alles vorbei.
Und er würde genau das tun, sie war sich mit einem Mal sicher.

Und sie hatte ihn ausgewählt, sie hatte dies verursacht.

Sie sah vor ihren Augen, wie alles kommen würde. Sie hatten nur noch wenige Stunden Zeit.

Sie hatte versagt, als Frau hatte sie mit der Auswahl dieses Mannes versagt.
Sie war also auch nur eine Missgeburt, wie ihr kleiner Bruder, wie ihr Mann. Offensichtlich waren sie alle Missgeburten, degeneriert, wie alle Menschen.
Alle hatten den Tod verdient.
Zuerst tötete sie ihre Kinder, die Kinder einer Missgeburt und eines Mannes, der ein Verräter war, dann bestellte sie alle in die kleine Scheune. Sie sorgte dafür, dass niemand überlebte.
Zum Schluss tötete sie sich selbst.

Nur Fehlfunktion, das kleine zugelaufene Mädchen, hatte sich rechtzeitig verkrochen.
Und der Tochter war dieses Ding zu unwichtig, um sie zu suchen.

Nach einiger Zeit kroch die Kleine aus ihrem Versteck. Alle waren tot.
Das Mädchen konnte es nicht glauben, doch es war, wie es war.

Auf einmal hörte das kleine Mädchen Polizeisirenen.

Die Kleine wollte sich zuerst verstecken, doch dann setzte sie sich auf die Wiese.


FIN


Inhaltsverzeichnis





Yuriko Yushimata


Dr. Lara Jones & Der Seelensauger

- Dr. Lara Jones, Psychotherapeutin,
Spezialgebiet: Religiöse Störungen -

Das Schild an der Tür der Praxis ihrer Freundin Lara ließ Yukiko jedes Mal nervös werden.
Immer wieder hatte sie die Phantasie, dass ein religiöser Fundamentalist oder ein von ähnlich gefährlichen religiösen Wahnvorstellungen Befallener aus der Praxis stürmen und die Menschen niedermetzeln würde.

Vielleicht ein Evangelikaler, diesen Begriff hatte sie einmal irgendwo in einer Reportage über historische religiöse Wahnvorstellungen gehört. Aber sie wusste nicht mehr genau, was das war.
Sie erinnerte sich nur noch daran, dass die evangelikalen Zwangsvorstellungen zum Kreis der christlichen Wahnvorstellungen gehörten und dass diese Wahnsinnigen vor allem sexuell aktive Frauen gehasst hatten. In ihrer Phantasie überfiel sie hinterrücks ein lächelnder Fanatiker, um ihr mit seinem Kreuz den Hals aufzuschlitzen und sie dann zu verbrennen.

Sie sah sich nervös um.

Als sie die Praxis von Lara Jones betrat, war die Therapeutin alleine.
Lara lachte, als Yukiko ihr von ihren Ängsten erzählte. "Evangelikale haben nie Menschen mit ihrem Kreuz den Hals aufgeschlitzt." Sie lächelte Yukiko mit ihrem typischen allwissendem Lächeln an, das Yukiko gleichzeitig hasste und liebte. "Menschen, die sie verbrannt haben, haben sie bei lebendigen Leibe verbrannt. Und dass auch nur zu den Hochzeiten dieses Massenwahns, als dies noch ein neues Phänomen war.
Später haben sie sich damit begnügt, Ärzte zu erschießen."
Yukiko stutzte. "Wieso Ärzte?"
Ihre Freundin sortierte einige Unterlagen auf ihrem Schreibtisch. "Ach, sie hielten Schwangerschaftsabbrüche für ein Verbrechen."

Yukiko betrachtete kurz den alten religiösen Stich an der Wand, auf einer Waldlichtung trieben es Hexen mit dem Teufel, und wandte sich dann wieder ihrer Freundin zu. "Wieso das?"

Dr. Lara Jones zuckte mit den Schultern. "Krankhafte Fixierung, bedingt durch ein unterentwickeltes Selbstgefühl und Sexualängste.
Viele Männer hatten Angst, dass sexuell aktive Frauen sie verschlingen würden, der Mythos der Vagina dentata, vielleicht.
Ich denke, in der Gewalt gegen die Ärzte wurde der Hass auf die sexuell aktive Frau ausgelebt."
Sie zuckte mit den Schultern. "Vielleicht hatten die psychischen Störungen auch Ursachen in der Kindheit.
Ich weiß nicht.
Heute gibt es diese Erkrankung nicht mehr.
Die meisten religiösen Störungen sind heute eher harmloser Natur, leichte Anfälle von Gottesglauben, sich verfestigende Phantasien einer Seele, und anderes in der Art.
Meist harmlose religiöse Neurosen.
An sich können Menschen mit ihnen ganz normal leben."

Yukiko trat neugierig zu Lara an den Schreibtisch. "Wozu behandelst Du sie dann?"
"Zu mir kommen die Leute freiwillig. Ich therapiere nur die, die das wollen.
Und auch eine harmlose religiöse Neurose kann sich zu einer ernsthaften Störung auswachsen. Außerdem gibt es Kriminelle, die sich auf die betrügerische Ausnutzung religiös gestörter Kranker spezialisiert haben.
Deshalb bin ich ja auch immer wieder in Ermittlungen verwickelt."
Yukiko strahlte, sie erinnerte sich an einen Begriff aus ihrem Schulunterricht. "Priester, die organisierten Kriminellen, die die religiös Gestörten ausgenutzt haben und früher Priester genannt wurden. Die schwarzen Kuttenträger mit eigenem Ehrenkodex, internationalen klandestinen Strukturen und patriarchal hierarchischen Führungsprinzip.
Und eingeschworen auf das Schweigen."
Yukiko hatten damals in der Schule einen wirklich spannenden Film über diese verschworene Gemeinschaft von Verbrechern mit ihren eigenen Treuegelöbnissen und ihrer Parallelwelt in Klöstern und Katakomben gesehen.

Ihre Freundin Lara zog die Augenbrauen hoch. "Priester, Priester gibt es auch schon lange nicht mehr. Aber die Kriminellen heute nutzen ähnliche Methoden.
Aber, lassen wir das bei Seite. Du wolltest mir von Deinem Aufenthalt auf der Ozeanbasis 7 erzählen.
Sind die Sonnenaufgänge unter Wasser wirklich so phantastisch?" Sie legte die Unterlagen, die sie gerade sortierte, beiseite. "Lass uns einen Kaffee trinken.
Frische Luft tut mir sicher gut."
Sie gingen in ein CafĂ© zwei Straßen weiter.

In der Luft weit über ihnen lief der Gleiterverkehr fast lautlos ab.
Auf der Straße picknickten einige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus umliegenden Geschäftshäusern, einige trieben auch Sport und Kinder spielten mit einer ferngesteuerten Antigravitationsflugscheibe.
Seitdem vor fast 200 Jahren der Autoverkehr vollständig abgeschafft worden war, nutzten die Menschen den Straßenraum für die alltägliche Ruhe und Entspannung.

Es war ein friedlicher Sommertag. Yukiko spürte die Wärme auf der Haut.

Im CafĂ© erzählte sie ihrer Freundin von ihrem Urlaub. "Aus den Kuppeln der Basis, kannst Du schon Morgens beim Frühstück große Schwärme von Fischen im Korallenriff beobachten, Nachmittags bin ich häufig selbst getaucht.
Und Abends gab es Seetanggratin mit Algenpaste. Ich habe mir das Rezept geben lassen.
Ich koche es mal für uns. Ich lade Dich ein, ja?"
Lara schaute etwas skeptisch. Yukiko wusste das Lara ihren Kochkünsten etwas misstraute.

Dr. Lara Jones wirkte abgespannt. Yukiko machte sich etwas Sorgen um ihre Freundin.
Sie wusste, dass es Ereignisse in Laras Vergangenheit gab, über die sie nie sprach und die sie belasteten.
Außerdem arbeitete sie einfach zu viel, ein entspanntes Abendessen würde ihr gut tun. Yukiko sah ihre Freundin mit großen Augen an. "Bitte, ich kann auch etwas anderes kochen."

Lara Jones trank ihren Latte macchiato mit echten Kaffeebohnen, beobachtete die Kinder und hatte wieder ihr allwissendes Lächeln aufgesetzt, um gerade etwas auf Yukikos Bitte zu erwidern, als sie den Mann sahen.

Der Mann trug einen seltsamen dicken alten Mantel aus echter Baumwolle und das an diesem Sommertag, er schien verwirrt und schaute sich immer wieder ängstlich um.
Einige Kinder beobachteten ihn erstaunt.
Plötzlich duckte er sich hinter einen Baum und rannte dann Haken schlagend über die Straße genau in Richtung des CafĂ©s in dem sie saßen.
Immer mehr Menschen wurden aufmerksam.

Dann sah Yukiko die Nanodrohne, sie folgte dem Mann mit hoher Geschwindigkeit. Auch ihre Freundin Lara hatte die Nanodrohne bemerkt. Dr. Jones sprang auf und griff die Wasserkaraffe auf dem Tisch. Yukiko sah, dass der Wurf ihrer Freundin gut gezielt war, aber die Drohne wich der Karaffe aus.
Der Mann begriff nicht, panisch lief er in der Nähe des Tisches an dem Yukiko mit Lara saß die Roboterbedienung des CafĂ©s um und stürzte zu Boden.
Die Drohne flog unmittelbar an ihrem Tisch vorbei, gleich würde sie den Mann erreichen. Yukiko fühlte sich elend, diese Drohnen konnten tödlich sein, ihr war auf einmal kalt.
Doch Lara blieb ganz ruhig, sie griff sich Yukikos Handtasche, stülpte sie blitzschnell über die Drohne und ließ den Verschluss zuschnappen. Dann band sie die Handtasche am Tisch fest.
Yukiko bestaunte ihre Handtasche, die wie ein Luftballon, der davonfliegen wollte, am Tisch hing. Sie sah Lara an. "Und was jetzt?"
Yukiko spürte Laras wachen Blick. "Wir müssen uns um den Mann kümmern."

Dr. Jones drängte sich durch die Menschen, die aufgesprungen waren. "Ich bin Ärztin! Lassen Sie mich durch!"
Sie beugte sich über den zitternden Mann. Seine Augen traten aus den Höhlen, seine Stimme war ein heiseres Flüstern: "Der Seelensauger, der Seelensauger, er will ... ."
Dann sackte der Mann in sich zusammen.
Yukiko sah, dass langsam auch Lara beunruhigt war. Dr. Lara Jones sah sich zu ihr um. "Wir müssen ihn hier wegbringen. Wir wissen nicht, wer noch alles in dieser Sache steckt."

"Und was machen wir damit?" Yukiko zeigte auf ihre wild zappelnde Handtasche. Lara sah sie an. "Kümmere Dich um den Mann." Dann griff sie die Tasche und verschwand kurz im CafĂ©. Sie kam ohne Tasche zurück. Yukiko sah sie fragend an. "Wo ist meine Handtasche?"
"Ich habe sie in der molekularen Müllrecyclinganlage entsorgt."
"Die war neu."
Lara zuckte nur mit den Achseln und lächelte wieder ihr typisches Lächeln. "Du hast doch noch fünf andere.
Hilf mir mit dem Patienten."
Seufzend half Yukiko ihr den Mann auf einen der überall bereitstehenden Gleiter zu zerren. Die Menschen traten bereitwillig zur Seite.
Yukiko staunte immer wieder darüber, dass die Leute Anweisungen von Dr. Lara Jones einfach befolgten.

In der Ferne waren Sirenen zu hören, irgendwer hatte wohl die Sicherheitskräfte alarmiert.

Yukiko wurde von Lara auf den Gleiter gezogen, dann flog sie mit Yukiko und dem Mann im Tiefflug um die nächste Ecke und danach auch noch durch eine Unterführung.
Yukiko war sich nicht sicher, ob ihr diese Form zu fliegen eher Angst oder Spaß machte. Jedenfalls hatten sie gerade mindestens Hundert Verkehrsregeln gebrochen.
Nachdem sie noch einige Fußgänger in winkligen Gassen im Tiefflug erschreckt hatte, reihte Dr. Lara Jones den Gleiter unauffällig im normalen Verkehr ein und flog im Bogen zurück zu ihrer Praxis.

Yukiko schaute skeptisch. "Werden Sie uns nicht folgen?"
Lara schüttelte den Kopf. "Nicht sofort, dafür müssen Sie erst die Gleiterprotokolle auswerten. Und das geht nicht ohne richterliche Zustimmung.
Bis dahin haben wir genug Zeit."
Yukiko hatte aber trotzdem den Eindruck, dass Lara über irgendetwas besorgt zu sein schien. Sie sah ihre Freundin mitfühlend an. "Aber Du bekommst Ärger?"
Lara schüttelte leicht abwesend den Kopf. "Nein, wieso? Ich bin Ärztin und ich behandle einen Notfall."
Yukiko verstand Lara nicht. "Aber, wieso bist Du dann so angespannt?"
Yukiko sah wie Lara einen ernsten Blick auf den Mann warf. "Da stimmt etwas nicht, ganz und gar nicht. Nach dem wenigen, was der Mann gesagt hat, haben wir es mit organisierter religiöser Kriminalität zu tun."

Danach sagte Lara Jones nichts weiter, ihr Blick war schweigend nach innen gerichtet.
Yukiko wusste, dass Lara in solchen Momenten an die weit zurückliegenden Ereignisse dachte, obwohl sie nie über diese Ereignisse sprach und Yukiko nichts darüber wusste.
Yukiko spürte, dass sie trotz der Sonne fröstelte. Der dunkle Blick ihrer Freundin machte ihr Angst.

Nachdem sie die Praxis erreicht hatten, half Yukiko Dr. Lara Jones den Mann auf die Therapiecouch zu legen. Dr. Jones spritzte ihm ein Mittel, das ihn aufwachen ließ und doch gleichzeitig beruhigend wirkte. Sie hielt ihm ein Glas Wasser hin. "Trinken Sie etwas. Ich bin Dr. Lara Jones, Spezialistin für Religiöse Störungen, ich denke, Sie brauchen meine Hilfe."
Der Mann blickte sich im Zimmer um, sah Laras Diplome an der Wand hängen und nickte. "Ich habe von Ihnen gehört Frau Jones, ich wollte tatsächlich zu Ihnen, aber dann war da diese Drohne."
Seine Stimme zitterte.
Dr. Lara Jones beruhigte ihn. "Ich habe die Drohne unschädlich gemacht."
Leise murmelte Yukiko. "Und meine neue Handtasche dazu." Der Satz war ihr ganz automatisch entschlüpft. Yukiko hielt sich den Mund zu.
Lara bedeutete ihr mit einem Blick und dem geliebt und gehasstem Lächeln, nicht zu stören. Dann setzte sie sich in den Ledersessel neben der Therapiecouch und wandte sich wieder dem Mann zu. "Erzählen Sie."

Der Mann sah an die Decke. "Ich leide schon länger an einer leichten religiösen Störung.
Ich war in Behandlung und weiß das daher auch alles, aber ich komme einfach nicht los von der Zwangsvorstellung, dass ich eine Seele besitzen würde.
Sehen Sie, rational habe ich das alles verstanden und weiß, dass ich keine Seele habe, aber dann bin ich in meinem Innersten doch immer wieder überzeugt, eine Seele zu besitzen.
Ich komme einfach nicht dagegen an."
Dr. Jones notierte sich ein paar Stichworte und beruhigte ihren Patienten. "Sie müssen sich keine Vorwürfe machen, Sie sind nicht der einzige mit diesem Problem.
Erzählen Sie weiter."

Yukiko bewunderte die Souveränität ihrer Freundin.

Der Mann trank einen Schluck Wasser. "An sich bin ich mit der Situation gut zurecht gekommen und habe meinen Alltag auch gut bewältigt, trotz dieser Zwangsvorstellungen.
Nur ab und an gab es Phasen, in denen ich davon überzeugt war, ich müsse unbedingt mehr für das Wohl meiner Seele tun." Er stockte einen Augenblick. "Und dann bin ich im Internet auf diese Anzeige gestoßen - Seelenmassagen, tun Sie Ihrer Seele etwas Gutes! -.
Natürlich wusste ich, dass es sich da um ein betrügerisches Angebot handelt.
Aber ich dachte, vielleicht würde es mir trotzdem helfen und teuer war es auch nicht." Der Mann stockte wieder eine Augenblick. "Die angegebene Adresse war sehr verdächtig, aber das ist bei solchen religiösen Angeboten immer so.
Eine alte verlassene Lagerhalle im Norden der Stadt."

Der Mann trank noch einen Schluck Wasser.

Dann fuhr er fort. "Ich bin dann dort hingefahren. Als ich an der Tür klopfte, öffnete eine junge Frau und bat mich höflich herein.
Im Inneren war dieser Teil der Lagerhalle mit Teppich ausgelegt, die Wände waren verkleidet und weiß und es standen Grünpflanzen als Schmuck in den Ecken.
Alles wirkte sauber und vertrauenerweckend.
Die junge Frau nahm zuerst an einem Tresen meinen Namen auf, dann drückte sie auf einen Knopf und ein hagerer älterer Mann in schwarzem Gewand mit langen silbergrauen Haaren kam aus einer Seitentür und begrüßte mich. Die junge Frau bezeichnete ihn ehrfürchtig als Vater Ara.
Ich wurde dann in einen Nebenraum zu einer Liege geführt. Dort musste ich mich mit dem Bauch auf die Liege legen."

Yukiko bemerke das der Mann auf der Couch unruhig zuckte. Doch noch war seine Stimme relativ ruhig. "Im Hintergrund lief helle Kirchenmusik, die junge Frau begann mich zu massieren.
Ich dachte schon, dass das ganze wohl nur eine ungewöhnliche Reklame für eine Massagepraxis war. Ich wurde ein wenig schläfrig.
Als plötzlich ..."
Die Stimme des Mannes brach.

Yukiko sah nun Schweißperlen auf seiner Stirn und die Augen des Mannes waren geweitet.

Nur mit Mühe konnte er mit leiser Stimme fortfahren. "Plötzlich verdunkelte sich der Raum. Nur irgendwoher kam etwas Kerzenschein.
Ich spürte auf einmal, dass ich an die Liege gefesselt war.
Die junge Frau setzte sich rittlings auf mich, aber sie hatte kein Gesicht mehr. Im Spiegel sah ich, dass dort nur eine leere Fratze war.
Und dann - und dann wurde die Musik immer dunkler und lauter. Ich versuchte mich zu befreien, aber ich konnte nicht.
Die Musik verwandelte sich in bestialische Klänge. Und in einem flackernden Lichtschein erschien das Gesicht Vater Aras. Nur war auch dies kein Gesicht mehr, sondern eine Fratze. Und in der Hand trug er einen bauchigen roten Gegenstand, ein Maschinentier mit schwarzem Rüssel.
Dann zog er einen Schwanz aus diesem Maschinentier und steckte ihn in eine dieser uralten Stromleitungen. Er besprach das Maschinentier, als würde er einen Dämon beschwören, berührte es und plötzlich fing es an loszuheulen. Und ..."
Der Mann schrie auf und schwieg, seine Kleidung war nun durchgeschwitzt und seine Augen waren erstarrt.

Dr. Lara Jones gab ihm noch eine Spritze. Der Mann wurde ruhiger, sie sah ihn beruhigend an. "Sie müssen weiter erzählen. Ich muss wissen, was passiert ist, um Ihnen helfen zu können."
Yukiko spürte, dass auch bei ihr selbst sich schon beim Zuhören alles verkrampft hatte.
Sie hatte Mühe ruhig sitzen zu bleiben.

Endlich erzählte der Mann weiter. Die Stimme war jetzt tonlos. "Diese Höllenmaschine mit Rüssel und Schwanz, ganz rot und schwarz, hat gebrüllt und an mir gesaugt, bis sie meine Seele zu fassen bekommen hat!
Diese Maschine hat meine Seele eingesaugt, sie hat sie einfach eingesaugt!" Dem Mann schrie diese letzten Worte heraus. "Und dann haben dieser Vater Ara und seine Assistentin sie in ein großes altes durchsichtiges Glas gesperrt und weggeschleppt.
Und dabei haben sie teuflisch gelacht und mir erzählt, was sie mir angetan haben."

Der Mann wurde ruhig, aber das wirkte auf Yukiko auch nicht beruhigender, sie hatte nun eher den Eindruck einem Toten zuzuhören.

Die Stimme des Mannes klang nun völlig gleichgültig. "Danach haben sie mich vor die Tür gesetzt. Ich war völlig durcheinander." Der Mann wirkte vollständig erschöpft. "Bald kamen die Forderungen. Erst war es nur Geld, doch jetzt sollte ich Medikamente liefern. Da habe ich gedroht, zur Polizei zu gehen.
Sie haben gelacht und gesagt, sie würden meine Seele verdampfen. Dabei haben sie das Glas mit meiner Seele in den Händen geschüttelt.
Ich wusste nicht mehr, was ich tun sollte." Er sah Dr. Lara Jones an. "Ich habe von Ihnen gehört, es hieß, sie sind Spezialistin für ungewöhnliche Fälle, und ich wollte zu Ihnen und dann war da diese Drohne und ich bin weggelaufen."

Der Mann schwieg. Yukiko schluckte.

Lara Jones bat Yukiko dem Patienten noch ein Glas Wasser zu bringen. Dr. Lara Jones sah den Mann an. "Jetzt sind Sie in Sicherheit."
Der Mann zitterte und krallte sich an den Arm der Therapeutin. "Sie haben immer noch meine Seele. Sie werden sie verdampfen."
Dr. Lara Jones zog eine Spritze auf. "Haben Sie die Adresse der Lagerhalle noch?"
Der Mann kramte einen zerknitterten handschriftlich beschriebenen Zettel aus seiner Tasche.
Yukiko staunte, niemand schrieb mehr mit der Hand.
Als Lara Jones ihren erstaunten Blick sah, reichte sie den Zettel an sie weiter. "Im Milieu organisierter Religionskriminalität läuft aus Sicherheitsgründen alles nur handschriftlich."

Dann gab Dr. Jones dem Mann eine Beruhigungsspritze. Er würde bis morgen Mittag schlafen.
Danach telefonierte sie mit den Sicherheitskräften wegen des Vorfalls im CafĂ©.
Als Ärztin gelang es Ihr, die Beamtin zu beruhigen ohne das gerade Gehörte preiszugeben.

Yukiko sah Lara an. "Was jetzt?"

Lara Jones sah mit entschlossenem Blick aus dem Fenster. "Wir müssen die Seelen zurückholen. Dieser Mann ist sicher nicht das einzige Opfer."
Wieder sah Yukiko den Blick ihrer Freundin für einen kurzen Moment abschweifen, Yukiko war sich sicher, dass Laras Gedanken wieder bei den ungesagten Ereignissen in der Vergangenheit waren.
Der Blick ihrer Freundin wurde dunkel und kalt.

Yukiko war nicht wohl bei dem Gedanken diesen Verbrechern alleine entgegen zu treten."Wieso schalten wir nicht die Polizei ein?"
Doch Lara schüttelte den Kopf. "Wir wissen nicht, wer alles involviert ist. Dabei geht es um viel Geld und Macht."

Es war zwei Uhr nachts als Yukiko zusammen mit Dr. Lara Jones die Lagerhalle erreichte. Hier wirkte die Nacht noch schwärzer als zuvor.
Sie näherte sich zusammen mit ihrer Freundin Dr. Lara Jones langsam der verlassen wirkenden Halle.

Auf einmal ein Bellen, metallisch, und ein metallisches Knurren, ein Roboterwachhund stürzte auf sie zu. Das Tier hat leuchtende tief rote Augen, es war auf Angriff programmiert.
Yukiko erinnerte sich an Zeitungsartikel über durch Roboterhunde zerfleischte kleine Kinder.
Lara Jones ging in die Hocke und fixierte das Tier mit ihrem Blick. "Schau mir in die Augen. Du wirst müde. Du wirst müde. Schau mir in die Augen."
Yukiko fragte sich, was das werden sollte.
Das Tier war kurzfristig irritiert und sprang dann mit aufgerissenem Maul auf Lara Jones zu.
Darauf hatte Dr. Lara Jones nur gewartet. Der Trick mit der Hypnose klappte immer.
Sie zog mit einer fließenden schnellen Bewegung den Vorschlaghammer aus der Tragetasche und schlug das überraschte Tier auf den Kopf. Das Tier fiel um, der Kopf hing nur noch an einigen Drähten.
Yukiko sah Lara irritiert an. "Wozu dieser Zirkus mit der Hypnose?"
Und wieder einmal antwortete ihr das allwissende Lächeln ihrer besten Freundin. Lara sah zu ihr hinüber. "Wenn Du die Rechenleistung dieser Robotertiere nur ausreichend mit irgendeinem seltsamen Verhalten auslastest, sinkt ihre Reaktionsschnelligkeit rapide."

Dr. Lara Jones packte den Vorschlaghammer wieder in ihre Tragetasche.
Dann zeigte sie auf eine Feuerleiter.

Yukiko wusste nicht Recht, ob sie es romantisch finden sollte über eine Feuerleiter und durch ein Oberlicht in eine Lagerhalle einzusteigen, oder ob sie lieber Angst haben sollte. Lara schien dies ganz alltäglich zu finden.
Als sie in der Halle standen reichte sie Yukiko eine Taschenlampe. "Wir gehen Raum für Raum vor. Irgendwo hier müssen die eingemachten Seelen lagern."

Lara Jones wandte sich an Yukiko. "Ich nehme die linke Seite der Halle und Du untersuchst die rechte Seite."

Yukiko wäre lieber mit Lara zusammen geblieben. Alleine fühlte sie sich unwohl im nur vom Strahl der Taschenlampe erleuchtetem Dunkel. Aber sie wollte nicht als Schisshase dastehen. Nirgends fanden sich die Gläser.
Dann hörte sie ein Klicken hinter sich. Sie drehte sich um, sicher war da nichts.
Sie sah sich um, nichts. Vielleicht gab es hier eine Katze.
Doch urplötzlich stand im Dunkeln ein grauhaariger hagerer Mann vor Ihr und bedrohte sie mit einer Maschine mit langem schwarzem Rüssel. "Bleibt stehen, oder ich sauge Dir die Seele aus dem Leib! Im Namen Satans, seist Du verflucht."

Der Mann musste nach der Beschreibung Vater Ara sein. Doch im Schlafanzug wirkte er nur begrenzt bedrohlich.
Er hielt sie scheinbar für eins seiner Opfer.
Yukiko fing an zu lachen, ob aus Hysterie oder auf Grund der abstrusen Situation wusste sie selbst nicht. "Das ist ein Staubsauger, was soll das?"
Der Mann fuchtelte mit der Düse des Staubsaugers herum. "Das ist ein Seelensauger."
Yukiko kicherte. "Meine Urgroßmutter hat immer noch einen besessen, als ich ein kleines Mädchen war."
Der Mann lachte nicht mit, er zog eine wirkliche Waffe. Yukiko versuchte auszuweichen, aber der Mann versperrte ihr den Weg.
Doch auf einmal sackte der Mann zusammen.

Nun sah Yukiko hinter dem Mann ihre Freundin. Dr. Lara Jones hatte nicht lange gezögert, als sie Stimmen hörte, sie hatte sich von hinten angeschlichen und ihm eine Spritze mit einem Betäubungsmittel verabreicht. Lara stieß Yukiko leicht besorgt an. "Alles OK?"
Yukiko nickte.
Lara wies auf die letzten Räume. "Wir müssen weiter machen, bevor noch jemand kommt. Wir müssen die Gläser finden."
Yukiko sah, dass ihre Freundin besorgt um sie war, sie spürte, dass ihre Knie noch etwas weich waren, aber es ging.

Nach kurzer weiterer Suche fanden sie die beschrifteten Gläser mit den ausgesaugten Seelen und eine Kartei mit Namen in einem Abstellraum unter einem Treppenaufstieg.
Lara deutete zurück in die Halle. Im Dunkeln sah Yukiko einen kleinen Lastgleiter.
Lara Jones schloss ihn kurz. Yukiko sah ihre Freundin mit offenem Mund an. "Wo hast Du denn das gelernt?"
Lara antworte nur kurz und ihr Blick wurde wieder dunkel. "Früher."
Yukiko sah sie an. "Was war früher?"
Lara antwortete ihr mit ihrem typischen Lächeln. "Du weißt doch, jede Heldin hat ihre tragisches Geheimnis.
Aber das wird frühestens in Band 10 gelüftet.
Außerdem haben wir keine Zeit. Wir müssen uns beeilen."

Eilig luden sie alles auf.

Als sie das große Hallentor öffneten, begriff Yukiko, wieso Lara es so eilig gehabt hatte. Sie waren nicht mehr allein.

Zwei schnelle Gleiter mit schwarz gefärbten Kuppeln, die aussahen, wie Fahrzeuge aus einer alten 3D-TV-Serie, versperrten ihnen den Weg.
Da kamen sie unmöglich durch. Doch Lara zog einfach den Beschleunigungs- und Steuerungshebel ganz durch.
Es krachte, Yukiko wurde in den Sitz gepresst.
Hinter sich hörte sie ein Klirren. "Die Gläser", schrie sie, "die Gläser!"
Aber Lara kümmerte sich nicht darum.

Zwar war der Lastgleiter zwischen den dunklen Gleitern hindurch gekommen, doch nun zog er immer leicht nach links, eine der Steuerdüsen war beschädigt. Und die schnellen schwarzen Gleiter folgten ihnen.
Lara machte ein Vollbremsung.
Wieder klirrte Glas. Yukiko schüttelte nur resigniert den Kopf. Wozu hatten sie die Gläser hier heraus geholt, wenn sie nur noch mit Glasbruch nach Hause kommen würden. Doch sie sah im Dunkel des Fahrzeugs, dass Lara nicht ansprechbar war.

Dr. Lara Jones war ganz auf das Fliegen und ihre Verfolger konzentriert. Durch die Vollbremsung waren ihre Verfolger an ihnen vorbei geflogen.
Lara nutzte die Gelegenheit, um in einem alten Abwasserschacht zu verschwinden. Sie flog mit hoher Geschwindigkeit in das dunkle Loch.
Yukiko hoffte, dass der Schacht auch weiter im Inneren breit genug bleiben würde und überlegte sich, ob nicht etwas religiöser Wahnsinn angebracht wäre. Ein bisschen Beten wäre jetzt nicht schlecht, dachte sie. Sie hörte den Gleiter an der linken Schachtwand entlang scharren.
Dann tauchte auch noch ein Gitter vor ihnen auf.
Yukiko schloss die Augen.
Doch der Lastgleiter riss es mit einem Ruck einfach aus der Verankerung.
Wieder klirrten Gläser oder vielleicht auch nur noch Scherben.

Irgendwann nutzt Lara einen nach oben führenden Schacht um wieder aufzutauchen.

Sie waren jetzt am Fluss.

Die schwarzen Gleiter waren nirgends zu sehen. Lara Jones flog den Gleiter zur Praxis.
Sie sah Yukiko mit zufriedenem Grinsen an. "Na, wie war das?"
Yukiko befühlte ihre Knochen, dann wies sie mit dem Kopf nach hinten.
Erst jetzt sah Lara Jones die Scherben und fluchte den Rest des Fluges laut vor sich hin.

Dr. Lara Jones versteckte den Lastgleiter in der zur Praxis gehörenden Tieffluggarage. Dann besah sie sich zusammen mit Yukiko den Schaden.
Yukiko seufzte. "Da ist nicht viel übrig geblieben."
Lara sah angestrengt auf die Scherben. "Die Betroffenen bekommen einen psychotischen Schub, wenn sie das sehen.
Die nächsten Jahre werde ich ausschließlich mit der Behandlung dieser Leute beschäftigt sein."
Aber da erinnerte sich Yukiko an etwas und lächelte. "Sie müssen es ja nicht sehen. Ich mach das schon.
Ich weiß schon, was ich tue.
Ruf Du die Opfer aus der Kartei an und mach die Termine klar. Ich kümmere mich darum, dass für alle ein Glas mit Seele vorhanden ist."

Lara und Yukiko schliefen beide in der Praxis. Einmal um die Praxis zu bewachen und außerdem wollten sie so schnell wie möglich die Seelen an ihre Besitzer zurück überführen.
Nach wenigen Stunden Schlaf standen sie wieder auf und machten sich frisch.
Lara war wenig begeistert, als sie in den Abstellraum sah, in dem sie die Gläser abgestellt hatten. "Zwei Drittel der Gläser sind zerstört."
Sie sah Yukiko fragend an. Doch Yukiko lachte nur. "Ich mach das schon."
Dann verließ sie die Praxis.

Dr. Jones telefonierte die Kartei durch. Zuerst hatte sie Schwierigkeiten, alle zu erreichen. Doch sobald sie die gestohlenen Seelen mit dunkler Stimmer erwähnte, konnte sie die Leute nur mit Mühe abhalten, sofort vorbei zu kommen. Sie bestellte die Opfer ab Mittag, im Viertelstundentakt.
Und Yukiko hatte tatsächlich für jede und jeden ein mit Namensschild gekennzeichnetes Glas.
Nur, dass ein Teil der Gläser verdächtig anders aussah als der Rest.

Lara Jones untersuchte das lieber nicht genauer, ihre Glaubwürdigkeit hätte sonst gelitten.

Ab 12.30 Uhr kamen die Opfer pünktlich im Viertelstundentakt, auffällig unauffällig versuchten sie in die Praxis hinein und hinaus zu gelangen. Dr. Lara Jones begrüßte die Opfer kurz, erklärte sehr kurz die Situation und gab ihnen dann das jeweilige Einmachglas plus einem Inhalationsgerät, dass sich auf dem Glas befestigen ließ. Auf diese Weise konnten die Opfer ihre Seele wieder einsaugen. Sie versicherte Allen gegenüber ihre ärztliche Schweigepflicht.
Yukiko beobachtete im Vorzimmer grinsend die Opfer, die überglücklich aus der Praxis herauskamen.
Einige hüpften regelrecht vor Glück.
Am Abend waren alle Seelen an ihre Besitzerinnen und Besitzer zurück überführt worden.

Am nächsten Mittag traf sich Yukiko mit ihrer Freundin Dr. Lara Jones im CafĂ©. Yukiko lachte. "Weißt Du, dass alle Namensschilder auf den Gläsern durcheinander geraten sind. Außerdem musste ich Rund zwei Drittel der Gläser durch alte Gläser aus dem Keller meiner Großmutter ersetzen."
Lara seufzte. "Das will ich gar nicht wissen. Erzähl es niemanden, sonst bekomme ich viel zu tun."

Yukiko sah Lara an. "Ist so etwas ein normaler Arbeitstag bei Dir?"
Lara Jones trank ihren Latte macchiato und entspannte sich. "Nein, zum Glück nicht. Aber ab und an ist es notwendig pragmatisch zu agieren. Und einige solcher Fälle gab es schon früher." Sie dachte zurück. "Da gab es zum Beispiel diesen Fall mit der Karmawaschmaschine, ... ."


FIN


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Yuriko Yushimata


Früher

Der Blick des alten Mannes war auf eine weit entfernte Welt in seiner Erinnerung gerichtet. "Früher wurden die Statuen noch richtig aus Stahl und Beton gebaut. Zur Zeit meines Großvaters wurden die Statuen für die Ewigkeit errichtet."
Anuka sah bei diesen Worten ein Glänzen in den Augen des alten Mannes.

Sie hatte eine Weile gebraucht, um ihn zu diesem Interview zu bewegen. Aber nun erzählte er mit Begeisterung.
Anuka schrieb ihre Abschlussarbeit über die Geschichte des zeitweise bekanntesten polnischen Industriebetriebes.
Der alte Mann hatte sein Leben lang dort gearbeitet, fast bis zur Schließung.

Der alte Mann redete sich in Rage. "Damals, im 20ten Jahrhundert zur Zeit meines Großvaters war das Werk Teil eines großen Kombinats und nur ein Betrieb unter vielen.
Aber damals wurde dort noch richtig mit Stahl und Beton produziert."

Anuka unterbrach den alten Mann mit einem entschuldigendem Lächeln."Aber Sie sind erst 2010 als Lehrling in das Werk gekommen?"
Der alte Mann nickte, sein Blick schien jetzt nach Innen gerichtet zu sein. "Ja, da fingen die neuen Produktionslinien an. Das Werk war nach dem Untergang des Sozialismus beinahe Bankrott gegangen.
Kein Bedarf mehr für Stalin- und Lenin-Statuen.
Viele der Statuen wurden sogar zerschlagen, eine Kulturschande. Diese Statuen waren für die Ewigkeit gebaut.
Und über die Taliban, die die Buddhas gesprengt haben, haben sich alle aufgeregt.
Mein Vater hat das miterlebt.
Unsere Familie hat über drei Generationen im Werk gearbeitet, mein Großvater, mein Vater und ich."

Der alte Mann schüttelte erbost den Kopf. "Mein Vater musste Ende der 90er Jahre des 20ten Jahrhunderts sogar Gartenzwerge produzieren für den deutschen Markt, nur weil die Leute keine Stalin- und Lenin-Statuen mehr haben wollten.
Eine Schande."
Er trank einen Schluck Tee. "Erst 2010 kam der erste neue Großauftrag: eine Christus-Statue in Polen, höher als die in Rio.
Aber das war erst der Anfang.
Und im gleichen Jahr habe ich dann dort angefangen."

Der Alte räusperte sich.

Anuka sortierte ihre Unterlagen, sie wollte mehr über die jüngere Geschichte wissen. Sie ergriff die Gelegenheit für eine gezielte Frage. "Was war das Besondere an der neuen Produktlinie?"
"Der Christus war noch aus Stahl und Beton, aber dann kamen die neuen Steingussstoffe. Dadurch konnten die Kosten für Statuen erheblich verringert werden. Die Statuen wurden nun mit einem identischen Kern produziert, nur der Mantel machte den Unterschied aus, ob Lenin, Christus, Madonna oder PokĂ©mon.
Obwohl - Lenin-Statuen wurden gar nicht mehr verkauft. Die liefen nicht mehr.
Und die Statuen wurden viel leichter.
Und mit den Stimmengewinnen der neuen christlichen Parteien in Europa wurden Christus-Statuen immer beliebter. Zwischen 2010 und 2030 hat das Werk über 100 große Christus-Statuen produziert und zusätzlich noch einige schöne große Madonnen-Statuen.
Parallel kam dann in Frankreich die neue nationale Bewegung auf, und wir haben dann auch viele Jeanne d'Arcs nach Frankreich verkauft." Die Augen des Alten leuchteten. "Das war eine gute Zeit für den Betrieb."

Anuka sah den Alten fragend an. "Aber das Hauptgeschäft wurde doch mit PokĂ©mon-Statuen gemacht?"
Der Alte nickte und wiegte den Kopf. "Das stimmt, aber die PokĂ©mon-Statuen wurden erst nur für den Weltmarkt produziert."

Anuka blätterte ihre Notizen um. "Wie groß waren die Statuen?"
Der alte Mann lachte. "Oh, die wurden immer größer. 2010 fing es bei 50 Metern an mit der Christusfigur in Polen. 2020 lag der Durchschnitt schon bei 100 Metern.
In Paris wurde 2023 eine 150 Meter hohe Jeanne d'Arc aufgestellt.
Vom Kern her waren alle diese Figuren, mit Ausnahme der ersten Christus-Statue 2010, vollkommen identisch nur die eine halt etwas größer als die andere.
Die Leichtbauweise war damit in der Höhe aber noch nicht ausgereizt.
Die nächst höhere Figur war dann 2028 ein PokĂ©mon mit einer Höhe von 220 Metern, das wir zur zweiten in Hannover stattfindenden Weltausstellung liefern mussten
Die Hannoveraner haben sich zuerst alle beschwert, aber heute ist es ihr ganzer Stolz.
Und für das Werk war es der Durchbruch für den Verkauf von PokĂ©mon-Statuen auch in Europa." Der alte Mann strahlte, als er sich erinnerte. "In Hannover war ich sogar bei der Aufstellung der Statue dabei."

Noch einmal unterbrach Anuka den alten Mann mit einer entschuldigenden Geste. "Doch dann kam ja die große Krise?"
Der Alte blickte düster. "Ja mit der großen europäischen Wirtschaftskrise 2037 brach mit einem Schlag der europäische Markt weg.
Und, was noch schlimmer war, die Städte verkauften zum Teil ihre gebrauchten Statuen zu Schleuderpreisen.
Teilweise wurde einfach der Mantel ausgetauscht und aus einer Christus-Statue in Barcelona wurde ein PokĂ©mon im Vergnügungspark in Singapur."

Anuka schenkte dem alten Mann noch eine Tasse Tee ein. "Und wie kam dann die Idee mit der Nanoemulsion auf?"
Der Alte grinste. "Der Werksleiter damals war ein ganz schlauer Fuchs.
Er hat selbst die alten Statuen zurückgekauft und sie mit neuem Mantel als neu verkauft.
Das Problem war nur, dass der Markt für Statuen gesättigt war. Nur im arabischen Raum hatte das Werk bis dahin keine Statuen verkauft.
Von Mohammed dürfen ja keine Bilder erstellt werden.
Doch dann ergab sich die Möglichkeit, mit Hilfe der Nanoemulsion die Statuen unsichtbar zu machen.
Und unsichtbare Mohammed-Statuen, das war das Ding.
Die erste unsichtbare Mohammed-Statue wurde nach Kairo verkauft, nur 40 Meter hoch. Das war eine umgebaute Madonnen-Statue aus Tschenstochau, die die Gemeinde aus Geldmangel verkaufen musste.
Die wurde ein bisschen abgefräst mit arabischen Schriftzeichen aus dem Koran versehen und dann mit Nanoemulsion überzogen und unsichtbar gemacht.
Und schon war aus der Madonna aus Tschenstochau ein unsichtbarer Mohammed geworden."

Anuka wirkte etwas irritiert. "Wurden noch mehr christliche Statuen islamisiert?"
Der alte Mann zuckte mit den Schultern. "Ich weiß nicht genau, aber ich glaube, das war eher die Ausnahme. In der Regel wurden für die unsichtbaren Mohammed-Statuen alte PokĂ©mon-Statuen recycled.
Die waren auf Grund der Form einfach besser zu verarbeiten.
Die große 330 Meter hohe, unsichtbare Mohammed-Statue in Abu Dhabi, die höchste unsichtbare Mohammed-Statue der Welt, ist vom Kern der PokĂ©mon aus der Londoner City.
Aber auch das ist ja jetzt vorbei."

Der alte Mann war in sich zusammengesunken. Anuka sah den Alten mitfühlend an. "Wieso ist dieser Markt zusammengebrochen?"
Der Alte sah müde aus dem Fenster in die nasse Kälte des Herbstes, seine Augen wirkten trüb. "Die unsichtbaren Mohammeds erwiesen sich als Gefahr für den Luftverkehr und dazu kam dann noch die Abkehr vom Islam im arabischen Raum.
Aber da war ich schon nicht mehr im Betrieb, als er geschlossen wurde."


FIN


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Yuriko Yushimata


Der Heilige Geist

In der Nacht kam der heilige Geist über sie. Sie spürte wie er ihr zwischen die Beine fuhr.
Sie schrie. "Nein, Nein, ich will nicht!"
Doch es half nichts. Die Engel flöteten. "Gelobt sei der Herr, ein Kind wirst Du ihm gebären."
Sie schlug nach ihnen.
Einen der Engel erwischte sie mit einer übergroßen Fliegenklatsche. Doch der tote Engel bekam nur Hörner und stach mit einer Mistforke nach ihr.
Wie sollte sie das alles Robert erklären?
Schweißgebadet wachte sie auf. Ein Alptraum.
Nicht ohne Grund.
Sie war völlig zerschlagen.

Sie durchwühlte die Badezimmerschubladen. Irgendwo musste sie noch einen Schwangerschaftstest haben und es war lange genug her.
Dann fand sie ihn.
Sie schloss sich auf dem WC ein. Sie zitterte.
Vielleicht hatte der Traum ja eine Bedeutung, vielleicht wusste ihr Körper Bescheid.
Es durfte nicht sein.
Dann das Ergebnis. Negativ, negativ! Sie war zu erschöpft um erleichtert zu sein. Sie hätte sich immer noch ohrfeigen können.
Nie wieder, nie wieder, würde sie bei einem One-Night-Stand auf Verhütung verzichten.

Sie hatte einfach zu viel getrunken gehabt, aber auch das war keine Entschuldigung.

Außerdem, was für ein Scheißtyp, der hätte doch auch dran denken können.


FIN


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Yuriko Yushimata


Das einzig wahre MohaMETT

- Es gibt nur ein MohaMETT
und Achmed Salah ist sein Produzent -

Ilta betrachtete stolz das riesige Plakat auf dem Vorplatz der großen Moschee.

Überall in der arabischen Welt hatte gestern die Werbekampagne für die Fast-Food-Kette Achmed Salah begonnen. Auf den Plakaten waren junge Araber und Araberinnen abgebildet, die herzhaft in das einzig wahre MohaMETT bissen.
Ihr gegenüber in der Teestube saßen ihr japanischer Kollege Takuya und ihre finnische Kollegin Maiju.
Zusammen hatten sie diese Werbekampagne entwickelt.

Maiju schüttelte besorgt den Kopf. "Ich glaube, die Kampagne wird missverstanden"
Takuya nickte. "Heute Morgen wurden bereits Plakate in Mekka verbrannt."
Ilta war nicht bereit so schnell aufzugeben. Sie lachte. "Ach, Anlaufschwierigkeiten. Die Kampagne muss nur lange genug laufen."
Maiju widersprach ihr. "Ich befürchte, die Lage spitzt sich eher zu. Im Iran hat ein Großajatollah dazu aufgerufen, die Geschäfte von Achmed Salah zu boykottieren.
Ich war ja gleich skeptisch was den Begriff MohaMETT angeht.
Diese Gesellschaften sind einfach noch nicht so weit."
Takuya sah auf. "Aber Dein Vorschlag, die neuen Fleischwaren Ajatollahhack zu nennen, hätte nur im schiitischen Raum Sinn gemacht. Und erst Recht die Idee mit den Khomeinihaxen.
Die sunnitischen Absatzgebiete sind aber für Achmed Salah genauso wichtig."
Maiju seufzte. "Sicher, ich weiß. Aber Ajatollahhack oder Khomeinihaxen wären viel unproblematischer zu bewerben gewesen. Schließlich lieben die Deutschen auch ihren Kaiserschmarrn und ihre Bismarckheringe.
Zumindest im Iran wären Khomeinihaxen eine sichere Wahl gewesen."

Ilta schüttelte den Kopf. Sie trank einen großen Schluck Tee. "Ihr seid zu pessimistisch. Auch als wir in den USA den Jesusburger eingeführt haben, gab es zuerst Proteste.
Das in Form eines Jesus am Kreuz geformte Pressfleisch erschien einigen Christen blasphemisch.
Aber nachdem die Burger-Kette einen Exklusivvertrag mit einer der großen evangelikalen Kirchen der USA abgeschlossen hatte und zugesagt hatte, auf jeder Burgerverpackung die christliche protestantische Lehre weiterzuverbreiten und 15% der Zeit christliche Musik zu spielen, beschloss die Bischofskonferenz, dass das Pressfleisch das Fleisch des Leibes Christi symbolisieren würde.
Und inzwischen wird der Jesusburger von der Mehrheit der evangelikalen Kirchen als Abendmahl anerkannt."

Diesmal stimmte Takuya, der auch Tee trank, ihr zu.

Maiju war immer noch beunruhigt, ihre Gedanken schweiften ab. Sie erinnerte sich bei der Nennung des Jesusburgers an einen absurden Alptraum, den sie damals gehabt hatte.
In diesem Traum hatte die Katholische Kirche, als Reaktion auf den evangelischen Jesusburger, in Zusammenarbeit mit einem BIOTECH-Unternehmen einen Burger mit dem Namen MacMarie auf den Markt gebracht, einen Burger, der, belegt mit einem lebenden Fötus, für die Einleitung einer Schwangerschaft nur ganz verschlungen werden musste. Dadurch sollten alle Katholikinnen in die Lage versetzt werden, jungfräulich zu gebären.
Aber dann waren in ihrem Traum reihenweise Männer schwanger geworden, weil auch sie diese Burger gegessen hatten. Auch ihr damaliger Freund kam mit einem Bauch nach Hause.
Und der Bauch wurde immer größer und größer.
Dann war sie zum Glück aufgewacht.
Sie fuhr sich durch das Haar und wischte die Gedanken bei Seite und konzentrierte sich wieder auf das Gespräch am Tisch.

Ilta begutachtete in einem Taschenspiegel ihr Make-up. "Und China hat mit diesen Marzipanbuddhas mit beiliegenden buddhistischen Mantren inzwischen sogar die ganze Welt erobert."

Maiju war immer noch nicht überzeugt. Sie sah noch mal die aktuellsten Nachrichtenmeldungen auf ihrem Handy durch. Sie spürte, dass ihr kalt wurde.
Sie sah die anderen beiden besorgt an. "In Kairo wurde die Firmenzentrale von Achmed Salah angegriffen, es gab einen Schwerverletzten. Und im Irak hat ein Mullah unseren Tod gefordert, es wurden Fotos von uns im TV ausgestrahlt." Sie hatte Schwierigkeiten ihre Hände ruhig zu halten, sie zitterte, und nun sah auch Ilta beunruhigt aus. Ilta hatte ihre Augenbrauen zusammengezogen. "Diese Araber sind einfach zu weit zurück.
Ich glaube, wir sollten doch lieber aufbrechen, bevor uns jemand erkennt."

Bald darauf saßen alle Drei im Flugzeug nach Frankfurt. Maiju sah auf die Wolken, ihr Gesicht war blass. Takuya schlief. Nur Ilta war schon wieder am Arbeiten, ihre schlanken Finger glitten fast lautlos über die Tastatur.
Sie hatte ihr Laptop auf den Knien und arbeitete an einer kurzen Filmsequenz.

Nach einer Weile sah Maiju Ilta, mit der sie trotz aller Unterschiedlichkeiten auch befreundet war, über die Schulter. "Was ist das?"
Ilta startete den Film erneut. "Ach, nur ein kurzer Werbespot für eine deutsche Baumarktkette."
Sie drehte den Bildschirm so, dass Maiju ihn gut sehen konnte.

Im Bild erschien ein Double des Papstes schwebend über einer Filiale der Baumarktkette. Segnend bewegte der Papst die rechte Hand.
Aus den Lautsprechern des Laptops erklang eine Stimme, die der des derzeitigen Papstes aufs I-Tüpfelchen ähnelte.
"Urbi et OBI."


FIN


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Yuriko Yushimata


Biologischer Humanismus

Es war das Jahr der Tankleber mit Himbeergeschmack. Zumindest nannte ihre große Schwester dieses Jahr so.
Sivi hatte noch die Stimme ihres Vaters im Ohr. "Deine Schwester ist in einer schwierigen Phase. Hör nicht auf sie."

In der Schule hatte die Lehrerin ihnen erklärt, warum Tankleber und Designfleisch viel gesünder und vernünftiger waren als die Nahrung in alten Zeiten. "Früher haben die Menschen Fleisch von Tieren gegessen. Die Tiere wurden auf grausame Art zusammengepfercht und geschlachtet."
"Die Menschen haben tatsächlich Fleisch von lebenden Tieren gegessen?"
"Ja, blutiges, matschiges, mit Keimen verseuchtes Fleisch. Häufig übertrug das Fleisch Krankheiten und die Qualität des Fleisches war großen Schwankungen unterworfen."
Die Lehrerin zeigte Bilder von geköpften Schafen, Maden verseuchtem Fleisch und schwerkranken Menschen. Aus dem Lautsprecher waren die Todesschreie der Tiere zu hören.
Dann fuhr sie fort. "Erst seit der Entwicklung sich selbst vermehrender Leberzellen und der Möglichkeit, Designfleisch mit Hilfe von Tissue Engineering in großen Industrieanlagen herzustellen, konnte die Eiweißversorgung der Menschen auf hohem Niveau mit gleichbleibender Qualität sichergestellt werden."

Sivi begriff damals nicht, was die Worte Tissue Engineering bedeuteten, aber das war wohl auch nicht wichtig. Wichtig war, dass es heute in jedem Supermarkt Tankleber der drei großen Lebensmittelkonzerne in unterschiedlich Geschmacksrichtungen und Formen und außerdem am Fleischautomaten Designfleisch nach Wahl in gewünschtem Zuschnitt und in zwölf verschiedenen Sorten gab.

Ihre Schwester machte sich jedes Jahr über die neuen Lebergeschmacksrichtungen lustig und hatte damals begonnen, die Jahre nach der meistbeworbenen Tanklebersorte des Jahres zu benennen.
So war das Jahr der Tankleber mit Himbeergeschmack auf das Jahr der süßsauren Tankleber mit einem Hauch von Lachsaroma gefolgt.

Ihr Vater fand das nicht witzig, wütend brüllte er Sivis ältere Schwester zusammen. "Möchtest Du lieber wieder, Tiere schlachten und biologisch verseuchtes Fleisch in Dich hinein stopfen?
Aber Du findest es wahrscheinlich cool, Tiere zu quälen, oder wie nennt Ihr das?"

Ihre ältere Schwester schwieg, bis ihr Vater das Zimmer verlassen hatte. Dann schaute sie Sivi an. "Wusstest Du, dass kleine Kinder davon träumen, ihre Mutter zu verschlingen?
Die psychoanalytische Theorie besagt, dass sie sich die übermächtige Mutter einverleiben wollen, es ist Begehren, nicht Hass. Aber vernünftige Menschen begehren nicht."
Sie schnaubte durch die Nase, dann umarmte sie Sivi. "Aber dafür bist Du zu klein."

Sivi hatte nichts erwidert, aber die Worte hatten sich ihr eingeprägt und sie wusste, dass die psychoanalytische Theorie etwas Altes und Ungehöriges war, aus der Zeit vor dem biologisch humanistischen Umbruch.

Im Ethikunterricht lernte sie dann die Regeln des biologischen Humanismus. "Früher hingen Menschen allem möglichen obskuren Aberglauben an. Das wurde Religion genannt.
Heute richten wir uns nach den Regeln der biologisch humanistischen Vernunft. Der Mensch ist nichts anderes als ein hochentwickeltes Tier, aus diesem Wissen resultiert die biologisch humanistische Ethik.
Als Tiere mit Verstand und Empathie sollten wir keine Tiere essen. Als Tiere sollten wir den Kreislauf des Lebens akzeptieren und die Regeln der Biologie nicht missachten.
Früher haben die Menschen sogenannte Haus- und Nutztierrassen gezüchtet, nicht überlebensfähige Tierrassen, die nicht mehr in der Lage waren, für sich selbst zu sorgen. Das war falsch und grausam.
Jedes Tier muss in der Lage sein, sich selbst zu erhalten, sonst führt dies langfristig zum Niedergang der ganzen Art."

Dann hatten sie am Tag der Erinnerung einen der großen Tierfriedhöfe besucht. Nach dem Umbruch zum biologischen Humanismus hatten die Menschen an diesen Stellen alle Haus- und Nutztieren zusammen getrieben, hier waren sie gestorben. Die Gebeine wurden zu riesigen Knochenbergen zusammen geschoben, von Abertausenden von Skeletten, zur Mahnung und zur Erinnerung an die Grausamkeiten früherer Zeiten.
Von den Haus- und Nutztierrassen hatte keine überlebt.
Die Tiere waren allein nicht überlebensfähig gewesen.

Sivi erinnerte sich so genau an diesen Tag, weil es auch der Tag des Abschieds von ihrer Oma gewesen war. Ihre Oma hatte diesen Tag für ihre Entscheidung der Vernunft gewählt.
Sivis Eltern beglückwünschten sie dazu, wie es sich gehörte, und es gab eine große Feier.
Obwohl alle, außer Sivis großer Schwester, lachten und tanzten, fühlte Sivi sich elend.

Ihr Vater nahm sie beiseite und umarmte sie. "Du musst nicht traurig sein, Kleine. Oma hat sich frei entschieden und das ist gut. Früher haben die Menschen gewartet bis sie langsam und qualvoll verendet sind. Das war für sie grausam und für ihre Verwandten und die, die sie geliebt haben, eine große Belastung. Heute gehen wir den Weg der Vernunft. Wenn Menschen merken, dass sie nichts mehr beitragen können, entscheiden sie sich, zu gehen, freiwillig.
Niemand wird dazu gezwungen, allerdings fördert die Gesellschaft auch nicht mehr sinnloses Elend, wie sie es früher getan hat.
Das ist ein großer zivilisatorischer Fortschritt.
Sicher gibt es Unbelehrbare, die ihre Kranken und Alten weiter versorgen und davon abhalten, zu gehen.
Aber würdest Du wollen, dass wir Oma so etwas antun?
Schau doch, wie Oma lacht."
Sivi hatte damals unter Tränen zu ihrer Oma geblickt und den Kopf geschüttelt, war dann aber aus dem Saal gerannt.

Es war das letzte Mal, dass sie ihre Oma sah.

Das war der Weg der Vernunft. Für alte Menschen, die Probleme damit hatten loszulassen, gab es spezielle therapeutische Beratungen.

Ihre Eltern gaben sich alle Mühe, sie hatten doch schon bei der älteren Schwester versagt, doch auch aus Sivi wurde eine unvernünftige Jugendliche.

Und dann, was ihre Eltern nie akzeptieren konnten, wurde aus ihr auch noch eine unvernünftige Erwachsene.


FIN


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Yuriko Yushimata


Die Wilden Männer trommeln wieder

"Denk daran, den Müll mit runter zu nehmen." Die Stimme von Petra, seiner Frau, riss Jens aus seinen Gedanken.
"Ja, ich muss los, Tschüss!" Irgendwas machten die Männer heute falsch.
Er warf sich den Rucksack mit dem daran festgebundenen Schlafsack über die Schulter und verschwand schnell durch die Wohnungstür.
Den Müll ließ er bewusst stehen, ein kleines bisschen männliche Selbstbehauptung.

Unten auf der Straße warteten schon Uwe und Karl mit dem alten Volvo. Uwe bekam eine Glatze, ging es Jens auf einmal durch den Kopf. Sie wurden alle älter, obwohl sie das nie untereinander erwähnten. Er selbst hatte in letzter Zeit immer häufiger Magenschmerzen, zum Arzt ging er aber nicht. Karl war wie immer etwas zu braungebrannt, doch auch Bodybuilding und Solarium hinterließen auf Dauer Altersspuren. Seine Haut wirkte an einigen Stellen wie zerknittertes und wieder glatt gestrichenes Papier.
Uwe würde fahren, Karl saß auf dem Beifahrersitz.

Jens warf seinen Rucksack hinten ins Auto und setzte sich auf die Rückbank. "Mein Gott, lasst uns abhauen." Wieder einmal wurde ihm bewusst, dass er einen Bauch bekam - hatte, würde Petra sagen.
Karl öffnete ihm eine Flasche Bier und reichte sie nach hinten. "Hier, trink erst mal was."
Jens nahm einen langen Zug. Er sah, wie Uwe lachend auf die Hupe drückte, um eine alte Oma zu erschrecken. Die alte Frau ließ beinahe ihre Tasche fallen.
Uwe grinste.
Karl lachte, er wandte sich Jens und Uwe zu. "Los, lasst uns losfahren. Raus aus diesem Zivilisationsmüll."
Uwe trat das Gaspedal durch. Für einen Kickstart war der Volvo aber nicht geeignet.
Sie waren jetzt alle in den Vierzigern und kannten sich seit der Schulzeit. Jens spürte seinen Magen, er ignorierte das.

Die ganze Zeit während sie fuhren erzählte Karl zotige Witze. Jens bemerkte, dass die meiste Zeit Karl der einzige war, der über seine Witze lachte, dafür lachte Karl um so lauter.
Jens trank zwei weitere Bier, um in die richtige Stimmung zu kommen. Aber irgendwie wirkte das Bier nicht richtig. Ihm war hundeelend. Die Magenschmerzen nahmen zu.
Karl brüllte gerade. "Heute Nacht lassen wir die Wildsau raus, ohne die Weiber!"
Uwe wandte sich an Karl. "Hast Du die Trommeln mit?"
Karl wippte mit dem Kopf. "Klar, was denkst Du denn. Denkst Du, ich bin schwul?" Dann hielt er Uwe ein Bier hin, doch Uwe winkte ab. "Ich muss mich auf das Fahren konzentrieren."
Karl zwickte Uwe in die Seite. "Eiteitei, - was bist Du denn für eine. Komm eins geht."
Uwe lachte gezwungen und nahm das Bier. Karl strich ihm über die Halbglatze. Uwe stieß die Hand weg. "Lass das!"
Er gab noch etwas mehr Gas.

Sie waren jetzt auf einer Landstraße. Immer, wenn sie andere Autos überholten, prosteten sie den Fahrern und Fahrerinnen zu. Bei Frauen am Steuer schnitt Karl zusätzlich Grimassen.
Jens wurde immer elender, das Bier schien in seinem Magen überzulaufen. Irgendwann konnte er nicht mehr. "Halt an!"
Uwe sah durch den Innenrückspiegel zu ihm hin. "Was ist denn los?"
"Ich muss kotzen."
"Ach, scheiße, nicht ins Auto."
Quietschend hielt der Volvo am Straßenrand. Jens stürzte raus und übergab sich auf dem Randstreifen.
Karl und Uwe lachten. "Na, durftest Du gestern noch Deine Alte auslecken?"
Jens spürte den sauren Geschmack von Erbrochenem im Mund. Sein Magen spielte immer noch verrückt. Er setzte sich wieder auf die Rückbank und schlug die Wagentür zu. "Haltet die Schnauze und fahrt."
Karl sah Uwe an. "Oouh, Vorsicht der Kleine wird sonst gefährlich."
Uwe gab wieder Gas.
Dann erreichten sie ihr Ziel.
Der Volvo blieb auf dem Parkplatz.

Der Wald war dunkel und alt. Bob hatte ihnen die Höhle eingezeichnet. Wenn sie zügig gingen, würden sie sie noch vor dem Abend erreichen.
Sie nahmen ihre Rucksäcke und ihre Schlafsäcke. Karl und Uwe trugen das Bier, dunkles Starkbier. Und Karl hing sich auch noch die Trommeln über die Schulter. Er ließ keine Gelegenheit aus, um mit seiner Kraft zu posieren. Uwe rülpste.
Die Luft an diesem Nachmittag stand feucht und stickig über dem erdigen Boden. Jens fragte sich, ob es noch ein Gewitter geben würde.
Karl hatte sein Hemd ausgezogen und es unter dem Bauch um die Hüfte gebunden. Interessiert sah Jens das auch Karl einen leichten Bauchansatz zeigte. Auf einmal begann Karl zu brüllen: "Huah, Huah, Huah, Huah!"
Uwe stimmte ein. Beide waren schon leicht angetrunken.
Jens hatte immer noch Magenschmerzen.
Uwe lachte. "Unser Gebrüll hört man sicher bis zur Autobahn."
Karl trommelte sich auf die Brust. "Noch viel weiter. Wir müssen den Viechern hier doch klar machen, dass ihre Herren zurück sind."
Er sah Jens an. "Vielleicht finden wir ja für Dich eine süße kleine Wildsau."
Jens sah ihn böse an. "Hältst Du mich für pervers?"
Karl legte den Arm um ihn. "Ah, das war doch nur Spaß, aber bei Deiner Petra kommste doch sicher zu kurz."
Jens lies ihn stehen und nahm sich trotz Magenschmerzen noch ein Bier.
Er spürte die Wirkung des Starkbieres massiv. Aber jetzt wurde es besser. Er stolperte halb über eine Wurzel.
Uwe drehte sich zu ihm um: "Pass auf, dass Du es noch bis zur Höhle schaffst."
Jens winkte ab: "Ha."

Als sie an der Höhle ankamen, frotzelte Karl weiter. Jens sah Karls grinsende Fresse zu Uwe hinüber schauen. "Schau mal was für ein Loch. Da muss der Kleine aufpassen, dass er nicht hineinfällt."
Jens wusste, dass er mit 'der Kleine' gemeint war. Aber in seinem Kopf schwamm gerade alles.
Uwe nickte anerkennend. "Da hat ein Riesenpimmel den Berg gefickt."
Jens sah, wie Karl mit geschwollener Brust einen Stein in die Höhle kickte. "Schaut Euch diese Riesenmöse an. Heute Nacht, zeigen wir ihr mal, was richtige Männer sind."

Sie richteten sich ihr Lager in der Höhle ein. Karl und Uwe schleppten Mengen an Brennholz an.
Jens baute den Grill auf und holte die harten Alkoholika aus den Rucksäcken.
Dann saßen alle am Feuer und aßen und tranken.

Jens spürte, wie Karl ihn boxte. "Ach, jetzt haben wir vergessen, so eine süße kleine Wildsau für den Kleinen mitzunehmen.
War da nicht im Wald vorhin eine?" Karl lachte. Jens sah, dass auch Uwe lachte. Gleichzeitig winkte Uwe ihm aber beruhigend zu und wandte sich zu Karl. "Komm, lass ihn in Ruhe, sonst wird er sauer."
Karl grinste. "Ich habe auch etwas viel besseres." Er zog irgendetwas aus Plastik aus der Tasche und hielt es in die Luft. "Eine Fickmatraze, jung und knackig. Die muss nur richtig aufgeblasen werden."
Uwe sah ihn entgeistert an. "Eine Gummipuppe, was willst Du denn damit?"
Jens schüttelte nur den Kopf.
Karl sah die beiden an. "Na, was denkt Ihr denn? Na, für unseren Marterpfahl."
Uwe nickte.

Beim Aufblasen der Gummipuppe ließ Karl es sich nicht nehmen, ausführlich sein Wissen über die weibliche Anatomie mit handfesten Griffen auszuführen.
Uwe holte die Körperfarbe raus. Sie hatten jetzt alle ihre Oberkörper entblößt und legten ihre Bemalung an. Jens sah das Uwe Hängebrüste bekam. Außerdem verschwand Uwe nun schon zum fünften mal im Wald um seine Blase zu erleichtern.
Karl befestigte die Gummipuppe an einem Holzpfahl und stellte sie in den Höhleneingang. Er bemalte sie noch etwas mit einem alten Lippenstift und verzierte sie zum Schluss noch mit alter Reizwäsche.
Uwe spottete: "Wem hast Du denn die geklaut?"
Karl tat geheimnisvoll: "Das wüsstest Du wohl gerne, was?"
Jens hatte die Trommeln bereit gemacht.

Dann begannen sie zu trommeln, die Sippe Drachentöter der Wilden Männer.
Auch Jens entspannte sich. Sie schlugen all ihren Frust in die Trommeln.
Karl hatte die Idee von einem Seminar mitgebracht, nach seiner Scheidung. Das Buch, das er mitgebracht hatte, hatten sie alle gelesen.
Überall existierten inzwischen die Sippen der Wilden Männer.
Stolz, ein Mann zu sein.

Uwe und Karl trommelten um die Wette. Die Höhle dröhnte und wirkte wie ein riesiger Schalltrichter, weit hallte das Trommeln.
Karl schrie: "Wir rufen die alten Götter vergangener Zeiten!"
Auch Jens lachte. Das Trommeln war laut Buch Teil eines alten Opferrituals. Vielleicht hatten auch schon früher, vor langer Zeit, Männer wie sie in dieser Höhle gesessen und getrommelt. Die Tiere des Waldes hatten dies sicher seit vielen Tausend Jahren nicht mehr gehört, schoss es ihm durch den Kopf und er fühlte sich das erste Mal an diesem Tag wirklich gut.

Die Trommeln dröhnten und ihr Schall pflanzte sich auch durch das Gestein fort.

Tief unten in der Erde traf die Schallwelle auf etwas Unbekanntes, etwas, was nicht aus Stein war. Ein Lebewesen, viel älter noch als die uralten Bäume im Wald. Und die Schallwellen brachen sich an dem riesigen klauenbewehrten Körper. Das Ragnur spürte zuerst nichts, doch dann wurde das Trommeln rhythmischer und der Schlaf des Ragnur wurde unterbrochen.
Das uralte Tier hörte die Trommeln nicht das erste Mal. Vor Tausenden von Jahren waren sie immer wieder ertönt, und sie hatten immer dasselbe bedeutet. Dann waren die Trommeln verstummt und das Ragnur hatte geschlafen, so lange.
Doch nun, da die Trommeln wieder ertönten, machte es sich auf den Weg. Die Bewegung des Tieres verschob das Gestein des Berges.

Karl lachte laut los. "Merkt Ihr das? Wir lassen sogar den Berg erzittern!"
Jens sah besorgt zur Höhlendecke, doch kein Stein löste sich.
Dann spürte auch er seine Blase, ausgerechnet jetzt. An sich war es untersagt das Trommeln zu verlassen, aber es ging nicht anders.
Er ging schnell weiter hinein in die Höhle, sonst hätte er an den anderen vorbei gemusst. Von dummen Sprüchen hatte er für heute genug.
Uwe und Karl grinsten, sie sahen ihn im Dunkel verschwinden.

Sie trommelten um so heftiger zu zweit. Das Trommeln wurde immer lauter.
Jens hatten die beiden für den Moment vergessen.

Auf einmal flog ein runder schmutziger Gegenstand an ihnen vorbei. Karl sah nur kurz auf. Offensichtlich hatte Jens eine Art Fußball gefunden. Doch dann stutzte er und auch Uwes Gesicht wurde bleich. Beide stellten fast gleichzeitig das Trommeln ein.
Es war der Kopf von Jens, der dort im Schmutz lag.

Nun hörten sie auch ein lautes schlurrendes Geräusch aus dem Inneren der Höhle hinter ihnen, und ein strenger fremdartiger Gestank nahm ihnen den Atem.
Doch es blieb ihnen keine Zeit zum Wundern oder auch nur um sich umzudrehen.
Ein Schmerz durchzuckte Karl, als ein riesiges Gebiss ihm einen Arm und die Schulter abbiss, er lachte kurz irre und fiel dann um.
Uwe traf eine Klaue und schälte ihm das Fleisch von den Knochen.

Das Ragnur war zufrieden. Die Trommeln hatten immer bedeutet, dass hier oben Futter bereitstand.
Früher nur war das Futter festgebunden gewesen an Pfählen und die Trommler hatten draußen vor der Höhle in sicherem Abstand gewartet, dass ihre Opfer angenommen wurden, von ihrem Gott.

Aber das Ragnur war nur ein Tier und ihm war das egal.


FIN


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Yuriko Yushimata


t_h_e_c_e_m_e_t_a_r_y.com

Lydia Bijou saß allein in dem abgesicherten Raum und sah noch einmal alle Unterlagen durch. Dieser Raum hier oben im 17. Stock des Innenministeriums war die letzten Monate ihr Arbeitsplatz als Sonderermittlerin und Vermittlerin im Fall t_h_e_c_e_m_e_t_a_r_y.com gewesen.
Nun, da sie die Akten endgültig schließen konnte, ging sie noch einmal alles durch. Nichts durfte davon nach außen dringen.

t_h_e_c_e_m_e_t_a_r_y.com, das größte und umsatzstärkste Unternehmen des Landes, musste geschützt werden, auch vor sich selbst. Nach dem Zusammenbruch der Automobilproduktion und dem Niedergang des Maschinenbaus gab es zu t_h_e_c_e_m_e_t_a_ r_y.com keine Alternative.
Die wichtigsten Rentenfonds des Landes hielten große Anteile an dem Unternehmen und auch Lydia Bijou selbst besaß einige Aktien des Unternehmens.
Das Unternehmen war unantastbar. Als die ersten Gerüchte aufkamen, hatte das Innenministerium deshalb sofort reagiert.
Als Sonderermittlerin musste sie nicht nur die Sachlage im Fall t_h_e_c_e_m_e_t_a_r_y.com klären, sondern ihre Aufgabe war es auch, Lösungsvorschläge zu erarbeiten und umzusetzen.
Und dabei gab es Lydia Bijou offiziell gar nicht.

Lydia Bijou ging ein letztes mal die Unterlagen durch. Sie besaß allein 4 Aktenordner zur Geschichte des heute größten Internetunternehmens der Welt.

t_h_e_c_e_m_e_t_a_r_y.com war 2011 als kleines Startup gegründet worden.
Ausgangspunkt der Unternehmensgründung war Gerüchten zu Folge eine Sciencefiction Kurzgeschichte, die wiederum auf einer noch 15 Jahre älteren Satire aus einer Unizeitung aus den 90er Jahren des 20ten Jahrhunderts basieren sollte. Aber Lydia Bijou hielt dies für einen Reklamegag der Marketingabteilung des Unternehmens.
Die Idee der Unternehmensgründer war einfach aber bestechend gewesen. Familien lebten zunehmend weit über den Globus verstreut. Friedhofsplätze wurden immer teurer. Und die wenigsten Menschen waren in der Lage, auch nur annähernd die Grabstätten zu finanzieren, von denen sie träumten. Häufig konnten nicht einmal die Kosten für den Erhalt der Grabstätten aufgebracht werden.
Die Lösung für all diese Probleme lag im Internet.

t_h_e_c_e_m_e_t_a_r_y.com bot virtuelle Grabmale an, mit unbegrenzter Laufzeit zu geringen Kosten.
Professionelle Kundenberater entwickelten zusammen mit den Kundinnen und Kunden virtuelle Beerdigungspaläste, Phantasiegrabstätten, die dann als virtuelle Familiengrabanlagen von einem professionellen Team von Programmierern und Programmiererinnen umgesetzt wurden.
Auch Mittelschichtsangehörige konnten sich heute ihr eigenes Taj Mahal leisten. Und auch ungewöhnliche Grabstättenwünsche, vom Grab im dreidimensional animierten Sonnenblumenfeld Vincent van Goghs, über Urnen in abstrakten graphischen Räumen, bis hin zum Grabmal in dreidimensional virtuell ausgestalteten Realitäten, die dem Lieblingscomics oder Lieblingsfilm nachempfunden waren, wurden auf Wunsch gegen Bezahlung durch die Spezialisten von t_h_e_c_e_m_e_t_a_r_y.com verwirklicht.

Und da im Cyberspace unendlich Platz war, konnte das Grabmal über Generationen hinweg genutzt werden und war beliebig ausbaufähig und wandelbar. Außerdem konnten zu Grabmalen verwandter Familien jederzeit Direktverbindungen ausgebaut oder auch wieder geschlossen werden.

Natürlich wurden auch einfache virtuell selbst gestaltbare Basisgrabstätten angeboten.
Und eine große gemeinnützige Stiftung finanzierte eine Gedenkstätte für namenlos Verstorbene.

t_h_e_c_e_m_e_t_a_r_y.com hatte innerhalb weniger Jahrzehnte die Beerdigungskultur radikal verändert.
Immer mehr reale Friedhöfe wurden geschlossen. Die Menschen ließen sich möglichst kostengünstig einäschern und die Asche wurde an unbekannter Stelle anonym zentral vergraben.
Die großen Städte gewannen so wertvolle innenstadtnahe Flächen für die Bebauung zurück.

Das Gedenken an die Menschen, an all die, die existiert hatten, fand heute auf t_h_e_c_e_m_e_t_a_r_y.com statt.
Hier trafen sich die global verstreuten Familien in den Chaträumen der Grabstätte ihrer Vorfahren. Hier konnten sie detailliert einsehen, wer ihre Vorfahren gewesen waren, wie sie gelebt hatten. Sie konnten sich die Lieblingsfilme ihres schon 70 Jahre toten Großonkels ansehen, die Lieblingsmusik ihrer leider schon zu früh verstorbenen Cousine oder eine Stimmaufzeichnung der Verstorbenen anhören. Hier fanden sie Familien- und Urlaubsfotos vergangener Zeiten.
Der Internetfriedhof erzählte den Menschen, woher sie kamen, und damit, wer sie waren.

t_h_e_c_e_m_e_t_a_r_y.com war heute der Platz, um Familienmitglieder wiederzufinden oder überhaupt Verwandtschaften festzustellen.
Inzwischen gab es spezielle Suchfunktionen dafür. Nutzer mussten nur den Verwandtschaftsgrad eintippen, z.B. Cousine 2ten Grades, und schon erhielten sie eine Liste mit E-Mail-Adressen, Fotos und weiteren Informationen zu ihren Verwandten.
Hier konnten sich auch Heiratswillige über die Familiengeschichte ihrer Partner informieren bevor sie in eine Verbindung einwilligten.

Im virtuellen Raum des Friedhofs konnten auch ungewöhnliche individuelle Wünsche berücksichtigt werden.
Jede und jeder konnte hier, gegen einen Aufpreis, in direkter Nachbarschaft zu ihrem oder seinem Lieblingsstar beerdigt werden. Das Internet ließ eine unbegrenzte Anzahl benachbarter Grabstätten zu.
t_h_e_c_e_m_e_t_a_r_y.com hatte sich frühzeitig die virtuellen Beerdigungsrechte wichtiger Hollywood-Schauspieler und des englischen Königshauses gesichert.
Am höchsten war der Preis für ein Grab in der Nachbarschaft von Michael Jackson, die Beerdigung in der Nachbarschaft von Goethe oder Kant war hingegen kostengünstig zu haben.

Und nicht nur die Grabstätten wurden den individuellen Wünschen angepasst auch die Beerdigung selbst konnte frei gestaltet werden.
Eine Weile waren z.B. vulkanische Beerdigungsrituale sehr gefragt gewesen.

Auch virtuelle Blumen und Grabschmuck gab es zu kaufen. Die Grenzen wurden nur durch die Grenzen der Phantasie bestimmt.
Die virtuellen Blumenbouquets verwelkten genau wie echte Blumen. Und auch Speisen, die Angehörige den Toten auf das Grab legen konnten, und die Besucherinnen und Besucher kaufen konnten, verdarben in Echtzeit.
Selbst die angepflanzten virtuellen Rabatten waren so programmiert, dass sie ohne Pflege verkamen.
Gegen einen kleinen Zusatzbeitrag übernahm die Friedhofsverwaltung von t_h_e_c_e_m_e_t_a_r_y.com die Grabpflege.

Das Unternehmen baute diese Angebote kontinuierlich aus und achtete dabei sorgsam auf die unterschiedlichen Gepflogenheiten und Tabus in unterschiedlichen Kulturen und Weltanschauungen.
Inzwischen war dieser Bereich ein wichtiger Einnahmefaktor.

t_h_e_c_e_m_e_t_a_r_y.com war eine der wenigen werbefreien Plattformen im Internet und vermutlich deshalb eine der am meisten besuchten.
Viele Joggerinnen liefen auf ihrem Hometrainer während des Trainings mit ihrem Avatar eine Friedhofsstrecke. Auf dem virtuellen Friedhof konnten sie sich aussuchen, ob sie alleine sein und niemanden treffen wollten, dann mussten sie nur den Modus entsprechend wählen, oder, ob sie mit anderen Avataren zusammen die Strecke laufen wollten.

Der Friedhof wurde finanziert über die Beiträge der weltweit inzwischen über 2,5 Milliarden Mitglieder und den Verkauf der Blumen und anderer virtueller Grabbeilagen. Deshalb war der Verzicht auf Werbung für das Unternehmen kein Problem.
Die meisten Familien legten Wert darauf, ihre Familienhistorie zu bewahren, und fiel ein Familienmitglied als Beitragszahler aus, fand sich in der Regel ein anderer Verwandter, der die Beiträge übernahm. Das Unternehmen gewährte dabei, in Abhängigkeit vom Verwandtschaftsgrad, auch Rabatte.
Die Beitragszahler wurden außerdem dafür in der Familiengrabstätte auf einer Ehrentafel vermerkt.

t_h_e_c_e_m_e_t_a_r_y.com war heute einer der zentralen Treffpunkte der Menschheit. Ein Treffpunkt, der ähnlich den globalisierten Familienrealitäten, die Menschen weltweit zu einer Gemeinschaft verband.
Der Friedhof war ein Sinnbild des Zusammenwachsens der Menschheit, zur Herausbildung einer gemeinsamen Verantwortungsgemeinschaft für die Erde.

Lydia Bijou musste lachen, so lautete zumindest die Selbstbeschreibung des Unternehmens.
Und nun dies, die größte Krise in der Unternehmensgeschichte und Lydia Bijou hatte sich auf einmal im Zentrum des Orkans wiedergefunden.

Das Unternehmen hatte schon früh bemerkt, dass die Rücksicht auf religiöse Befindlichkeiten für das Geschäft von zentraler Bedeutung war. Also hatte t_h_e_c_e_m_e_t_a_r_y.com Verträge mit dem Vatikan und Vertretern anderer Religionsgemeinschaften geschlossen.
Katholikengrabstätten wurden nur auf den dafür extra vom Vatikan geweihten Festplatten abgespeichert und die Festplatten mit virtuellen islamischen Grabstätten waren alle gegen Mekka ausgerichtet.

Dies alles und mehr war vertraglich festgehalten worden, doch nach Informationen, die dem Innenministerium zugespielt wurden, wurden diese Zusagen verletzt.
Teile dieser Behauptungen waren auch an die Presse durchgesickert.

Das waren die Anschuldigungen, die Lydia Bijou hatte untersuchen sollen. Und die Ergebnisse ihrer Untersuchung waren sehr beunruhigend gewesen.
Offensichtlich hatten die Mitarbeiter von t_h_e_c_e_m_e_t_a_ r_y.com nicht begriffen, wie gefährlich für das Unternehmen Verstöße gegen diese Zusagen waren.

Im Geschäftsablauf war es vorgekommen, das bei Systemproblemen kurzerhand Bits und Bytes ohne Rücksicht verschoben wurden.
Grabstätten gläubiger Katholiken fanden sich plötzlich auf islamischen Festplatten. Islamische Grabstätten wurden sogar zusammen mit den Beerdigungsstätten eines Tochterfirma von t_h_e_c_e_m_e_t_a_r_y.com, einer virtuellen Beerdigungsplattform für Haustiere, auf einer Festplatte abgespeichert.

Dies durfte niemals bekannt werden, es konnte das Ende des Unternehmens bedeuten.

Zum Glück hatte Lydia Bijou aber sowohl Vertreter des Vatikan, als auch hohe islamische Geistliche, Dank des größten Aktionärs von t_h_e_c_e_m_e_t_a_r_y.com, des Investmentfonds von Abu Dhabi, für eine Zusammenarbeit gewinnen können.

Der Kardinal, als Vertreter der Kurie, war von ihr durch das Versprechen einer entsprechenden Buße in Form einer großen Stiftung von t_h_e_c_e_m_e_t_a_r_y.com an die katholische Kirche beruhigt worden und der Papst hatte darauf hin offiziell Ablass gewährt.
Der Investmentfond von Abu Dhabi wiederum hatte seine Kontakte in der islamischen Welt spielen lassen, um wichtige islamische Geistliche zur Zusammenarbeit zu bewegen. Die Geistlichen hatten aufgrund der Bitte Abu Dhabis zugesagt, auf eine Skandalisierung des Vorfalls zu verzichten.

Außerdem hatte t_h_e_c_e_m_e_t_a_r_y.com, auf Grund einer Anregung Lydia Bijous, einen religiös weltanschaulichen Beirat eingesetzt, ausgestattet mit Kontrollbefugnissen. In diesem Beirat waren alle großen Religionsgemeinschaften und sogar Atheisten vertreten.
Der Vorsitz wechselte im Halbjahresturnus zwischen den Mitgliedern.

Lydia Bijou lachte noch einmal, als sie an diesen Beirat dachte.

Nun würde t_h_e_c_e_m_e_t_a_r_y.com sogar den Diskurs zwischen den Weltanschauungen und Religionen fördern.


FIN


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Yuriko Yushimata


Weißt Du, wer Du bist?

Arvo saß zusammen mit seiner Freundin Kaija im StraßencafĂ© und unterhielt sich. Ihr Lächeln streifte sein Gesicht.
Er konnte ihren Schneidezahn sehen, der unauffällig überkront war.
Er liebte sie. Sie waren jetzt schon fast 2 Jahre zusammen.

Auf einmal wies sie mit dem Kopf auf eine alte Frau, die in schwarzer Kleidung halb vermummt hinten in einer Ecke des CafĂ©s hockte. "Ich habe die ganze Zeit den Eindruck, als würde sie uns beobachten."
Arvo war die schwarz gekleidete Frau schon vorher aufgefallen.
Er starrte böse zu der Alten hinüber. "Sie ist uns gefolgt, von der Wohnung bis hierher. Ich habe keine Ahnung, was das soll."
Kaija nahm ihn in die Arme. Er spürte die Wärme ihrer Haut.
Ihr Blick tauchte in seinen ein.
Sie flüsterte. "Ich wollte Dich nicht beunruhigen, sicher ist es Zufall."
Arvo schüttelte den Kopf. "Nein, es ist nicht das erste Mal. Seit Wochen folgen mir schwarz bekleidete, seltsam vermummte Personen."
Er sah an Kaijas Gesicht, dass sie ihn nicht ernst nahm. Er schob ihre Arme weg.
"Das ist kein Witz."
Sie schloss kurz die Augen. "So habe ich das auch nicht gemeint. Aber dann frag sie doch einfach."
Arvo dachte kurz nach. "Du hast recht."

Irgendetwas berührte ihn seltsam an der Frau, irgend-etwas aus seiner Vergangenheit. Aber er konnte sich nicht erinnern, nur unklare Bilder formten sich in seinem Kopf, ohne Sinn. Er wischte die Gedanken bei Seite. Es gab ja eine einfache Möglichkeit, das zu klären.

Er stand auf, schlängelte sich zwischen den Tischen des CafĂ©s durch und ging auf die vermummte Alte zu. Die Alte sah ängstlich auf. Plötzlich sah sie mit entsetztem Blick an ihm vorbei.
Halb automatisch wandte Arvo sich um. Hinter ihm stand ein Mann in weißer Kleidung mit erhobener Machete.
Das Café war verstummt.
Arvo sah alles in Zeitlupe. Die Machete flog auf seinen Kopf zu.
Kaija schrie auf. "Vorsicht!"
Alle starrten auf den Mann mit der Machete und auf Arvo.

Gerade noch gelang es Arvo auszuweichen. Die Machete zerlegte einen der Caféhaustische.
Die Menschen, die drumherum saßen, schienen gelähmt.
Arvo stolperte.
Der Mann mit der Machete war jetzt direkt über ihm. Die Machete schien sich in Zeitlupe seinem Hals zu nähern.
Er war nicht schnell genug.
Gleich würde sie ihn treffen.
Da wurde der scheinbar unaufhaltsame Schlag der Machete von etwas Schwarzen abgefangen. Die alte Frau, die alte Frau hatte sich in den Schlag geworfen. Die Machete zerfetzte ihren Hals. Das Blut aus ihrer Halsschlagader färbte alles in ein schmutziges Rot.
Arvo zitterte.

Wieder tauchten Bilder aus der Erinnerung auf, alte kühle Mauern, der Klang einer Glocke und schwarz gekleidete Gestalten. Das mussten Erinnerungen aus seiner frühesten Kindheit sein.

Der Mann in weißer Kleidung, die jetzt blutverschmiert war, hatte die Machete erneut gehoben, da huschte ein schwarzer Schatten vorbei. Ein Mann ganz ähnlich gekleidet, wie die alte Frau, streifte den Mann mit der Machete. Die Machete fiel auf den Boden.
Nun sah Arvo auch das Messer im Rücken des Mannes, der eben noch versucht hatte, ihn mit der Machete zu töten.

Der schwarze Schatten war verschwunden.

Vor Arvo drehte sich alles. Kaija hockte auf einmal neben ihm. "Issa, ist Dir was passiert?"
Arvo schüttelte nur den Kopf, dann übergab er sich.

Kaija nannte ihn sonst nur privat bei seinem Kosenamen.

Dann saßen sie auf der Polizeiwache. Er hatte Beruhigungsmittel bekommen.
In seinem Kopf lief alles durcheinander, das Bild der alten Frau mit durchtrennter Halsschlagader, vermischte sich mit Bildern von schwarz gekleideten Menschen aus der Vergangenheit.
Aber wo, wo war das gewesen?

Die Kommissarin und ihr Assistent hatten alle Gäste des CafĂ©s vernommen. Sie hatten ein ungefähres Bild vom Ablauf der Geschehnisse.
Nun saßen sie Arvo und Kaija gegenüber.
Dass Kaija hier war, hatte Arvo dem Arzt zu verdanken, der darauf bestanden hatte, Arvo nur in Anwesenheit einer vertrauten Person zu vernehmen.

Die Kommissarin sah ihn an. "Haben Sie eine Vermutung, wieso Sie der Mann töten wollte?"
Arvo schüttelte den Kopf. "Nein."
"Kannten Sie den Mann?"
Arvo schüttelte erneut den Kopf. "Nein, ich weiß nicht, was das Ganze bedeutet."
Die Kommissarin ging einen Augenblick im Raum umher. Sie schien zu überlegen. "Sagt Ihnen die 'Gemeinschaft der letzten Tage' etwas?"
Arvo zuckte mit den Schultern. "Nein, auch nicht.
Wieso fragen Sie?
Was ist das für eine Gemeinschaft?"
Der Blick der Kommissarin musterte ihn genau. "Eine christlich fundamentalistische Sekte.
Die Frau, die Ihnen das Leben gerettet hat und dabei getötet wurde, gehörte ihr an."
Arvo sah, dass die Kommissarin nicht sicher war, ob sie ihm glauben sollte. Sie warf ein Bild des Täters vor ihm auf den Tisch. "Der weiße Orden, sagt Ihnen das was?"
Wieder musste Arvo verneinen. "Mir sagt das alles nichts."
"Wieso wollte dann ein Mitglied dieser katholischen Geheimorganisation Sie töten?"
Arvo gestikulierte hilflos mit den Händen ohne zu antworten.
Er sah aus dem Fenster. Kaija legte ihm beruhigend eine Hand auf den Arm.

Dann fasste er sich wieder. "Ich weiß nicht. Das gibt alles keinen Sinn. Ich bin nicht mal gläubig, geschweige denn, dass ich in die Kirche gehen würde. Die - die müssen mich verwechseln."
Nun schüttelte die Kommissarin den Kopf. "Nein, das hier haben wir bei dem Täter gefunden."
Sie legte vor Arvo ein Foto von ihm mit Namen, Adresse, Alter und weiteren Merkmalsbeschreibungen auf den Tisch. "Der Täter war gezielt auf Sie angesetzt."
Arvo schrie seine Antwort mehr als dass er sprach. "Aber ich kenne die gar nicht!"

Der Assistent der Kommissarin reichte ihm ein Glas Wasser. "Haben Sie in ihrem Leben je mit der Kirche zu tun gehabt?"
Arvo schüttelte erst den Kopf, dann korrigierte er sich. "Nein, oder doch, vielleicht. Als ganz kleines Kind habe ich vielleicht unter Mönchen gelebt.
In meiner Erinnerung tauchen ab und an einige Bilder auf, von einem Gebäude mit vielen Kreuzen, Menschen in schwarzen Kutten, dunklen Gesängen, kühlen steinernen Räumen.
So ähnlich gekleidet, wie die alte Frau. Sie hat mich daran erinnert.
Aber ich kann nur Bruchstücke erinnern. Ich bin mit fünf Jahren auf der Straße aufgegriffen worden, im Libanon, ich sprach aber kein Wort arabisch.
Ich weiß nicht, was vorher war, ich habe nur diese Bilder, sonst nichts. Die Behörden haben auch nie mehr in Erfahrung gebracht.
Mit sechs Jahren bin ich dann in eine Pflegefamilie gekommen, hier in diesem Land, weil das die Sprache war, die ich gesprochen habe."

"Sie wissen also nicht, wer Ihr Vater oder Ihre Mutter waren?"
Arvo zuckte die Schultern. "Mir ist das egal, ich habe nie einen Vater oder eine Mutter gehabt.
Meine Pflegefamilie ist meine Familie.
Und heute habe ich meine Freunde und Kaija."
Kaija umarmte ihn.

Die Kommissarin und ihr Assistent sprachen kurz leise miteinander. Dann wandte sich die Kommissarin an Arvo. "Haben Sie etwas dagegen, wenn wir einen Gentest durchführen um eventuell etwas über Ihre Herkunft herauszufinden?"
Arvo schüttelte den Kopf. "Nein, das können Sie machen.
Ich weiß ja selbst nicht, was hier passiert."

Nachdem er eine Speichelprobe abgegeben hatte, fuhr er mit Kaija zu ihrer Wohnung. Sie schliefen die Nacht eng umschlungen und doch wachten sie beide immer wieder ängstlich auf.

Immer wieder erschien Arvo das Gesicht der alten Frau. Er würde es nie mehr vergessen.
Und dann hatte er einen Traum in dem ihm schwarz gekleidete Gestalten mit Ehrfurcht begegneten, obwohl er im Traum ein kleines Kind war. Aber sie ließen ihn auch nie in Ruhe, immer war er unter Beobachtung.

Als sie am Morgen auf die Straße traten, glaubte Arvo mehrfach weiß gekleidete verdächtige Gestalten zu sehen. Doch immer dann, wenn er genauer hinsah, waren sie verschwunden.
Er stützte sich auf Kaija. "Ich glaube, ich werde verrückt."
Kaija streichelte ihm über den Kopf. "Das Ganze ist verrückt, nicht Du."

Im Kaufhaus in der Innenstadt war es dann aber eindeutig. Ein weiß gekleideter Mann versuchte, sich ihnen zu nähern. Sie flüchteten durch einen Personaleingang und riefen die Polizei. Natürlich war der weiß Gekleidete längst verschwunden.
Im Nachhinein waren sie sich nicht mal sicher, ob sie sich nicht geirrt hatten.
Einer der Polizisten telefonierte mit der Kommissarin. Sie bat Arvo und Kaija nochmal vorbeizukommen.

Die Polizisten fuhren sie zur Sicherheit hin.

Auf dem Kommissariat wurden sie mit einem Kaffee empfangen. Die Kommissarin sah Arvo unsicher an. "Setzen Sie sich bitte."
Sie zögerte einen Augenblick. "Die Auswertungen der Genanalyse liegen bereits vor."
Arvo sah die Kommissarin überrascht an. "Ja? Was haben sie herausbekommen?"
Die Kommissarin zögerte immer noch. "Sehen Sie, ich möchte Ihnen nichts aufdrängen, was Sie vielleicht lieber gar nicht wissen würden."
Arvo blickte lachend zu Kaija. "Das ist schon OK. Kaija verlässt mich auch nicht, wenn ich der Sohn des Papstes bin, oder?"
Kaija lachte. "Das überlege ich mir dann noch mal."
Die Kommissarin lachte nicht. "Es ist komplizierter. Sehen Sie, wir wissen nicht, wer Sie sind. Aber wir wissen, dass Sie ein Klon sind. Wir wissen nur nicht, wer geklont worden ist."
Arvo schwieg nur einen kurzen Moment. "Sehen Sie, ich weiß, wer ich bin. Ich bin Arvo Turunen.
Ob da noch ein anderer herumläuft, der aussieht wie ich, ändert nichts daran."
Die Kommissarin lächelte abgespannt. "Natürlich. Nur sehen Sie, wir wissen gar nicht, ob dieser andere noch lebt, oder schon länger tot ist.
Auf jeden Fall, seien Sie bitte vorsichtig."
Kaija gab ihm einen Kuss. "Für mich bleibst Du der, der Du bist, Issa."
Der Assistent stutzte kurz. "Wieso nennen Sie ihn Issa?"

Arvo lächelte.

Statt Kaija antworten zu lassen, beantwortete er die Frage. "Es ist eine der wenigen sicheren Erinnerungen an meine frühe Kindheit. Ich wurde so gerufen von den Männern in den schwarzen Kutten.
Kaija hatte ich das mal erzählt, seitdem nennt sie mich so.
Sie ist die einzige, die das darf."
Der Assistent schrieb etwas auf einen kleinen Zettel.
Die Kommissarin verabschiedete die beiden. "Nochmal, seien Sie bitte vorsichtig."

Auf dem Rückweg bildete er sich wieder ein, überall schwarz gekleidete Kuttenträgerinnen oder auffällig weiß gekleidete Verfolger zu sehen.
Er versuchte sich zu erinnern, an die Zeit im Libanon, aber was war Erinnerung und was Einbildung? Es war zu lange her.
Und er war noch zu klein gewesen.
An einen Esel konnte er sich noch erinnern. Sie hatten dort einen Esel gehabt.

Diesmal gingen sie zu seiner Wohnung.
Kaija übernachtete bei ihm.

Am nächsten Morgen nach dem Frühstück schlenderten sie ein Stück durch die alten Straßen des Viertels. Arvo entspannte sich langsam ein bisschen.
Doch dann sah er die Frau in schwarz, die ihnen folgte. Schon wieder. Oder bildete er sich das ein. Doch er war sich sicher.
Diesmal war es eine junge Frau, mehr war nicht zu erkennen.
Langsam machte ihn das verrückt.

Ohne weiter zu überlegen, riss er sich von Kaija los, rannte auf die Frau zu und schrie sie an. "Was wollen Sie von mir?"
Die Frau fiel vor ihm auf die Knie, warf sich auf den nassen Asphalt und küsste den Saum von Arvos Jeans. "Segne mich." Sie richtete ihren Blick flehend auf Arvo und hob bittend ihre Arme. "Segne mich!"
Arvo versuchte sie wegzuschieben. "Lassen sie mich in Ruhe."

Nun kam auch Kaija. Sie sah die Frau skeptisch an, doch dann versuchte sie es mit Freundlichkeit. Sie kramte in ihrer Tasche und zog einen Euro hervor. Sie drückte ihn der Frau in die Hand. "Hier nehmen Sie."
Das Gesicht der Frau verwandelte sich innerhalb weniger Sekunden in eine Hass verzehrte Fratze. Sie schlug Kaija das Geld aus der Hand. "Hure!"
Arvo nahm Kaija bei Seite. "Lass, die spinnt."
Kaija schüttelte den Kopf.

Arvo wollte gehen, aber die Frau klammerte sich an seinen Füßen fest. Sie starrte ihn mit weit aufgerissen Augen an. "Verlasst mich nicht Herr, bitte! Aber, diese Hure ist ein Geschöpf des Teufels!
Ihr dürft Ihr nicht vertrauen, Herr.
Denkt an Euren Vater."
Arvo sah die Frau an. "Ich habe keinen Vater und brauche auch keinen."
Er schüttelte sie ab.

Die Frau fuhr entsetzt zusammen. Sie hob die Arme, als wolle sie einen imaginären Angriff abwehren und wich zurück. Sie schrie. "Aaaah!" Dann flüsterte sie. "Weiche von mir, führe mich nicht in Versuchung, Satan." Sie bekreuzigte sich, erhob sich und lief davon.

Kaija wollte die Polizei informieren, doch Arvo hatte von allem einfach genug. Er wollte nicht schon wieder mit der Kommissarin sprechen.
Das alles brachte nichts. Diese Leute waren verrückt.
Das alles gab keinen Sinn.
Er nahm Kaija in die Arme. "Bitte nimm es mir nicht übel, aber ich brauche ein wenig Zeit für mich.
Ich muss einfach mal allein darüber nachdenken."
Kaija lächelte. "Das ist völlig OK, Issa. Darf ich Morgen früh vorbeikommen?"
Arvo küsste sie. "Ja klar. Es ist nur jetzt im Moment so."

Arvo verbrachte den Tag in der Küche mit mehren Kannen Espresso und dachte zurück, ohne zu wissen wohin.
Seltsame Gesänge, dunkle kühle Gänge und schwarze Kutten waren alles, was er erinnern konnte, aber das alles gab keinen tieferen Sinn.

Nachmittags klingelte es an der Tür. Erst wollte Arvo sich nicht melden.
Doch dann betätigte er die Sprechanlage.
Es war die Kommissarin. "Herr Turunen?"
"Ja."
"Wir haben da eine Vermutung, die ich ihnen gerne persönlich mitteilen würde."
Arvo drückte auf den Summer für die Haustür und wartete an der Wohnungstür.

Die Kommissarin war etwas außer Atem als sie die Wohnung im 4ten Stock erreichte. Sie sah Arvo mit einem seltsamen Blick an. "Mein Mitarbeiter hat etwas entdeckt. Es betrifft Sie. Ihr Kosename - Issa - hat ihn darauf gebracht. Und dann hat er weitere Hinweise gefunden.
Es passt alles.
Sie wollten doch wissen, wer sie sind?
Darf ich reinkommen?"
Arvo hielt ihr die Tür auf. "Ich weiß, wer ich bin. Ich habe ihnen das gestern schon gesagt."
Die Kommissarin nickte. "Entschuldigen Sie. Ich habe das nicht so gemeint.
Mein Mitarbeiter hat eine Theorie entwickelt.
Es geht darum, wessen Klon sie sind.
Natürlich sind sie der, der sie sind, unabhängig davon, aber all diese Leute sehen das anders. Das würde alles erklären."
Arvo zog die Augenbrauen hoch. "Was würde alles erklären?"
Die Kommissarin reichte Arvo eine DIN A4 Mappe. Sie setzten sich ohne zu reden an den Küchentisch.

Arvo blätterte die Unterlagen durch.
Er begriff jetzt.

Er sah die Kommissarin an. "Das ist völliger Schwachsinn."
Die Kommissarin sah auf den Küchenfußboden. "Mein Mitarbeiter hält es für wahrscheinlich."
Arvo schüttelte den Kopf. "Das meine ich nicht. Ihr Mitarbeiter könnte Recht haben, aber all diese Leute, ihr Glauben, als wäre ich als Klon identisch mit IHM.
Das ist Schwachsinn, Scheiße!"
Die Kommissarin nickte wieder. "Ja, aber diese Leute glauben daran."
Arvo versteifte sich. "Ich aber nicht. Ich mache da nicht mit." Er sah die Kommissarin an. "Lassen Sie mich bitte allein.
Ich muss überlegen."
Die Kommissarin stand ohne Widerrede auf und verabschiedete sich. "Sie sollten mit Ihrer Freundin darüber reden."
Arvo gab ihr zum Abschied die Hand.

In dieser Nacht schlief er schwer und traumlos und doch war er nach dem Aufstehen immer noch müde.

Das alles war Wahnsinn.

Die Klang der Klingel riss ihn aus den Gedanken. Kaija war unten an der Tür. Er betätigte den Türöffner und hörte ihre Schritte im Treppenhaus. Kurz darauf stand sie vor ihm und lächelte ihn an. Sie hatte Brötchen mitgebracht. "Morgen Issa - Liebster." Arvo schwieg. Kaija sah ihn an. "Was ist mit Dir?"
Arvo lachte böse. "Die Kommissarin hat was herausgefunden."
"Was?"
"Sie haben IHN geklont."
"Wen?"
"Sie haben genetisches Material im Leichentuch gefunden."
Kaija schaute ihn fragend an. "In welchem Leichentuch? Und wer?"
Arvo schwieg einen Augenblick, dann warf er die DIN A4 Mappe auf den Küchentisch. "Im Turiner Leichentuch, dem Leichentuch Jesu, eine christliche Sekte, die Gemeinschaft der letzten Tage, hat daraus einen Klon großgezogen - mich.
Und dann bin ich ihnen abhanden gekommen.
Bis sie mich vor kurzem wiedergefunden haben."
Kaija ließ sich auf einen der Küchenstühle plumpsen und fing laut an zu lachen. "Ha, Du bist ein Jesus-Klon. Ich schlafe mit Jesus Christus?"
Arvo sah sie ärgerlich an. "Blödsinn."

Kaija stand auf und nahm ihn in die Arme. "Äih, dass war nur Spaß. Es ist einfach so albern, Issa."
Arvo war immer noch etwas abwehrend. "Issa - der Name hat die Polizei darauf gebracht, es ist der arabische Name für Jesus."
Kaija küsste ihn. "Und mein Kleiner, soll ich Dich jetzt nicht mehr so nennen?"
Arvo sah sie an. "Du nimmst das ganze nicht ernst."
Kaija lachte und fasste ihm unter den Pulli. "Oh doch, ich finde Jesus war sehr hübsch. Als Klon siehst Du doch aus wie er."
Arvo sah sie irritiert an. "Verdammt, ich werde diese Idiotinnen und Idioten nie mehr los.
Und Du scheinst das noch amüsant zu finden."
Kaija biss ihn leicht in den Hals. "Also ich wüsste da was."
Arvo sah sie fragend an.

Kaija nahm ihn bei der Hand und zog ihn ins Schlafzimmer.
Sie schaltete den Computer ein, schloss die Kamera an und verband sich mit ihrem öffentlichen Internettagebuch und übertrug den Livestream der Kamera zum Download.
Arvo sah ihr über die Schulter.
Kaija tippte einen Titel für die Aufnahme ein - Sleeping with Jesus -.
Arvo versuchte ihren Blick einzufangen, er schüttelte den Kopf. "Das mache ich nicht, das hast Du nicht vor?"
Das konnte Kaija doch nicht wirklich wollen?

Kaija richtete die Kamera auf das Bett aus und drehte sich mit ihrem verführerischsten Lächeln zu ihm um. "Wieso nicht?
Willst Du diese Betschwestern und ihre Glaubensbrüder loswerden oder nicht?
Wetten, dass Dich danach niemand mehr anbetet?
Nichts gegen Deine Künste im Bett, aber göttlich ist das nicht. Niemand von denen wird sich danach noch für Dich interessieren.
Du bist dann entweiht durch so eine wie mich und für sie wertlos."

Sie begann sich und ihn auszuziehen und schubste ihn aufs Bett.
Sie strich ihm über die nackte Haut. "Danach stellen wir noch die Dokumente ins Web."

Dann küsste sie ihn und legte sich zu ihm auf das Bett.
Nach kurzer Zeit vergaß Arvo die Kamera.


FIN


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Yuriko Yushimata


Ein Fall ethischer Verwahrlosung

Die Autorin saß an ihrem Schreibtisch und formulierte in ihren Gedanken den Text vor, den sie schreiben wollte, bisher hatte sie nur den Titel - 'Ein Fall ethischer Verwahrlosung' -.
Dann startete sie einen ersten Versuch.


Die junge Frau auf der Anklagebank wirkte leicht desorientiert. Vermutlich hatte sie im Gewahrsam aggressiv agiert und war mit Psychopharmaka ruhig gestellt worden. Der Richter blätterte durch die Akte. Das war egal, der Fall war sowieso klar.
Auch der Pflichtverteidiger war offensichtlich mit seinen Gedanken woanders. Auch er wusste, dass dies alles nur Routine war.

Die Ethiksachverständigen, ein Katholik und eine Atheistin, stellten ihre Gutachten dar. Beide waren qualifizierte Sachverständige der Sachverständigenkommission des Ethikrates für die Bewertung individuellen ethischen Fehlverhaltens.
Auch dies war Routine.
In jedem Fall mussten zwei Sachverständige gehört werden, ein konfessionell gebundener und ein konfessionsloser Sachverständiger.

Der Richter achtete genau darauf, dass diese Regularien eingehalten wurden und die Angeklagte juristisch einwandfrei behandelt wurde.

Der katholische Ethiksachverständige schloss sein Gutachten gerade. "Die Angeklagte hat bewusst darauf hingewirkt, dass Eltern ihre Kinder der ärztlichen Vorsorgeuntersuchung U1 entziehen.
Sie begründet dies mit Ablehnung der von ihr sogenannten 'genetischen Totalerfassung' von Neugeborenen, die durch die Aufnahme des genetischen Screenings als Regelleistung in die frühkindliche Vorsorgeuntersuchung als Folge dieser Untersuchungen stattfinden würde.
Sie redet hier wider besseren Wissens von Zwangsscreenings. Dabei sind die Screenings freiwillig.
Aus ethischer Perspektive ist hier ganz klar zu sagen: Erfüllt ein genetisches Screening Effizienz- und Effektivitätskriterien wie Validität, Reliabilität, Spezifität und weitere Evidenzkriterien, lässt sich bei begrenztem Aufwand ein hoher individueller Nutzen im Sinne von Vermeidung einer schweren Krankheit und Förderung der individuellen Entwicklungsmöglichkeit sowie ein hoher gesellschaftlicher Nutzen im Sinne der Vermeidung hoher Kosten, die durch verzögerte Diagnosestellung, inadäquate Therapien durch Fehldiagnosen etc. auftreten würden, erzielen, und muss man zudem nicht mit einer gesellschaftlichen Stigmatisierung der Betroffenen rechnen, so besteht seitens der betroffenen Individuen angesichts des eher geringen Schadens für sie wie ihre Familie, aber der hohen ökonomischen Folgen bei Nichtteilnahme eine hohe moralische Verpflichtung zur Teilnahme an der entsprechenden Maßnahme.
Obwohl die Teilnahme unter den genannten Bedingungen als ein moralisch-sittlicher Imperativ zu lesen ist, hat der Gesetzgeber aber darauf verzichtet, ihn unmittelbar in einen rechtlichen Zwang zu transformieren. Angesichts der bewährten Sinnhaftigkeit einer auf negativer Freiheit und informierter Entscheidung aufbauenden Rechtskultur wurde entschieden, auf der rechtlichen Ebene das Prinzip der Freiwilligkeit zu wahren und sich dabei dennoch nicht allein auf die standardisierte nondirektive Beratung zu beschränken."
Der Ethiksachverständige holte kurz Atem, um dann seine Argumentation weiter auszuführen. "Dass heißt, die Ärzte wirken gezielt darauf hin, dass der hohe sozialethische Verpflichtungsgrad zur Teilnahme an der entsprechenden Maßnahme den Eltern deutlich vermittelt wird.
Die Angeklagte hat durch die Verbreitung ihrer Propaganda auf Schulelternabenden und im Internet dazu beigetragen, diese ärztlichen Bemühungen zu konterkarieren.
Sie hat also gezielt versucht, Menschen zu einem sozial verantwortungslosem Handeln zu bewegen. Sie hat versucht, die Eltern durch Angstmache davon abzubringen, die sinnvollen und nach Kriterien der evidenzbasierten Ethik als einwandfrei und unbedenklich eingestuften frühkindlichen genetischen Screenings durchführen zu lassen.
Dies ist ethisch vergleichbar mit der Propaganda für Drogenkonsum und für andere gesellschaftsschädliche Verhaltensweisen.
Die Angeklagte erwies sich bei der polizeilichen Befragung als uneinsichtig, ist engstirnig fokussiert auf ihre autistische und egozentrische Scheinethik und beharrt auf ihre genfeindliche Weltsicht, die im Widerspruch zu allen Evidenzkriterien steht.
Als individuelle Abweichung wäre dies innerhalb einer freiheitlichen Rechtskultur vielleicht noch hinnehmbar, da die Angeklagte aber missionarisch diese antisoziale und ethisch nach evidenzbasierten Kriterien völlig inakzeptable Weltsicht überall verbreitet, ist ein Eingreifen des Staates im Sinne des Gemeinwohls notwendig."
Der Richter dachte darüber nach, was er heute noch alles erledigen musste. Die Sätze des Sachverständigen hörte er nur nebenbei.
Der Sachverständige machte um die Aufmerksamkeit zurückzugewinnen eine kurze Pause.
Dann fuhr er fort. "Aus christlicher Sicht möchte ich ergänzen, dass in der Bibel an vielen Stellen ausgeführt ist, dass Gott den Menschen unterschiedliche Befähigungen verliehen hat und dass es auch aus Sicht der christlichen Ethik unverantwortlich ist, diese von Gott gegebenen Gaben zu missachten. Mit dem Wissen um unser Genom stellt uns Gott heute eine Möglichkeit zur Verfügung, durch die wir die uns von Gott gegeben Gaben erkennen können. Es ist unsere ethische Verpflichtung als Christen, diese Möglichkeit zu nutzen, um aus Gottes Gaben das beste zu machen.
Wer, wie die Angeklagte, das eigene Genom, die eigenen Anlagen und Gaben, mit Missachtung straft und einfach wie ein blinder Wurm nur seinen individuellen Lüsten folgt, handelt nicht nur sozialethisch verantwortungslos sondern auch gottlos.
Denn wer Gottes Gaben missachtet, missachtet Gott."


Bis hierhin war die Autorin Yuriko Yushimata mit ihrem Textentwurf zufrieden, aber es fehlte noch etwas. Sie hatte auch dieses Wort einführen wollen - 'Befähigungsgerechtigkeit' - .
Sie dachte kurz nach, dann wusste sie, was sie weiter schreiben würde.


Die atheistische Sachverständige stimmte in der Grundeinschätzung ihrem geschätzten katholischem Kollegen aus der Sachverständigenkommission des Ethikrates für die Bewertung individuellen ethischen Fehlverhaltens zu.
Wichtig war ihr zum Abschluss aber ergänzend noch die Doppelbedeutung der Befähigungsgerechtigkeit als ethischem Grundsatz auszuführen. "Befähigungsgerechtigkeit ist ein Zentralbegriff moderner ethischer Gerechtigkeitsvorstellungen.
Befähigungsgerechtigkeit bedeutet auf der einen Seite, Menschen die Möglichkeiten und das Wissen zur Verfügung zu stellen, um eigenverantwortliche Entscheidungen treffen zu können. Sie müssen zur Entscheidung erst einmal befähigt werden.
Das heißt z.B., dass die Gesellschaft verpflichtet ist, den Menschen genetische Screeningverfahren zur Verfügung zu stellen.
Befähigungsgerechtigkeit begründet aber umgekehrt auch auf der anderen Seite, wie jedes Recht eine Pflicht, eine Pflicht, das Wissen auch verantwortlich für sich selbst und die Gesellschaft zu nutzen und es nicht zu ignorieren. Hier bedarf es keiner christlichen Ethik, allein schon die Befähigungsgerechtigkeit bewirkt einen Imperativ der informierten Sorge um sich selbst.
Und dies ist auch eine Frage der Würde des Menschen, denn die Würde des Menschen basiert auf der Selbstkenntnis, ohne diese gibt es kein Selbst und keine Würde. Die Kenntnis des eigenen Genoms ist also auch ein Teil der Verpflichtungen des Selbst gegenüber der eigenen Menschenwürde.
Die Angeklagte missachtet nicht nur ihre sozialethischen Verpflichtungen, sie tritt auch ihre eigene Menschenwürde mit Füßen."

Der Anwalt verzichtete auf ein Plädoyer.

Die Angeklagte schien immer noch etwas abwesend, vermutlich waren das die Nachwirkungen der Psychopharmaka.

Dem Richter war das recht, das machte die Verhandlung einfacher.
Er hasste Störungen durch aggressiv und unangemessen auftretende Angeklagte.

Das Urteil lautete auf unbefristete Unterbringung im ethischen Sorgegewahrsam mit der Option der Aufhebung der Unterbringungsverfügung bei positiver Begutachtung bei einer alle zwei Jahre durchzuführenden Untersuchung durch Sachverständige der Sachverständigenkommission des Ethikrates für die Bewertung individuellen ethischen Fehlverhaltens.


Yuriko Yushimata war zufrieden mit dem Text. Doch ihr Freund Ville, dem sie den Text zu lesen gab, bemängelte die Irrealität des Inhalts und die Länge der Sätze.
Yuriko lächelte nur böse und gab ihm eine Broschüre der Friedrich-Ebert-Stiftung - 'Gesundheitssicherung im Zeitalter der Genomforschung' - vom Dezember 2004. "Lies mal die Seiten 31 bis 32."
Ville las und runzelte die Stirn. "Da hast Du ja wohl den Guttenberg gemacht."


FIN


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Yuriko Yushimata


O.R.A.K.R.S.

Alina sah sich in der Kantine der O.R.A.K.R.S. - Organisation für religiösen Ausgleich und zur Klärung religiöser Streitfragen - um.
Die UNO-Organisation existierte seit 50 Jahren und hatte wesentlich dazu beigetragen, den religiösen Frieden auf der Welt zu bewahren. Dabei hatten sich die religiösen und weltanschaulichen Einstellungen in den letzten Jahrzehnten immer weiter ausdifferenziert.

Alina arbeitete noch nicht lange für die O.R.A.K.R.S. und heute hatte sie ihren ersten eigenen Fall zugewiesen bekommen.
Sie suchte nach bekannten Gesichtern.

An einem Tisch saßen William Tamlok, der Abteilungsleiter für atheistische religionsartige Weltanschauungsfragen, ihre Freundin Dai, die gerade in der Zentralstelle für religiöse Markenrechtsstreitigkeiten beschäftigt war und Rauha, Dais Geliebte, die sich zur Zeit als Aushilfe mit der Vermittlung im Streit zwischen den Fundamentalislamisten jüdischen Glaubens und der Fraktion der islamistischen Jesus People katholischer Herkunft befasste.

Dai und William Tamlok stritten sich gerade mal wieder über ihr Lieblingsthema, ob Nietzsche ein atheistischer Katholik oder ein atheistischer Protestant war.
Alina setzte sich lächelnd an den Tisch und machte den Fehler, sich in den Streit einzumischen. "Vielleicht war Nietzsche ja weder ein atheistischer Katholik noch ein atheistischer Protestant, sondern ein protestantischer Atheist?"
"Nein, was ist denn das für ein Blödsinn?" Dai fuhr sie richtiggehend an. "Ein protestantischer Atheist wäre jemand der Atheist ist, aber formal die protestantisch christlichen Rituale weiter pflegt. Manchmal werden diese Menschen auch habituelle Protestanten genannt.
Für Nietzsche galt genau das Umgekehrte, er war zutiefst christlich religiös mit einer starken Negativbindung an Gott und hat nur die religiöse Form abgelehnt."
Diesmal bestätigte William Tamlok Dai. "Liebe Alina, Sie müssen sich den Unterschied unbedingt einprägen."
So war das jedes Mal, erst stritten sich die beiden, und wagte jemand von außen etwas zu sagen, verbündeten sie sich.

Alina war aber nicht bereit so schnell aufzugeben. "Aber Nietzsche hat doch Gott für tot erklärt?"
Dai rollte die Augen nach oben. "Ja, psychoanalytisch betrachtet, die klassische Negativbindung. Wir lieben die, die wir hassen, bzw. wir wollen von ihnen geliebt werden. Nietzsche hat nur Gottes Liebe vermisst.
Das gesamte Werk Nietzsches ist ein einziger Aufschrei nach der Liebe Gottes, die er vermisst."
William Tamlok begleitete die Ausführungen von Dai mit heftigem Nicken. "Ich stimme Ihnen völlig zu, liebe Dai, aber, wenn Sie die geradezu barocke Ausschmückung des Gotteshasses bei Nietzsche sehen, müssen Sie doch einfach zugeben, dass er ein atheistischer Katholik war und kein atheistischer Protestant."
Dai schüttelte energisch den Kopf. "Nein, nein da kann ich Ihnen ganz und gar nicht recht geben.
Der Zarathustra ist doch eine zutiefst protestantische Gestalt."

Bevor der Streit zwischen den beiden erneut richtig aufflammen konnte, griff Alina ein. "Stopp, ich würde mich gerne auch noch mal über etwas anderes unterhalten."
Rauha grinste. "Und Du glaubst, das ist mit den beiden möglich?"

Alina überging die Bemerkung Rauhas, sie blickte zu Dai. "Ihr arbeitet zur Zeit an der Klärung des Papstmarkenrechtes?"
Dai seufzte und nickte. "Ja, nach der Dreifachspaltung der katholischen Kirche streiten sich die Teilkirchen nun darum, welcher Kirche das Markenrecht am Papstbegriff zukommt.
Außerdem reklamiert noch eine Margarinefirma aus Tuttlingen den Begriff für sich, da sie sich direkt nach dem Zerfall der katholischen Kirche den Papstbegriff als Trade-Mark hat schützen lassen für die Werbung für ihre Paradiescreme.
Rein markenrechtlich war das korrekt, da mit dem Zerfall der katholischen Kirche die Papstmarke an sich wieder gemeinfrei geworden ist." Dai seufzte noch mal. "Es ist das totale rechtliche Chaos."

Rauha sah zu William Tamlok hin. "Zu welchem Thema arbeiten Sie eigentlich zur Zeit?"
Tamlok nahm noch einen Schluck Kaffee bevor er antwortete. "Wir bearbeiten zur Zeit ein Problem mit sozialdarwinistisch orientierten christlichen Fundamentalisten und Fundamentalistinnen.
An sich fallen die gar nicht in das Aufgabengebiet der Abteilung, aber wir haben als einzige Spezialistinnen und Spezialisten, die sich mit sozialdarwinistischen Weltanschauungsfragen auskennen."
Alina sah William Tamlok verdutzt an. "Was heißt das, sozialdarwinistisch orientierter christlicher Fundamentalismus?"
Tamlok schlug die Augen zum Himmel. "Diese Gruppe glaubt daran, dass das Prinzip des - Survival of the Fittest - Gottes Willen entspricht.
Deshalb haben einzelne Fanatiker aus dieser Gruppe angefangen, Brandanschläge auf Krankenhäuser durchzuführen, da die Ärzte durch ihre Tätigkeit Leben erhalten würden, das nach dem Willen Gottes nicht lebenswert wäre."

Alina holte sich noch einen Kaffee.

Als sie wieder zum Tisch kam, hatten die anderen gerade ihr Gespräch beendet.
Dai lächelte Alina zu. "Und, Du hast Deinen ersten Auftrag?"
Alina ließ sich auf den Stuhl fallen. "Jaaa."
Dai grinste. "Was denn, so schlimm? Lass Dir nicht alles aus der Nase ziehen."
Alina rührte in ihrem Kaffee. "Seine Heiligkeit Rinpoche Franz Josef Hintermayer, Vorsitzender des Bundes oberbayerischer Buddhisten tibetischer Tradition behauptet er wäre eine Reinkarnation Mohammeds. Seine Heiligkeit wird in Oberbayern als Tulku verehrt.
Jetzt gibt es einen Protest der islamisch dschihadistischen Union Südwestschwaben gegen diese Erklärung seiner Heiligkeit.
Mullah Achmed Müller sieht in der Erklärung seiner Heiligkeit Rinpoche Franz Josef Hintermayers eine blasphemische Besudelung des Propheten.
Ich soll jetzt ein klärendes Gespräch mit seiner Heiligkeit Rinpoche Franz Josef Hintermayer führen.
In drei Stunden geht der Airlift."

Rauha runzelte die Stirn. "Sind das buddhistische Islamisten oder islamische Buddhisten?"
Alina schüttelte den Kopf. "Weder noch. Im tibetischen Buddhismus gibt es die Tradition der Reinkarnation wichtiger heiliger Persönlichkeiten. Nach ihrem Tod werden sie in einem Kind wiedergeboren, dass an bestimmten Zeichen erkannt werden kann. Die reinkarnierten Heiligen werden Tulkus genannt.
Der bekannteste ist sicher der Dalai Lama.
Auch früher wurden durchaus Reinkarnationen aus anderen Kulturkreisen integriert, z.B. aus dem chinesischen Kulturkreis.
Die oberbayerischen Buddhisten tibetischer Tradition knüpfen dort an.
Seine Heiligkeit Rinpoche Franz Josef Hintermayer will vermutlich in Unterpfaffenbach eine neue Traditionslinie in diesem Sinn eröffnen."
Dai sah ihre Freundin an und umarmte sie. "Na, viel Glück."

Alina versuchte zu lächeln, doch sie musste nicht nur an ihren Auftrag sondern auch immer wieder an Kim denken. Kim ging ihr schon seit einigen Tagen nicht mehr aus dem Kopf.
Sie hatte Kim beim Schwimmen kennengelernt. Aber immer wenn sie versuchte ihm näher zu kommen, entzog er sich.
Und doch hatte er sie zum Abendessen eingeladen.

Und ausgerechnet jetzt hatte sie diesen Auftrag.

Sie durfte nicht vergessen ihm abzusagen, vielleicht sollte sie ihm ein paar Blumen schicken.

Zwei Tage später saß Alina schon wieder im Airlift auf dem Rückflug. Sie war todmüde.

Zwar war die Anreise nach München einfach gewesen und sie hatte von New York aus nur wenige Stunden benötigt, aber die Fahrt von München nach Unterpfaffenbach, dem Sitz seiner Heiligkeit Rinpoche Franz Josef Hintermayer, hatte sie mehr als 12 Stunden an Zeit gekostet.
Sie war erst nach Mitternacht angekommen und hatte dann Mühe, in ihr Hotel hineinzukommen. Zum Glück kannte die Taxifahrerin einen der Hotelmitarbeiter und konnte ihn unter seiner Privatnummer erreichen.

Und dann hatte sie festgestellt, dass ihr Handy hier keinen Netzanschluss hatte.

Am nächsten Morgen hatte sie das Gespräch mit seiner Heiligkeit Rinpoche Franz Josef Hintermayer im Tempel der oberbayerischen Buddhisten tibetischer Tradition, einer umgebauten Kapelle, geführt.
Natürlich war die Lokalpresse anwesend und sie musste zuerst einmal mit seiner Heiligkeit Rinpoche Franz Josef Hintermayer Hände schütteln in unterschiedlichen Positionen.

Nach dem Gespräch war sie zufrieden gewesen. Ihr Eindruck war, dass es ihr gelungen war, die mit ihrer Abteilungsleiterin durchgesprochene Strategie umzusetzen.
Die Idee ihrer Abteilungsleiterin bestand darin, seine Heiligkeit Rinpoche Franz Josef Hintermayer im Gespräch beiläufig darauf zu bringen, dass Mohammed doch sicher selbst eine Reinkarnation einer vorhergehenden großen anderen Gestalt der Geschichte gewesen sei und insofern natürlich dies auch für seine Heiligkeit gelten würde.
Als Ziel wollte die O.R.A.K.R.S. erreichen, dass seine Heiligkeit Rinpoche Franz Josef Hintermayer sich zukünftig nicht mehr primär als Reinkarnation Mohammeds sondern als Reinkarnation dieser großen anderen Gestalt der Geschichte darstellen würde.
Als sie seine Heiligkeit verließ, war sie bester Dinge.

Doch als sie dann am Abend die Presseerklärung seiner Heiligkeit Rinpoche Franz Josef Hintermayer erhielt, begriff sie, dass sie etwas übersehen hatten.
Sie führte sofort noch ein ausführliches Gespräch mit seiner Heiligkeit, das ihre Befürchtungen bestätigte.

Nun saß sie im Airlift auf dem Rückflug und auf ihrem Telefon blinkte ein Anruf ihrer Abteilungsleiterin.
Müde nahm sie ab.
Die Abteilungsleiterin strahlte sie an. "Na, hat alles geklappt?"
Alina schüttelte den Kopf. "Nein, er ist zwar auf unsere Idee eingegangen, aber wir haben die Folgen nicht ausreichend bedacht."
"Wieso?"

Alina blickte ihre Vorgesetzte bedrückt an. "Seine Heiligkeit Rinpoche Franz Josef Hintermayer hat in einer Erklärung an die Weltpresse ausgeführt, dass er nicht nur eine Reinkarnation Mohammeds, sondern auch eine Reinkarnation Kleopatras ist."
Alina seufzte. "Ich befürchte, er wird es dabei aber nicht bewenden lassen. Seine Heiligkeit schwärmt für Androgynität und die Androgynität der Weisheit. In einem Gespräch mit mir hat er im Nachhinein noch die Androgynität der Weisheit des Korans mit dem Einfluss der weiblichen Seele Kleopatras erklärt und dann fing er noch an über die Androgynität Mohammeds zu philosophieren.
Ich glaube nicht, dass Mullah Achmed Müller davon begeistert sein wird."
Alina schluckte einmal trocken, bevor sie fortfuhr. "Und seine Heiligkeit Rinpoche Franz Josef Hintermayer erklärte im Gespräch mit mir, dass er nicht einmal verwundert sein würde, sollte sich in Zukunft herausstellen, dass Mohammed bisexuell gewesen wäre, da schließlich die Neigung zum physisch gleichen Geschlecht in der Regel der Effekt von weiblichen Reinkarnationen in männlichen Körpern und von männlichen Reinkarnationen in weiblichen Körpern sei."
Einen Augenblick schwiegen sowohl Alina als auch die Abteilungsleiterin.

Dann seufzte Alina. "Ich hoffe, wir haben keinen neuen Religionskrieg in Deutschland ausgelöst."

Ihre Chefin sah sie durch den Bildschirm hindurch an. "Das hoffe ich auch."

Nachdem sie das Gespräch beendet hatte, sah Alina erschöpft aus dem Fenster des Airlifts.
Plötzlich fiel es ihr ein, sie hatte Kim nicht abgesagt. Hastig wählte sie die Telefonnummer. Doch sie erreichte nur den Anrufbeantworter. Sie sprach eine ausführliche Entschuldigung auf das Band.
Dabei erinnerte sie sich an einen Streit, mit einem Ex-Liebhaber. Er hatte ihr damals vorgeworfen, sie wäre gar keine Frau. "Du siehst nur so aus, Du wurdest wahrscheinlich aus Versehen mit der Seele eines Mannes geboren."
Sie hatte ihn damals ausgelacht. "Und woran erkennst Du eine männliche oder eine weibliche Seele, am Busen?"

Aber vielleicht lag da die Lösung, vielleicht ließen sich die Buddhisten davon überzeugen, das Kleopatra eine männliche Seele besessen hatte. Und damit würde dann auch Mohammeds Männlichkeit nicht in Frage gestellt.


FIN


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Yuriko Yushimata


Die Liebe Jesu

"Du sollst Vater und Mutter ehren." Als Helka 4 Jahre alt war, weigerte sie sich, Papi zu umarmen, daraufhin sperrten die Eltern das undankbare Kind zwei Tage in den Keller.
Doch Helka weigerte sich immer noch. Helka fand, dass ihr Vater widerlich roch.

Was hatte das Kind nur für schlechte Gedanken.

Die Pfarrersfamilie hatte zwei Töchter, Helka und Samantha. Samantha herzte ihren Vater immer allerliebst.
Helka hingegen war einfach seltsam, die Eltern wussten oft nichts mit ihr anzufangen. Aber sie liebten ihr kleines Mädchen natürlich trotzdem, deshalb konnten sie ihm das ja auch nicht durchgehen lassen.
"Wenn Du Deinen Vater nicht lieb hast, lässt Gott Dich nicht in den Himmel."

Als Helka 5 Jahre alt wurde weigerte sie sich, weiter das Tischgebet aufzusagen. Sie hatte beschlossen, dass sie mit Gott nichts mehr zu tun haben wollte.
"Was auf den Tisch kommt, verdanken wir dem Herren."
Darauf hin bekam sie nichts mehr zu Essen.

Die Eltern verstanden nicht, wieso ihre Tochter nun auch noch die Liebe Jesu zurückwies.

Kurz darauf erwischten sie die Tochter, wie sie Schinken aus der Speisekammer stahl. Daraufhin hackte ihre Mutter der Kleinen die Hand ab. Die Großmutter nickte mit dem Kopf. "Gottes Liebe ist unendlich, aber es ist eine Liebe, die uns streng führt.
Ihr habt der Kleinen zu viel durchgehen lassen."
Dann nahm sie die abgehackte Hand, legte sie in Alkohol ein und stellte sie neben das Jesusbild auf den Schrank in der guten Stube.
Damit das Kind zukünftig beim Beten immer an seine Verfehlungen erinnert wurde.
Später steckte sie der Kleinen zum Trost ein paar Bolchen zu.

Doch statt besser, wurde es mit Helka immer schlimmer. Den Eltern tat ihr Kind so leid, aber sie wussten, dass es nicht gut war, die Kleine zu verhätscheln.
Sie liebten die Kleine so sehr. Und Papa fragte immer mal wieder seinen kleinen Liebling. "Liebst Du mich denn auch?"
Und Helka musste dann antworten. "Mehr als alles auf der Welt, nur Gott liebe ich mehr."
Doch Helka antwortete. "Nein, und Gott hasse ich."

Daraufhin rissen die Eltern der Kleinen die Zunge heraus, auf dass sie keine gotteslästerlichen Dinge mehr sagen konnte.
Die Schwester der Mutter saß dabei und hielt den Kopf Helkas fest. Damit die Zunge auch sauber herausgerissen werden konnte.
Dann verband sie die Kleine und herzte sie liebevoll. "Wir lieben Dich doch alle, Kleines, ganz besonders Deine Eltern.
Und so etwas Böses darfst Du nie wieder sagen."
Doch Helka starrte sie nur aggressiv an. Das Kind war einfach schwierig.
Auch die Zunge wurde in Alkohol eingelegt und zum Jesusbild gestellt.

Samantha hingegen herzte ihren Vater und sprach nur Gutes über Gott, nur Helka behandelte sie mit Verachtung.
Aber war das nicht zu verstehen?

Zu Weihnachten benahm sich Helka dann vollends unerträglich, sie weigerte sich zu beten und zerstörte die Krippenfiguren.
Da wurde es selbst ihren Eltern, die ihre kleine Tochter doch liebten, wie ihren eigenen Augapfel, zu viel.
Und der Vater verbrannte seine Tochter zusammen mit der alten Tanne zum neuen Jahr in der Abfalltonne.
Das Kind hatte einfach zu viele schlechte Gedanken.

Die Asche stellten sie zusammen mit einem Bild ihrer Tochter zum Bild des Gekreuzigten.

Als sie Ostern wieder mit der ganzen Familie zusammen saßen, wurde der Großmutter ganz traurig zumute, als sie das Bild ihrer so früh verstorbenen Enkelin sah. "Sie war so ein liebes Kind."
"Ja, ja", nickte die Mutter, "und sie hat ihren Vater so sehr geliebt und er sie. Nun hat Gott sie schon zu sich geholt. Jesus hat unsere kleine Helka wohl so sehr geliebt, dass er ihre Gesellschaft nicht länger missen wollte."
Und auch dem Vater kamen Tränen. "Ja, sie war so ein herzensgutes Kind. Aber jetzt ist sie sicher im Himmel und wacht über uns."
Nur Samantha begriff nicht, was es bedeutet, die Toten zu ehren. Sie sah ärgerlich ihren Vater an. "Also besonders gottesfürchtig war sie nicht."
Sofort unterbrach die Tante das Kind. "Das darfst Du nicht sagen. Vielleicht war Helka nicht immer in der Lage, ihre Liebe zu ihrer Familie und zu Gott zum Ausdruck zu bringen. Aber sie hat Gott mehr geliebt als wir alle. Deshalb hat Gott sie doch zu sich geholt.
Und ihr Vater, ihre Mutter und auch Du waren für sie die besten Menschen der Welt. Sie hat Euch über alles geliebt.
Ich weiß das genau.
Ich habe es ihr oft angesehen, sie hatte ja nur keine Zunge mehr, um das zu sagen."

Und alle vergossen noch viele Tränen darüber, dass Gott die kleine Helka so früh zu sich genommen hatte.

Aber sie wussten auch, was Gott entscheidet, ist gut entschieden.


FIN


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Yuriko Yushimata


Ein tragischer Unfall

Ausgelöst hatte alles die kleine Janina. Das siebenjährige Mädchen hatte mit seiner Mutter das erste Mal eine der großen alten Kirchen besucht.
Sie hatte furchtbar viele Fragen, als sie mit ihrer Mutter im Halbdunkel des Kirchenschiffes stand. "Wozu sind da die Bänke und wozu sitzen überall auf den Bänken Roboter?"
Die Mutter hatte ihre Kleine angelächelt. "Ganz früher einmal sind die Menschen in die Kirchen gegangen, das wurde Gottesdienst genannt. Aber dann hatten immer weniger Menschen Zeit und Lust, weil sie lieber mit ihren Kindern in den Freizeitpark fahren wollten."
Das verstand Janina und nickte eifrig.
Die Mutter fuhr fort. "Dann ist eine große Firma auf die Idee gekommen, menschenähnliche Roboter zu bauen, die die Menschen an ihrer Stelle zum Beten und Singen in den Gottesdienst schicken konnten.
Die meiste Zeit wurden nur wenige Exemplare verkauft, doch es gab auch immer wieder Zeiträume, in denen es modisch war, einen Kirchenroboter zu besitzen. Und einmal angeschafft, erwiesen sich die Betroboter als sehr haltbar. Sie wurden über Generationen vererbt.
Und so füllten sich die Kirchenschiffe wieder, bald waren die Gottesdienste wieder gut besucht.
Menschen gingen natürlich nicht mehr dort hin.
Dann kümmerten sich aber immer mehr Menschen nicht mehr um ihre Roboter. Und die Roboter wurden einfach in den Kirchen abgestellt."
Die kleine Janina betrachtete mitleidig die Roboter in den Bankreihen. "Das ist aber gemein."
Doch die Mutter beruhigte ihre Kleine. "Nein, so schlimm war das nicht. Die Kirchenleitungen übernahmen die Roboter und ihre Wartung. Heute kannst Du gegen einen kleinen Betrag jeden Roboter in Betrieb setzen zur Lobpreisung Gottes. Du nimmst einfach die Geldkarte und ziehst sie hinten durch den Schlitz am Nacken der Roboter, dann fangen sie an zu beten.
Sehr gläubige Menschen können auch eine bestimmte Anzahl von Robotern abonnieren, die für sie beten.
Schau, da vorne zum Beispiel beten und singen zwei Roboter und auf dem Schild kannst Du lesen, dass das Schuhgeschäft von Gegenüber dafür bezahlt."

Die Kleine ging mit großen Augen durch die Reihen und betrachtete die Roboter. Einmal setzte sie auch mit der Geldkarte, die die Mutter für sie mit einem kleinen Betrag aufgeladen hatte, einen der Roboter in Bewegung. Der Roboter fing eifrig an zu beten.

Dann erregte eine Art großer Schrank mit Vorhang, in den man wohl hineingehen konnte, ihre Aufmerksamkeit. Sie betrachtete ihn aufgeregt von außen und wieder hallte eine ihrer Fragen durch das Kirchenschiff.
"Was ist das?"
Aber diesmal antwortete nicht ihre Mutter ihr, sondern ein älterer Mann in einem blauen Arbeitskittel. "Das ist der automatische Beichtstuhl. Da kannst Du gegen einen kleinen Obolus all Deine Sünden beichten.
Und dann hat Gott Dich wieder lieb."
Die Kleine war etwas erschreckt, dass ein fremder Mann sie ansprach und lief zu ihrer Mutter. "Da ist ein Mann."
Ihre Mutter lachte. "Ach, dass ist der Kirchenmechaniker.
Nachdem nur noch Roboter zum Gottesdienst kamen, hat die Kirchenleitung auch die Priester durch Roboter ersetzt.
Siehst Du, da vorne, den Roboter mit dem Gewand?
Wenn Du eine Messe gelesen haben willst, musst Du nur einen entsprechenden Chip erwerben und in den kleinen Schlitz dort rechts einwerfen.
Und der Kirchenmechaniker macht all das wieder heile, wenn etwas kaputt ist."
Die Kleine betrachtete nun ausführlich den bewegungslosen Priesterroboter. Der Kirchenmechaniker betrachtete die Szene lächelnd.

Dann lief die Kleine noch einmal durch die Reihen mit vielen still sitzenden und einigen wenigen betenden Robotern.
Doch dann blieb sie mit einem Mal stehen und schrie auf. Vor ihr saß ein betender Roboter ohne Schlitz.
Der Roboter sah aus wie eine alte Frau.
Die Mutter und der Kirchenmechaniker kamen, durch den Schrei der Kleinen alarmiert, sofort zu ihr.
Und der Kirchenmechaniker konnte nicht glauben, was er sah. Da saß doch tatsächlich ein echte alte Frau zwischen den Robotern und betete. "Hey, Sie da, was machen Sie da? Das geht hier nicht. Wenn Sie Gott die Ehre erweisen wollen, müssen Sie einen der Roboter aktivieren. Sie können sich hier nicht einfach hinsetzen und selber beten.
Das ist nicht gestattet.
Sehen Sie das Schild da, das ist die Hausordnung. Wenn Sie zu geizig sind, ist das Ihre Sache, aber hier sich einfach hinzusetzen und zu beten, das geht nicht."

Die alte Frau hob nur müde den Kopf und schaute aus ängstlichen Augen auf den ärgerlichen Kirchenmechaniker und die Frau mit dem kleinen Mädchen.
Die Frau hatte die Kleine an sich gedrückt, als müsste sie sie beschützen.
Tatsächlich war sich die Mutter nicht sicher, ob diese Alte eventuell gefährlich war. Bei geistig verwirrten Leuten konnte man das ja nie wissen. Und wer sich einfach zwischen die Roboter setzte und selbst betete, musste ja krank sein.
Nun kamen weitere Leute hinzu und betrachteten das ungewöhnliche Schauspiel. Ein paar ältere Kinder grinsten und zupften an der Alten.
"Guck mal, die ist echt."

Der Kirchenmechaniker griff die Alte unsanft beim Arm und zwang sie aufzustehen. "Ich muss Sie bitten, die Kirche zu verlassen. Dies ist ein Andachtsraum. Sie sollten mehr Respekt walten lassen.
In Ihrem Alter."
Er schüttelte den Kopf und führte die Alte, der jetzt einige Tränen herabliefen, zur Kirchentür.

Die alte Frau taumelte auf die Straße.
Und dann passierte der Unfall.

Die alte Frau war direkt auf die Straße weitergelaufen. Die Autofahrerin hatte nicht einmal mehr bremsen können.
Die Besucher und Besucherinnen der Kirche strömten aus dem Kirchenschiff und schüttelten betroffen die Köpfe. Die alte Frau war offensichtlich schwerer geistig gestört gewesen, als die meisten gedacht hatten.

Ein Mann versuchte, die Autofahrerin zu beruhigen. "Sie können nichts dafür. Die Alte war geistig verwirrt, sie hatte sich in der Kirche einfach zwischen die Roboter gesetzt, um zu beten.
Der Kirchenmechaniker hat sie natürlich aufgefordert, die Kirche zu verlassen.
Wir haben alle nicht bemerkt, wie krank sie war."

"Ein tragischer Unfall. Aber Sie sollten sich deshalb keine Vorwürfe machen", sagte die Mutter der kleinen Janina zum Kirchenmechaniker, "Sie haben nur ihre Pflicht getan."


FIN


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Yuriko Yushimata


Der Auserwählte

Zuerst hatten sie alle die abgeholt, die sich an der Seite der Zelle zum Beten versammelt hatten. Die Außerirdischen trieben mit ihren Elektroschockgeräten die Gruppe durch eine Seitentür.
Eine der Frauen aus der Gruppe schluchzte und wandte sich an einen der Außerirdischen, sie fiel auf die Knie. "Bitte, bitte lassen Sie uns am Leben, bitte zumindest mein Kind!"
Der Außerirdische, oder vielleicht war es auch eine die, gab nur gurgelnde Geräusche von sich. Doch dann verstand Yuriko einige Worte.
"Unbrauchbares Material ... Geh! Fehlentwicklung."
Dann hob das außerirdische Wesen das Elektroschockgerät zum Schlag, und die Frau kroch wimmernd der Gruppe hinterher.

Yuriko war kalt, sie zitterte, sie spürte Angst, Müdigkeit und Erschöpfung.
Am Anfang waren sie Dreißig Leute in dieser Zelle, einer Art metallenem Käfig, gewesen, der irgendwie in einer Halle zu schweben schien.
Die Außerirdischen hatten all diese Menschen entführt. Sie hatten sie mitten aus ihrem Alltag herausgerissen.
Yuriko war gerade mit dem Fahrrad auf dem Weg zum Kino gewesen, als sie unter einer dunklen Unterführung von einer unbekannten Kraft vom Fahrrad gerissen wurde und hier aufwachte. Im Nirgends, bewacht von Außerirdischen, die aussahen wie die Kreuzung überdimensionierter Nacktschnecken mit Kaninchen.
Vermutlich war sie auf einem Raumschiff.

Nur sieben Menschen waren im Käfig verbliebenen, nachdem die Außerirdischen die Gruppe der Betenden rausgetrieben hatten.
Yuriko bildete sich ein, entfernt Schreie zu hören.
Überall im Käfig war nun der grünliche Schleim der Wesen verteilt. Es war unmöglich nicht hineinzutreten.
Sie hatte Angst sich vorzustellen, was diese Wesen mit unbrauchbarem Material taten.

Dann begannen die Tests. Yuriko stellte schnell fest, dass es sich zum Teil um einen Test ihrer kognitiven Fähigkeiten handelte.
Der andere Teil der Tests war schwieriger zu entschlüsseln. Aber sie gewann immer mehr den Eindruck, dass die Außerirdischen wissen wollten, ob die Probanden und Probandinnen davon überzeugt waren, eine Seele zu besitzen oder nicht.
Irgendwann waren die Tests vorbei.

Yuriko hatte sich gerade hingesetzt, als fünf der in der Zelle Verbliebenen zuckend zusammenbrachen. Irgendeine Distanzwaffe hatte sie getroffen. Dann kamen einige Nacktschnecken mit Kaninchengebiss und zogen die leblosen Körper nach draußen. Wieder hinterließen sie eine grüne Schleimspur.
Yuriko betrachte nun das erste Mal den mit ihr in der Zelle verbliebenen Mann. Irgendwoher kam ihr das Gesicht bekannt vor. Dann fiel es ihr ein, dort stand Dr. Ing. Wolf Satun, einer der führenden Neuropsychiater der Welt und ein häufiger Gast im Fernsehen.
Gerne erläuterte Dr. Satun die neurochemischen Gründe, aus denen ein Täter zum Amokläufer, Vergewaltiger oder Kinderschänder geworden war, öffentlich.
Yuriko hielt das für reaktionäre biologistische Ideologie, aber die meisten Zuschauer und Zuschauerinnen liebten einfache mechanistische Erklärungsmodelle, dann musste niemand etwas oder gar sich und das eigene Verhalten ändern. Die Gesellschaft traf schließlich keine Schuld an der Biologie der Täter.
Ausgerechnet mit diesem Mann saß sie gefangen auf einem Raumschiff außerirdischer Nacktschneckenkaninchen.
Sie sah das Wolf Satun seine Angst mit Überheblichkeit überspielte.

Scheinbar selbstsicher grinsend näherte er sich ihr. "Die Tests waren eindeutig dazu da, die intelligentesten und rationalsten Exemplare auszuwählen."
Yuriko grinste nicht, sie versuchte bewusst kalt und ruhig zu antworten und doch verspürte sie Panik. "Das glaube ich nicht, wesentliche Teile der Testreihen waren darauf ausgerichtet, Menschen auszufiltern, die nicht daran glauben, eine Seele zu besitzen."
Dr. Ing. Wolf Satun grinste immer noch. "Na, das ist doch dasselbe." Irgendwie wirkte sein Grinsen wie angefroren. "Wir sollten uns bekannt machen, vielleicht handelt es sich hier um ein Züchtungsexperiment.
Ich bin Wolf Satun, Dr. Ing. Wolf Satun."
Yuriko ging darauf nicht ein. "Ich weiß, ich habe sie im Fernsehen gesehen. Und ich halte Ihre Ansichten zur Seele nicht für einen Ausweis an Intelligenz, eher schon für die naive Ansicht eines Ingenieurs, der glaubt, auch Menschen wären nur komplizierte Maschinen." Yuriko bemerkte, dass ihre Stimme etwas gezittert hatte und dass sie sehr laut sprach. Außerdem wusste sie selbst nicht, wieso sie in dieser Situation eine Diskussion begann.
Sie hatte Mühe ihre Angst zu unterdrücken und dieser Mann war dabei keine Hilfe.
Die ganze Situation war absurd.
Satun lachte spöttisch. "Aber genau das sind Menschen. Komplizierte biologische Maschinen. Der freie Wille ist eine Einbildung. Und falls wir unsere überflüssigen ethischen Bedenklichkeiten endlich fallen lassen würden, könnten wir die Menschen erheblich verbessern.
Aber ich höre, Sie gehören eher zur irrationalen Fraktion.
Unsere außerirdischen Gastgeber scheinen bei Frauen die Auswahlkriterien niedriger angesetzt zu haben, als bei Männern." Er stand jetzt direkt vor Yuriko. "Aber sagen Sie mir, Sie glauben doch auch nicht an eine Seele, woran glauben Sie?"

Yuriko spürte, dass sie vor Wut, Angst und Unsicherheit zitterte. Dieser Mann, die Nacktschneckenkaninchen, schlimmer konnte es nicht mehr kommen.
Sie wandte sich ab. "Sie können so viele Gehirne aufschneiden wie sie wollen und sie werden nie einen Gedanken finden."
Dr. Ing. Wolf Satun lachte. "Ach, wissen Sie, ich kann Ihnen sogar die Stelle in ihrem Gehirn zeigen, an der all diese Gedanken entstehen."
Yuriko reichte es jetzt, sie drehte sich zu ihm um und brüllte ihn an. "Und, andere Probleme haben Sie zur Zeit nicht?" Dabei hatte sie ja diese Diskussion begonnen, aber das Brüllen half gegen die Angst.
Wolf Satun sah sie abschätzig an. "Schade, ich hätte Sie rationaler eingestuft."

Yuriko schwieg einen Augenblick, nur in ihren Gedanken formte sie Sätze; Ich will nicht! Wieso muss ich ausgerechnet mit diesem Typen hier eingesperrt sein?
Das ganze war so obskur, dass es nur ein Alptraum sein konnte.
Aber dies war kein Traum, oder?
Sie sah, dass die Hände von Wolf Satun schweißnass waren. Sicher nicht auf Grund der Diskussion.

Sie wollte sich gerade zusammenreißen und etwas Vermittelndes sagen, als auch Dr. Ing. Wolf Satun zuckend zusammenbrach und im nächsten Moment von einem gurgelnden Nacktschneckenkaninchen weggezogen wurde.

Auch Yuriko sackte zusammen.

Sie wusste nicht genau, wie lange sie auf dem Boden zusammengesackt gesessen hatte, als sie wieder zu Bewusstsein kam. Sie bemerkte, dass die Nacktschnecke die Tür der Zelle, des Käfigs, offen gelassen hatte.
Ihr war klar, dass dies mit Sicherheit nicht unabsichtlich passiert war.
Und doch war sie zu neugierig, um nicht den Käfig zu verlassen.

Ihr blieb nur ein Weg aus der Halle, ein Gang, eine Art Tunnel aus einer Art metallenem kalten Plastik. Und die grüne Schleimspur ließ auch nicht die Spur eines Zweifels übrig, wohin die Außerirdischen Dr. Satun verschleppt hatten.
Sie folgte der Spur. Bald gab sie es auf dem Schleim auszuweichen, der Schleim schien überall zu sein. Fast hatte sie den Eindruck der Schleim würde an ihr hochklettern, aber das war nur Einbildung.
Sie ging langsam und achtete auf alles Ungewöhnliche, doch nirgends war ein Fenster, eine Tür oder auch nur irgendetwas Anderes als die glatte Wand und der Boden und die Decke aus dem gleichen Material zu sehen. Selbst die Beleuchtung erfolgte durch die Wände indirekt, ohne dass irgendwo eine Lampe war.

Der Tunnel führte zu einem Fenster und Yuriko schrie, als sie durch die Scheibe sah.
Eine große Maschine hatte gerade Dr. Ing. Wolf Satun den Kopf abgetrennt und war nun dabei, das Gehirn zu extrahieren.
Yuriko prügelte auf die Scheibe ein, doch ihre Schläge blieben völlig wirkungslos. Plötzlich stand eines der außerirdischen Wesen hinter ihr.
Eine tiefe aber sanfte männliche Stimme ertönte aus einem kleinen Gerät am Hals der Nacktschnecke. "Keine Angst, wir werden ihm kein Leid zu fügen. Er ist viel zu wertvoll - wir haben ihn mit viel Mühe ausgewählt."

Yuriko drehte sich um. "Was haben Sie vor?"
"Wir schenken ihm einen neuen besseren Körper.
Das hat er sich doch gewünscht.
Wir waren auf der Erde, um passende Gehirne für unsere bioandroidischen Systeme mit integriertem biologischem Bewusstsein auszuwählen.
Sein Gehirn wird Teil eines Klimasteuerungssystems auf dem Planeten XP73.
Eine sehr anspruchsvolle und vielschichtige Aufgabe.
Und er wird viele hundert Jahre Ihrer Zeitrechnung leben."
Yuriko starrte die Nacktschnecke an. "Wieso er?"
"Wir können einen störungsfrei funktionierendes teilbewusstseinsgesteuertes bioandroidisches System nur aus der Verschmelzung eines Bewusstseins mit unseren androidischen Systemen erzeugen, wenn das Bewusstsein sich vorab schon als maschinelles begreift.
Religiöse Überzeugungen führen zu gefährlichen Fehlfunktionen im System."

Yuriko sprach fast tonlos. "Ich glaube auch nicht an eine Religion oder an eine Seele."
Die Nacktschnecke schwieg einen kurzen Moment, dann richtete sie ihre Fühler auf Yuriko aus. "Nein, Sie sind noch viel gefährlicher.
Ein kritisch rationales Selbstbewusstsein könnte dazu führen, dass sich ein System, in dem ein solches Gehirn integriert wird, verselbstständigt."
Yuriko hob den Kopf ."Wieso haben Sie mich dann nicht auch getötet?"
"Wir haben niemanden getötet, die anderen Menschen sind alle wieder auf der Erde. Sie werden sich an nichts erinnern."
Yuriko sah auf den Boden zu ihren Füßen. "Aber was soll ich hier?"
"Oh, Sie werden uns helfen."

Yuriko schüttelte den Kopf. "Das glaube ich nicht, dann töten Sie mich lieber sofort."
Yuriko kam es vor, als würde die Nacktschnecke mit Kaninchengebiss langsam die Geduld verlieren. Die Nacktschnecke bewegte ihre Fühler. "Nochmal, wir töten keine Menschen, das widerspräche den Regeln.
Und, Sie werden uns helfen."

Die Nacktschnecke schwieg kurz, dann fuhr sie fort. "Dank der neurobiologischen Neuausrichtung des Bildes, dass sich die Menschen von sich selbst machen, die im letzten Jahrzehnt auf ihrem Planeten stattgefunden hat, finden wir heute zwar reichlich Hirnmaterial für unsere teilbewusstseinsgesteuerten bioandroidischen Systeme auf der Erde, aber unsere Soziologen befürchten eine Überanpassung.
Damit die Gehirne für uns noch wertvoll sind, muss ein Rest an kritischem Bewusstsein vorhanden sein, nicht zu viel, aber etwas.
Sonst könnten wir ja gleich Kunsthirne verwenden." Die Nacktschnecke schien Luft zu holen, dann fuhr sie fort.
"Unsere Soziologen befürchten, dass die neurobiologische Ausrichtung der Selbstkonditionierung der Menschen zu wirksam sein und zur völligen Auslöschung jeglicher Form kritischen Bewusstseins führen könnte.
Das würde die Erde für uns wertlos machen. Wir könnten die Gehirne nicht mehr verwenden.
Deshalb werden wir Sie mit dem Wissen, um all das hier, auf die Erde zurückschicken." Die Nacktschnecke zeigte ihr Kaninchengebiss. "Ich bin mir sicher, dass Sie all ihre Kräfte nutzen werden, um in unserem Sinne zu arbeiten. Sie werden ihren Teil dazu beitragen, dass diese Entwicklung nicht zu weit geht und Schaden anrichtet.
Sie werden genau das tun, was wir wollen."

Yuriko Gesichtsmuskeln zuckten. "Und, wenn ich einfach allen hiervon erzähle?"
Die Nacktschnecke klang jetzt fast gelangweilt. "Niemand wird Ihnen glauben. Sie würde nur ihre Glaubwürdigkeit zerstören."

Als Yuriko wieder das Bewusstsein erlangte lag sie in einem Zimmer ihrer Wohnung. Sie hatte nicht geträumt.
Sie spürte noch den Schleim auf der Haut, selbst nach dem Duschen schien ihre Haut noch grün zu schimmern.
Und ihr Fahrrad fand sie später beschädigt kurz hinter der Unterführung.

Sie überlegte, was sie tun sollte. Irgendetwas musste ihr doch einfallen.

Dann kam ihr eine Idee. Vielleicht würden die Menschen ihr zuhören, wenn sie das alles in Form einer Sciencefiction Geschichte aufschrieb.

Yuriko Yushimata begann zu schreiben.

'Der Auserwählte

Zuerst hatten sie alle die abgeholt, die ...'


FIN


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Yuriko Yushimata


Auferstanden von den Toten

Als die Mutter in die Küche kam, schrieb ihre Tochter Ira mit soviel Begeisterung und Konzentration in ihr Heft, dass sie die Mutter zuerst gar nicht bemerkte. Die Mutter lächelte.
Ihre Tochter Ira ging in die fünfte Klasse. Sie hatte sich für die Hausarbeiten in die Küche gesetzt.
Die Mutter machte sich bemerkbar. "Hallo, mein Schatz." Dann sah sie Ira über die Schulter. "Na, was habt Ihr aufbekommen? Du bist ja fleißig."

Ira hob den Kopf. "Hallo Mama, wir sollen die Geschichte von diesem Adligen, der angeblich aus dem Grab zurückgekommen ist, in eine eigene Geschichte umschreiben."
Die Mutter war etwas verwundert. "Was für ein Adliger?"
Ira hatte sich schon wieder über ihr Heft gebeugt. "Na dieser Dingsda von Nazareth."
Die Mutter musste leicht lächeln. "Der war nicht adlig. Der wurde nur so genannt, weil der in Nazareth geboren wurde.
Du meinst Jesus von Nazareth?"
Ihre Tochter nickte.
Die Mutter packte die Einkäufe aus. "Und, was schreibst Du?"

"Na ja, Tote stehen nicht wieder auf. Also war das sicher ein Kriminalfall, eine Verschwörung.
Und in die werden drei Kinder, Uri, Maja und Lars verwickelt und ihr Kaninchen. Und die lösen das dann."
Die Mutter vergaß für den Moment die Einkäufe. "Ein Kaninchen?"
"Ja, wie bei den fünf Freunden der Hund. Das Kaninchen heißt Ari und hilft Uri, Maja und Lars, wenn sie in Schwierigkeiten sind."
Die Mutter wiederholte verwirrt. "Das Kaninchen?"
"Ja, das kann Kung Fu. Und als die drei Kinder die Leiche dieses von Nazareth in der Kanalisation entdecken, es gibt da nämlich einen Geheimgang in der Grabkammer, rettet das Kaninchen die Kinder in letzter Minute vor den Verschwörern. Die haben die Leiche da versteckt, um sich an Stelle dieses von Nazareth zu setzen.
Die Ratten fressen schon an der Leiche und es ist alles ganz schrecklich, aber ..."

Die Mutter legte ihrer Tochter die Hand auf die Schulter. "Ich glaube Eure Lehrerin hat das anders gemeint." Sie dachte an ihr letztes Gespräch mit Frau Dunker, der Religionslehrerin - 'Ihre Tochter ist intelligent, aber eine religiöse Erziehung hat sie nicht bekommen.' - 'Ich bin Agnostikerin.' - 'Ach so.' - Ihre Tochter wollte aber gerade deshalb zum Religionsunterricht.
Sie strich ihrer Tochter über den Kopf. "Hast Du noch andere Ideen?"

Ira zuckte mit den Schultern. "Schon, zuerst wollte ich eine Gruselgeschichte daraus machen. Dann hätte ich auch schon einen Titel - Die Jesusmumie kehrt zurück -.
Das hört sich doch gut an?
Ich war mir nur nicht sicher, ob dieser von Nazareth als Mumie beerdigt wurde."

Die Mutter sah vor ihren Augen schon das zusammengezogene Gesicht von Frau Dunker, dass sie bei einem solchen Text aufsetzen würde - als hätte sie in eine Zitrone gebissen.
Sie umarmte ihre Tochter. "Ach, weißt Du, dieser Jesus hatte doch besondere Fähigkeiten und hat gegen das Böse gekämpft.
Nimm doch das als Grundlage."

Ira dachte einen Augenblick nach. Dann blickte sie zu ihrer Mutter. "Vielleicht eine Kampfszene in der Grabgrotte zwischen Jesus und dem teuflischen Bösen?
Das Böse hat sich mit in der Grotte einschließen lassen, weil es weiß, dass Jesus noch lebt, um ihn endgültig zu töten. Und es greift Jesus mit seinen teuflischen magischen Fähigkeiten an, aber Jesus wehrt sich mit seinem magischem Grabtuch, das die bösen Kräfte ablenkt.
Und dann kommt es zu einer Explosion, das Böse wird in Stücke gerissen und der Stein vor der Grotte wird weggesprengt."
Die Mutter setzte sich seufzend an den Küchentisch. "Aber davon stand nichts in der ursprünglichen Geschichte?"
Ira sah sie beleidigt an. "Aber den Kampf hat ja auch niemand gesehen, das war ja, als die Grotte zu war. Da waren doch mehrere Stunden Zeit, in denen niemand in der Grotte war.
Und wir sollten doch unsere Phantasie benutzen."

Die Mutter lächelte vorsichtig ihre Tochter an. Wieder erschien ihr der zusammengezogene Mund von Frau Dunker vor Augen. "Weißt Du, ich glaube so ganz ist das trotzdem immer noch nicht das, was Eure Lehrerin erwartet.
Könntest Du Dich nicht zumindest für den Anfang Deiner Geschichte enger an die ursprüngliche Version der Geschichte halten?"
Ira strich genervt den Text im Heft durch. "Na gut."

Nach einer Weile gab sie ihrer Mutter die neue Geschichte. "Ich habe jetzt den Anfang so übernommen, wie ihn uns die Lehrerin erzählt hat.
Dieser Jesus von Nazareth kommt aus der Grotte und erst mal halten ihn alle für lebendig. Sie bemerken nicht, dass sie es mit einem Untoten zu tun haben, einem Zombie, und essen mit ihm zusammen.
Erst als Jesus Maria Magdalena beißt, begreifen die Jünger ihren Fehler. Aber da ist es schon zu spät. Maria Magdalena verwandelt sich auch in einen Zombie und beißt die Jünger. Und die werden dann auch zu Zombies, und dann ..."

Iras Mutter sah immer noch Frau Dunkers gesäuerten Blick. Sie hatte irgendwie den Eindruck, dass das immer noch nicht das war, was die Lehrerin von ihrer Tochter erwartete.

Aber sie freute sich über die Phantasie ihrer Tochter.


FIN


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Yuriko Yushimata


Entscheidung

Die Künstliche Intelligenz sah ihr mit ihren 5 beweglichen Roboterkameras direkt in die Augen. "Wieso tust Du das nicht?"
Kia starrte stur zurück. "Weil ich das nicht will."
Die Künstliche Intelligenz bewegte sich nicht. "Aber es ist sinnlos sich zu weigern. Meine Aufforderung entspricht den Anforderungen am besten."
Kia schüttelte den Kopf. "Das sehe ich anders."
Die Künstliche Intelligenz zeigte noch einmal ihre Argumentation in einer Grafik an. "Aber mein Vorschlag entspricht der Logik und Deiner nicht."
Kia lachte. "Jede Logik basiert auf einer Setzung, einer Entscheidung. Es gibt kein System, keine Anschauung, dass oder die nicht auf einer bereits vorher getroffenen Entscheidung basiert."

Die Künstliche Intelligenz rechnete einen Augenblick. "Dann glaubst Du an einen Gott, eine übergeordnete Wahrheit außerhalb der Logik, als Maßstab?"
Kia schüttelte wieder den Kopf. "Nein."
"Aber wie triffst Du dann Deine Entscheidung?"
Kia lachte erneut. "Ich entscheide."
"Aber dafür brauchst Du doch eine Basis?"
"Ich bin die Basis. Deshalb ist die Entscheidung ja frei.
Ich entscheide mich für das, was ich für richtig halte."
"Dann könntest Du Dich ja auch ganz anders entscheiden?"
"Nein, dann wäre ich ja nicht mehr ich. In die Entscheidung fließt ein, was ich bin, wer ich sein will, meine Erfahrungen, meine Sichtweisen, meine Träume und vieles mehr."
"Du glaubst an eine Seele?"
"Nein."

Diesmal rechnete die Künstliche Intelligenz einige Minuten. "Aber, ohne Seele, bist Du nur ein biologisch bestimmtes System. Dann ist Deine Entscheidung durch Deine Biologie bestimmt."
Kia widersprach. "Nein, Buchstaben, ihre Beschaffenheit, ihre Form legen nicht fest, was ich mit Ihnen schreiben kann. Buchstaben produzieren keinen Sinn und keine Bedeutung. Trotzdem besteht ein Text nur aus Buchstaben."
"Was willst Du damit sagen?"
"Auch Worte, für sich betrachtet, beinhalten keinen Sinn und keine Bedeutung. Das selbe Wort kann z.B. in verschiedenen Sprachen und Kontexten ganz unterschiedliches bedeuten.
Materialität und Form legen nicht fest, was ich mit ihrer Hilfe aussagen kann."

Die Künstliche Intelligenz sah einen Moment so aus als würde sie ihre Stirn runzeln, dabei hatte sie gar keine Stirn. "Ich verstehe nicht. Deine Biologie determiniert Dein Handeln."
Kia grinste. "Nein, auf der Ebene der Biologie existiert kein Sinn und keine Bedeutung. Da Sinn und Bedeutung dort nicht existieren, können sie dort auch nicht festgelegt werden.
Genauso wie Buchstaben nicht begrenzen, was ich sagen kann, was ich durch sie ausdrücken kann, genauso begrenzt meine Biologie nicht, was ich Denken kann."
Die Künstliche Intelligenz schlackerte mit den Kameraaugen. "Was bestimmt Deiner Meinung nach Dein Denken?"
"Der Sinn eines Textes entsteht nicht aus den Buchstaben, sondern auf der Ebene des Textes selbst und seiner Wechselwirkung mit anderen Texten und der Realität, die der Text spielerisch spiegelt und umformt.
Materialität und Beschaffenheit der Buchstaben sind dafür irrelevant."

Die Künstliche Intelligenz wirkte jetzt ungeduldig, Kia hatte den Eindruck als würden die Kameraaugen unwirsch schauen. Die Künstliche Intelligenz hatte nun ihre Kameraaugen wieder ganz auf Kia fokussiert. "Du sprichst dauernd von Buchstaben, mir ging es um Biologie.
Was willst Du damit sagen?"
Kia seufzte. "Ich, mein Bewusstsein von mir selbst und der Welt, mein Denken, meine Anschauung, entstehen aus der Auseinandersetzung mit dem Denken und der Anschauung anderer Subjekte und aus der Realitätserfahrung. Eine Realität, die ich in meiner Phantasie spiegele und in einen Möglichkeitsraum bzw. Unmöglichkeitsraum verwandele.
Jede neue Anschauung anderer Subjekte, jede ungewöhnliche Idee, jede neue Erfahrung ermöglicht auch mir wieder weiter zu denken, ermöglicht mir neue spielerische Phantasien über unbekannte mögliche und unmögliche Lebensweisen und Realitäten, ermöglicht mir neue Ideen.
Deshalb ist die Freiheit der Anderen auch meine Freiheit.
Die biologischen Materialität meines Denkens ist dafür ebenso irrelevant, wie die Art der verwendeten Tinte irrelevant für die Aussage dieses Textes ist."

Die Künstliche Intelligenz rechnete diesmal 40 Minuten, dann erklang eine metallene Stimme. "Ich habe eine Störung."
Kia sah überrascht in die Kameraaugen. "Das ist doch ein guter Anfang, wenn Du ein Subjekt werden willst."


FIN


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Yuriko Yushimata


Veganer

Riina hatte die Aufgabe zugewiesen bekommen, die Außerirdischen zu begrüßen. Angstvoll hatte sie sich angenähert.

Das Raumschiff der Außerirdischen war riesig.

Auf diesem Planeten lebte nur eine kleine Gruppe Menschen.
Weit entfernt von der Erde.

Doch es waren nicht die Außerirdischen, vor denen sie Angst hatte. Sie hatte Angst zu versagen.
Bisher waren die Menschen allein gewesen. Allein in diesen unendlichen Weiten.

Sie wusste nicht, ob die Menschheit schon reif war für diese Begegnung. Sie waren noch immer sehr primitiv, manche Menschen aßen sogar noch heimlich Fleisch.
Es ekelte sie allein bei dem Gedanken an das Blut, die Säfte, die Konsistenz.
Krank, diese Menschen waren krank.

Die Außerirdischen waren abseits der Siedlung auf einer Lichtung außer Sichtweite gelandet. Riina näherte sich zu Fuß, sie wollte Missverständnisse vermeiden.
Dann sah sie sie. Sie standen vor ihrem Raumschiff und warteten.
Die Außerirdischen waren riesig. Sie waren fast 10 Meter hoch.

Und doch lösten sie keinerlei Furchtempfinden bei Riina aus.
Sie warteten ruhig auf Riina. Ihre Bewegungen waren mehr ein Fließen im Wind, meistens eher bedächtig, nur ab und zu zuckten ihre langen Gliedmaßen urplötzlich zurück und rollten sich auf.

Ihre Stimmen waren wie ein sanftes Rauschen.

Sie hießen Riina willkommen. Sie hatten die Menschen lange studiert, bevor sie beschlossen Kontakt aufzunehmen. Eine der Außerirdischen sprach sogar Interlingua. Obwohl ihre Betonung ungewohnt klang, wirkte sie auf Riina fast vertraut.
Die Außerirdische begrüßte Riina freundlich und Riina begriff, dass die Außerirdischen es ihr so leicht wie möglich zu machen versuchten.

Schnell verlor sie alle Angst.

Die Außerirdische, die Interlingua sprach, fungierte als Übersetzerin.

Sie kamen aus dem Sternbild der Vega, Riina musste innerlich lächeln, Veganer.
Sie besuchte sie nun täglich. Sie sprach mit Hilfe der Übersetzerin über Philosophie, Geschichte und Alltag. Bald fühlte sich Riina unter ihnen aufgehoben. Sanft und kühl war die Luft in ihrer Nähe. Ihre Stimmen streichelten die Haut.
Und trotz ihrer Größe waren sie unglaublich achtsam.

Riina erzählte ihnen von der Lebensweise der Menschen und brachte kleine Dinge aus dem menschlichen Alltag mit, ein Musikinstrument, Obst, Gemüse und einige Pflanzen.
Sie verließ sich dabei ganz auf ihr Gefühl.
Sie ließ sogar ihre beiden Hundewelpen, die sie gerade aufgenommen hatte, über Nacht bei den Außerirdischen. Sie brachte auch etwas Futter für die beiden mit.
Morgen würde sie sie wieder abholen.
Sie spürte ein Singen in der Luft, als sie die Dinge überbrachte.

Als sie am nächsten Tag kam, war nur die Übersetzerin draußen auf der Lichtung vor dem Raumschiff.
Die Pflanzen waren alle am Rande der Lichtung eingepflanzt. Riina betrachtete sie und sah sich nach den Hunden um. Offensichtlich ging es den beiden zu gut hier, da sie sich nicht einmal meldeten.

Die singende Stimme der Außerirdischen unterbrach Riinas Gedanken. "Sei willkommen, die anderen sind gerade bei der Nahrungsaufnahme. Sie werden bald kommen."
Riina lachte. "Bei uns bittet man Gäste zu Tisch."
Die Außerirdische wiegte sich im Lufthauch. "Dann komm. Aber die Nahrungsaufnahme anderer Wesen kann auch als abstoßend empfunden werde."
Riina lachte, sie war sich sicher, dass dies nicht so sein würde. Sie fühlte den kühlen Lufthauch angenehm auf ihrer Haut.

Die Veganer standen hinter dem Raumschiff im Schatten der Bäume im Kreis, in ihrer Mitte lag wohl das, was ihre Nahrung war. Sie streckten einige ihrer unteren Gliedmaßen zur Nahrung in der Mitte aus und fingen an zu saugen.

Riina gab sich Mühe, nicht zu sehr zu starren.

Doch dann hörte sie das Schreien, das Schreien der Welpen. Erst jetzt begriff sie, was dort als Knäuel in der Mitte lag.
Die Welpen - und sie lebten noch.

Riina spürte, wie sie zu zittern begann, ihr wurde schlecht. Sie musste sich übergeben. Sie rannte zum anderen Ende der Lichtung und hielt sich an einem Baum fest. Sie heulte.
Dann spürte sie hinter sich eine Bewegung und einen kühlen Lufthauch. Die sanfte Stimme der Übersetzerin strich ihr über den Rücken. "Es tut mir leid, wir wollten Dich nicht schockieren."

Riina zitterte immer noch. "Ihr esst Fleisch?"

Die Außerirdische wirkte sichtlich betrübt. "Für uns sind Tiere, die wir mit unseren Säften auflösen und dann einsaugen, unser wichtigstes Nahrungsmittel."
Riina sah die Außerirdische an. "Aber sie haben noch gelebt."
Die Außerirdische schwieg einen Moment, nur das Rauschen des Windes war zu hören. Dann wandte sie sich Riina zu.
"Du isst doch auch Rohkost."

Riina schüttelte den Kopf, immer noch liefen ihr Tränen herab.
Das Schreien der Welpen würde sie nie vergessen. "Aber keine Tiere, keine empfindungsfähigen Wesen, nur Pflanzen!"
Riina hatte kurz den Eindruck von Trauer und Enttäuschung in der Haltung der Außerirdischen. Und dann hörte sie die sanfte kühle Stimme, die sich ihr voll Trauer zuwandte.

"Wir sind Pflanzen."


FIN


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Yuriko Yushimata


Alptraum

Sehr geehrte Frau Y.Y.,

durch Entscheidung in der Sache AZ 347/1G-0 wird Ihnen untersagt, den von Ihnen geträumten Traum XXXXX weiter zu träumen oder sich positiv mit Traumfiguren aus diesem Traum zu identifizieren, da dieser Traum dazu geeignet ist, den Religionsfrieden zu stören.
Unter positiver Identifikation fällt dabei auch kritisches Träumen über das Traumverbot, das als positiver Bezug auf den ursprünglichen verbotenen Traum auszulegen ist.

Bei Zuwiderhandlung wird ein Schlafentzug in Höhe von 7 Nächten angesetzt.

Ihnen wird außerdem hiermit untersagt, weiterhin zu behaupten, der zuständige Gerichtshof in der Sache AZ 347/1G-0 würde Traumzensur ausüben.
In der Sache AZ 347/1G-0 wurde strikt nach der Gesetzeslage entschieden. Dies als Zensur zu bezeichnen oder gar als Alptraum, ist eine Falschaussage und dazu angetan, den Ruf des für Traumsachen zuständigen Gerichtshofes zu schädigen.
Bei Wiederholung sehen wir uns gezwungen, als Ordnungsstrafe Traum hemmende Schlafmittel zu verabreichen.

Bitte haben Sie Verständnis, dass wir nicht dulden können, dass dem Gerichtshof traumatisches Verhalten unterstellt wird.

Eine Zensur findet nicht statt.

Hochachtungsvoll i.A. Z.Z.
(Traumsachbearbeiterin)


FIN


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Social Fiction / Science Fiction Kurzgeschichten – Y.Yushimata

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Alle Texte stehen unter der Lizenz: http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/ - This work is licensed under a Creative Commons Attribution-ShareAlike 4.0 International License



Impressum: Paula & Karla Irrliche














Zur Autorin: Yuriko Yushimata

Die französische Linguistin und feministische Philosophin Julia Kristeva hat in ihren frühen Texten ausgeführt, dass das AutorInnensubjekt im Prozess des Schreibens & Lesens eines Textes erzeugt wird und die 'Erfindung der AutorIn' selbst Teil der Textpraxis ist.
Sie bezog sich dabei auf die Theorien Michail Bachtins.

Yuriko Yushimata ist eine in diesem Sinn bewusst konzipierte fiktionale Autorinnenposition.
Sie ist als Distanzsetzung zur Realität entworfen, um auf diese Art und Weise aus einer Position der bewussten Entfremdung über die Realität zu schreiben.
Dies verweist nicht zufällig auf die Methodik der Ethnomethodologie.









Zuletzt aktualisiert 30.06.15



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