Virus Mutant
Yuriko Yushimata – Science (Social) Fiction Short Stories
Wie leben Sie mit Ihren Viren, gehen Sie regelmäßig mit ihnen spazieren? In der pointierten Zuspitzung erinnern diese Texte an die Kurzgeschichten von Philipp K. Dick und in ihrem Humor an Stanislaw Lem.
Inhalt
Yuriko Yushimata
Geliebter Virus
Das erste, was sie bemerkte, war, dass ihre Blutungen ausblieben. Ihre Haut veränderte sich und ihr Appetit. Etwas wuchs in ihr. Sie wusste, dass es kein Kind war und doch war es ein Teil von ihr. Etwas, was leben wollte. Sie entschloss sich, es zu lieben und umschlang sich zärtlich mit ihren Armen.
Der Arzt diagnostizierte eine unheilbare gefährliche Viruserkrankung. Das war ihr egal, was wusste der Arzt schon von dem, was in ihr wuchs.
Ihrem Mann verschwieg sie es, es war ganz ihres.
Sonst hatte sie ja nichts.
Stück für Stück nahm es sie ganz in Besitz. Als die Geschwüre nach außen traten, konnte sie es ihrem Mann nicht mehr verheimlichen. Zusammen mit dem Arzt wollte er es ihr wegnehmen. Sie wollten es rausschneiden. Das konnte sie nicht zulassen. Aber sie hatte inzwischen Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. Der Schmerz war jetzt ihr dauernder Begleiter. Nur in den Momenten, in denen der Schmerz so stark wurde, dass er sie ganz nahm, war sie wieder bei sich. Die Geschwüre schmiegten sich an, der Schmerz durchflutete ihr Gehirn. Es war lange her, dass sie in dieser Form vollständig begehrt wurde, und sie gab sich ganz hin.
Früh in der Nacht kletterte sie aus dem Fenster. Sie fror und schwitzte, aber sie hatte eine Aufgabe. Sie hatte sich über ihr dünnes Sommerkleid einen dicken alten Mantel gezogen. In der Straßenbahn setzte sie sich unauffällig in eine Ecke.
Niemand beachtete sie.
Sie stieg um in die Linie 11. Im Industriegebiet stieg sie aus.
Hier in der Konservenfabrik hatte sie einmal gearbeitet, nur kurz, nur einige Monate lang. Im Zaun war ein Loch und eines der Kellerfenster war beschädigt.
Sie hatte Glück und kam ohne Probleme in die Halle mit der großen Maschine. Von oben sah sie in den Bottich des riesigen Fleischwolfs, hier wurden die Wurstkonserven hergestellt. Sie stand an der Metallbrüstung und blickte hinab. Sie erinnerte sich an den Vorarbeiter. "Wenn Sie da hineinfallen, werden Sie zu Wurst verarbeitet, das merkt die Maschine nicht mal. Also passen Sie auf." Sie hatte genau aufgepasst.
Sie zog sich ganz aus und versteckte die Kleidung hinter einigen Palettenstapeln, dann trat sie wieder an die Metallbrüstung, sie stand jetzt da wie Eva im Paradies, zärtlich strich sie über die Unebenheiten der Knoten, die sich überall auf ihrem Körper abzeichneten. Der Schmerz war langsam unerträglich, aber es war ein guter Schmerz. Der Schmerz zeigte an, dass es soweit war. Sie kletterte auf die Metallbrüstung und sprang. Sie würde sterben, aber der Virus würde weiterleben, immer weiter und überall, weltweit. Damit war ihr Tod nicht umsonst.
Sie spürte nur kurz den Aufprall in der Maschine, dann wurde der Schmerz unerträglich, als ihre Gebeine in dem riesigen Fleischwolf zermahlen wurden.
Die Konserven reisten am nächsten Morgen in alle Welt und mit ihnen der Virus.
FIN
Yuriko Yushimata
Die Gottespest
Der Papst hatte zugestimmt, endlich. Der Kardinal war hochzufrieden. Dies war sein Lebenswerk zum Wohlgefallen Gottes, es würde seinen Namen unsterblich machen.
Als Verantwortlicher für die geheimen Genlabore der katholischen Kirche in den polnischen Karparten war er derjenige, auf dessen Initiative DAS PROJEKT zurückging, so nannten es alle, DAS PROJEKT.
Er stand auf der leicht baufälligen Außentreppe der alten Klosteranlage, in deren geheimen Kellerräumen die katholische Kirche die modernste biotechnologische Forschungseinrichtung der Welt unterhielt. Das Kloster lag weit ab jeder modernen Zivilisation in einem Teil Polens, der sich seit dem Zusammenbruch des Sozialismus noch weiter entvölkert hatte. Nachts war das Heulen der Wölfe zu hören. Niemand ahnte etwas von dem, was hier vorging. Selbst die Spitzel des Opus Dei wussten nichts von dieser Anlage.
Die Polen waren zum Glück ein gottesfürchtiges Volk, besonders hier auf dem Land. Als Kardinal wurde er ehrfürchtig gegrüßt, wie Kardinäle vor ihm schon vor Hunderten von Jahren. Die polnischen Zentren der Sünde, Krakau und andere Kulturhauptstädte, waren weit weg. Gerade hatte er den Abgesandten des Papstes verabschiedet. Nun musste es sich erweisen, dass er nicht zu viel versprochen hatte.
Er bekreuzigte sich und erbat Gottes Beistand. DAS PROJEKT konnte in seine letzte Phase gehen.
In der deutschen Kleinstadt irgendwo an einem mittelgroßen Fluss schlichen am helllichten Tage bei schönstem Sonnenschein auffällig viele dunkel gekleidete Mönche mit tief ins Gesicht gezogenen Kapuzen durch die winkligen Gassen. Doch niemand dachte sich groß etwas dabei, vielleicht war es eine kirchliche Tagung. Im Dunkel einer Einfahrt tuschelten zwei der Mönche miteinander. Einzelne Worte wehten durch die Luft.
"... DAS PROJEKT ... Freisetzung hat begonnen ..."
Aber niemand beachtete die Mönche. Die Kleinstadt lebte gut als wichtiges Oberzentrum der Geflügelmast, mit einem der größten Schlachthöfe Europas. Auch in vielen anderen Städten waren die Mönche in diesen Tagen zu sehen. Insbesondere in Städten mit großen Häfen und Flughäfen und einem hohen Anteil an Durchreisenden.
Es waren jetzt schon drei Monate vergangen. Der Kardinal lief unruhig im Büro der Klosterkammer auf und ab. Hier in diesen unscheinbaren Kölner Bürohaus, im reichsten Bistum der Welt, liefen alle Fäden für DAS PROJEKT zusammen. Bisher waren alle Meldungen negativ, keine positiven Ergebnisse waren bisher beobachtet wurden. Schon leistete sich der Sekretär des Bischofs ihm gegenüber Respektlosigkeiten. Er kniete nieder und betete zum Kreuz, das in der Ecke des Zimmers hing.
"Mein Schicksal liegt in Deiner Hand."
Einen Fehlschlag konnte sich DAS PROJEKT nicht leisten, schon wurden Forderungen laut, die exorbitanten Geldmittel zu kürzen.
Einen Tag später kam endlich die erlösende Nachricht, in einer Kleinstadt mit Schlachthof, einem der ersten Freisetzungsorte, begannen die Menschen wieder vermehrt in die Kirchen zu strömen. Noch waren es nicht viele, doch die Zahl der Beichtgänger hatte sich verdreifacht und sie stieg die nächsten Tage weiter.
Der Kardinal dankte Gott, und der Papst rief den Kardinal an und dankte ihm.
In den nächsten Tagen und Wochen breitete sich überall dort, wo sie das Gottesvirus freigesetzt hatten, eine neue Kultur des tugendhaften Glaubens und der Gottesfürchtigkeit aus. Und das Virus verbreitete sich überall auf der Erde.
Der Kardinal sah dies mit Stolz. Nicht überall führte es die Menschen aber zum Christentum. In anderen Regionen profitierten zum Teil, bedauerlicherweise aus Sicht der Kirche, der Islam und der Buddhismus. Doch das hatte der Kardinal erwartet. Der Papst hatte die Freisetzung trotzdem gebilligt. Für den Papst galt es, zuerst den Atheismus zu bekämpfen, die Atheisten waren der gefährlichste Feind, insbesondere für die christliche Kirche.
Der Kardinal teilte diese Einschätzung des Papstes.
Diese Gefahr war nun vorbei, das Ziel war erreicht. Und dabei hatten die Atheisten, die Aufklärer, ihnen die technischen Mittel dafür bereitgestellt. Der Kardinal lachte bei diesem Gedanken. Gott ließ seine Gegner für sich arbeiten.
Fast bereute der Kardinal, dass er eine Schutzimpfung hatte, so glücklich sahen die neuen Gläubigen aus. Aber die Hierarchie der Kirche hatte die Schutzimpfung für alle höheren Diener Gottes zur Bedingung gemacht, ansonsten hätte DAS PROJEKT keine Chance gehabt.
Insbesondere hatte die Angst vor dem selten vorkommenden gegenteiligem Effekt des Virus bestanden.
In einem von 10 000 Fällen führte der Virus zum Atheismus. Leider war es ihnen nicht möglich gewesen, dies auszuschalten.
Die nächsten Monate waren ein Fest für die katholische Kirche. Die Menschen strömten wieder in Massen zu den Gottesdiensten. In den großen Städten mussten überall sonntags auch die großen Freiplätze mit moderner Technologie von den Priestern bespielt werden. Die alten Kirchenschiffe waren nicht in der Lage, die Massen zu fassen. Alles lief wie geplant.
Der Kardinal frühstückte mit dem Papst.
Dann gab es die ersten Zwischenfälle. Auf einmal wollte niemand in der Kirchenhierarchie mehr etwas mit ihm zu tun haben. Zuerst war nur ein Priester gekreuzigt worden von fanatisierten Massen, doch dann wurden es immer mehr Zwischenfälle. Überall nagelten frenetisch schreiende Massen ihre Priester an Kreuze und trugen sie durch die Stadt, um sie dann langsam sterben zu lassen, in Stücke zu reißen und die Einzelteile als Reliquien aufzubewahren. Teilweise gab es schwere gewaltsame Auseinandersetzungen um diese Reliquien.
Der Papst hatte sich vor den gläubigen Massen, die den Petersdom stürmten, nur noch durch geheime Fluchtwege und dann mit einem Hubschrauber retten können, sein engster Vertrauter und Sekretär wurde lebend zerrissen, und um die Einzelteile kam es zu brutalen Kämpfen. In einigen Städten zelebrierten die Gläubigen auch das Abendmahl mit den zerrissenen Stücken aus Leibern von Priestern und Nonnen.
Niemand konnte sich nun mehr daran erinnern, dass der Papst seine Zustimmung für DAS PROJEKT gegeben hatte. Der Kardinal musste feststellen, dass er nichts Schriftliches hatte, keine Belege. Vor seiner Tür stand eine dunkle Limousine, er war sicher, dass dies Mitglieder des Opus Dei waren. Am nächsten Morgen fand man ihn tot in seinem Büro.
In den polnischen Karparten brannte ein Kloster ab und dabei wurden die Keller darunter verschüttet.
Doch dann schien sich alles für die katholische Kirche noch einmal zum Guten zu wenden. Es setzte das ein, was später als Hallelujaphase der Gottespest bezeichnet wurde.
Auf einmal schlug die Stimmung um. Alle Menschen priesen nun den Herren und die Liebe. Laut singend zogen sie durch die Städte und liebten ihre Brüder und Schwestern auf öffentlichen Plätzen und in den Gotteshäusern. Das Halleluja der Massen schall aus allen Gassen. Der Zölibat wurde aufgehoben im Namen der Liebe des Herren. Der Papst nahm die Zeichen als Zeichen Gottes. Im Petersdom umarmten sich die jungen Ministrantinnen und Ministranten und sangen Lieder zum Lobpreise des Herren, und in der Nacht huschten die jungen Gestalten durch die Gänge und fanden zueinander.
Die kirchlichen Institutionen erlebten einen Massenzulauf. Der Name des Kardinals kam auf die Liste für die Seligsprechungen und mit ihm viele der toten Priester und Nonnen. Der Papst kniete in der Sixtinischen Kapelle und dankte Gott.
Die Wege des Herren waren unerforschlich.
Doch auch die Hallelujaphase ebbte ab und der Virus verlor seine Macht, das Immunsystem löschte jeden Rest Glauben in den Menschen aus. Zurück blieb eine atheistische Welt.
Schon die Ansicht religiöser Symbole löste nun bei den meisten Menschen Brechreiz aus.
Nur einige wenige Punkbands spielten noch zur Provokation religiöse Lieder.
Die Kirchen verfielen und dienten nur noch, vergleichbar den Folterkammern in Burgen, für die Touristen zum erbaulichen Gruseln.
FIN
Yuriko Yushimata
Alles Viren
Albert saß an ihrem Küchentisch und blickte sich immer wieder um, als stünde da irgendwo jemand hinter ihm, unsichtbar, unter dem Küchenschrank, hinter dem Kühlschrank oder im Abfluss. Katrin sah ihn beruhigend an.
"Möchtest Du einen Kaffee?"
Misstrauisch betrachtete er ihre Kaffeekanne. Sie lachte. "Ich koche ihn in der Espressokanne, da ist dann alles tot."
Ein bitterer Zug breitete sich um seine Mundwinkel aus. "Du nimmst mich nicht ernst. SIE sind hier. Überall. Wir bilden uns nur ein, wir hätten einen freien Willen. Dabei bestimmen SIE alles. SIE benutzen uns wie Fleischkühe für ihre Fortpflanzung und Verbreitung. Jetzt sind SIE auch schon auf dem Mond und dem Mars – dank uns.
Sie sind in uns, in dicken Klumpen, und übernehmen von dort aus Stück für Stück die Kontrolle über alles. SIE sind in unserem Inneren, steuern uns und fressen uns von innen her auf. SIE steuern unsere Gefühle mit ihrer Chemie. Die Menschen lassen sich naiv von IHNEN manipulieren. VIREN sind die ältesten lebenden Organismen auf der Erde. SIE sind uns in ihrer Entwicklung Millionen von Jahren voraus. Und Du denkst, alles wäre normal.
Du bist auch nur eine IHRER Marionetten."
Er sah nun auch sie misstrauisch an. "Vielleicht haben SIE auch Dich schon übernommen und ich rede mit einem Haufen Viren?"
Seine Stimme klang aggressiv. Katrin stellte ihm den Kaffee hin. "Zumindest kochen Dir dann die Viren Kaffee. Was willst Du mehr?"
Er kicherte in sich hinein. "Du wirst noch sehen. Ich habe nämlich IHREN Schwachpunkt entdeckt. Ich werde SIE vernichten. Aber Du darfst niemanden etwas erzähle. Warte nur ab."
Dann wurde sein Gesicht seltsam ernst und er schien auf einen fernen Punkt zu starren. "Aber SIE versuchen mich auszuschalten. SIE haben bemerkt, dass ich gefährlich für SIE bin."
Katrin versuchte das Thema zu wechseln. "Dann solltest Du nicht weiter darüber sprechen, wer weiß, ob SIE nicht mithören. Wie geht es Deiner Katze?"
Er sah sie aus hohlen Augen an. "SIE haben sie getötet."
Katrin nahm ihn in die Arme. "Das tut mir leid."
Plötzlich ergriff er ihren Arm und zwang sie, sich zu ihm herabzubeugen. Um seinen Mundwinkel herum hatte sich Speichel gebildet. Er flüsterte, und doch klang seine Stimme dabei so durchdringend wie ein abgebrochenes Stück Kreide auf der Tafel. "Falls SIE mich erwischen. Du bist die einzige, die Bescheid weiß. Du musst es dann beenden. Der Karton oben auf meinem Nachtschrank, hinten links, da findest Du meine Aufzeichnungen. Aber pass auf, SIE werden dann auch Dich verfolgen."
Damit sprang er plötzlich auf. Er lachte verlegen. "Ich muss los. Ich wollte Dir keine Angst machen."
Sie umarmte ihn noch einmal kurz, dann war er schon bei der Tür und draußen. Die Treffen wurden langsam immer anstrengender. Früher war es mit Albert anders gewesen. Sie seufzte und wischte mit dem Schwammtuch über den Küchenschrank.
Zwei Tage später stand die Polizei vor ihrer Tür. Albert, Albert war tot. Ihre Adresse hatten die Beamten an verschiedenen Stellen in der Wohnung gefunden. Sie begleitete sie.
Die Beamten hatten einige Fragen und Albert hatte sie als Erbin eingesetzt.
Die Todesursache stand noch nicht fest. Sie hatten den Toten in der Badewanne gefunden. Er war am Abend des Tages gestorben, an dem er sie besucht hatte. Sie musste weinen. Die Beamten versprachen, sich zu melden, sobald Genaueres feststand. Aber es gab keinen Hinweis auf Fremdverschulden.
Alberts Wohnung war schon wieder freigegeben. Einen Schlüssel hatte sie noch.
Und der Vermieter wollte wissen, was mit den Sachen geschehen sollte.
Noch am selben Nachmittag ging sie zur Wohnung, um zu schauen, was zu tun war. Sie hatte Albert lange nicht mehr besucht. Sie erinnerte sich an das letzte Treffen.
Viren, überall Viren.
Ein trauriges Lächeln huschte über ihr Gesicht. In der Wohnung herrschte Chaos. Hier war kaum etwas von Wert. Sie suchte zwei, drei Platten aus der Plattensammlung heraus, Platten, die sie beide zusammen gehört hatten.
Dann setzte sie sich ans Fenster, rauchte und schaute hinaus. Sie dachte an die gemeinsamen Gespräche und das letzte Treffen. Viren. Sie sah sich im Zimmer um. Ihr Blick streifte fast gezwungen die Kartons oben auf dem großen Schrank. Schnell hatte sie den besagten Karton gefunden. Zeitungsartikel fielen ihr entgegen. Alles Texte über Viren. Sie las nur die Titel.
'Sie kommen aus einer anderen Dimension.'
'Gefahr aus dem Inneren.'
'Die geheimen Herrscher der Welt.'
'Der verlorene Krieg.'
Darunter lag eine kopierte Dissertation aus den 70er-Jahren – 'Virencluster als autopoietische Systeme. Systemtheoretische Überlegungen zur Mensch-Virus-Beziehung' – noch mit Schreibmaschine geschrieben. Die Typografie entlockte ihr ein Lächeln.
Sie überflog die Zusammenfassung. Die Autorin warf dort in einer Nebenbemerkung die Frage auf, ob Virencluster Intelligenz entwickeln könnten. Sie argumentierte offensichtlich mit der biologischen Systemtheorie von Maturana dafür.
Die Bemerkung war fett unterstrichen.
Unter der Dissertation lagen einige kürzere Texte über Computerviren und Künstliche Intelligenz. Ein Text über Cluster von Computerviren, genetische Algorithmen und die Fähigkeit künstlichen Lebens, Intelligenz zu entwickeln, war mit Dutzenden von kaum lesbaren Kommentaren versehen.
Unter allen Texten lag eine Mappe aus schwarzer Pappe, in der krakeligen Schrift Alberts stand auf der Außenseite mit Bleistift kaum lesbar geschrieben 'Der Tag, an dem wir zurückschlagen'.
Vorsichtig nahm sie die Mappe aus dem Karton und öffnete sie. Aber da war nichts, nichts, nur leere Seiten.
Sie schüttelte den Kopf und musste ein Weinen unterdrücken.
Noch einmal ging sie durch die Wohnung, überall lagen Desinfektionsmittel, viele waren umgekippt und ausgelaufen, als hätte ein Kampf mit einem unsichtbaren Gegner stattgefunden. Im Bad lag überall Seife. Und an der Wand hing ein riesiges Poster über die richtige Art, sich die Hände zu waschen, vom Bundesgesundheitsministerium.
Dann sah sie den Spiegel und die rote Schrift – 'Sie kommen. Sie greifen an' –.
Langsam sah sie selbst überall unsichtbare Gegner. Fluchtartig verließ sie die Wohnung.
Nachts hatte sie einen Alptraum. Ein fetter lachender Virus wälzte sich auf ihren Bauch und drohte sie zu zerquetschen. Schweißgebadet wachte sie auf. Vielleicht hatte Albert doch Recht gehabt. Sie konnte nicht mehr schlafen und kochte sich Kaffee.
Woran war Albert eigentlich gestorben?
Am Morgen rief die Polizei an. Die Untersuchungen waren abgeschlossen. Die Todesursache stand nun fest.
Sie schluckte trocken. "Was?"
"Herr Albert Barnim ist auf einem Stück Seife ausgerutscht und hat sich dabei am Badewannenrand das Genick gebrochen."
Sie fing an zu lachen, erst leise, dann immer lauter. Der Beamte am Telefon musste denken, sie sei verrückt geworden. Aber ihr war so leicht zumute. Keine Viren, die Seife war schuld.
Noch am selben Tag ließ sie sich in einem kleinen Laden um die Ecke ein etwa 15 mal 10 Zentimeter großes Schild anfertigen – 'SEIFE ist gefährlich!' – und hängte es über ihrem Waschbecken auf.
FIN
Yuriko Yushimata
Das Mädchen mit dem Springseil
Die ersten Aufkleber mit dem Aufruf - 'Freiheit für A/H1N5' - hatte Nina für einen schlechten Scherz gehalten. Wer konnte Freiheit für einen gefährlichen Grippevirus fordern?
Doch dann hatten die Medien angefangen zu berichten. Die Virusbefreiungsbewegung hatte zwei Hochsicherheitslabore gestürmt, um den Viren ihre Freiheit zurückzugeben. Im Internet wurde ein Video verbreitet, in dem ein maskierte Frau sich als Sprecherin der Täter bezeichnete.
Sie verlas ein Bekennerschreiben. Ihre Augen erschienen dabei zwischendurch in Großaufnahme, sie waren gleichzeitig voll Angst und Hass. "Viren sind der Anfang allen Lebens. Was sind wir dagegen? Die Menschen bilden sich ein, die Krone der Schöpfung zu sein und sind dabei das zerstörerischste Lebewesen auf der Erde. Menschen sind eine Krankheit und virale Mutationen sind die Antwort der Natur."
Nina versuchte dies auszublenden und nicht an früher zu denken, an das kleine Kind, das Seil hüpfte. Ihr Springseil war noch irgendwo.
Aber das lag 20 Jahre zurück, A/H1N5, die Deutsche Grippe, die Toten. Aber immer wieder sah sie sich als Mädchen mit dem Springseil. Das Mädchen mit dem Springseil.
Es war Dienstag. Am Abend schrien die Medien ihre Botschaft aus allen Löchern, auf den TV-Schirmen in der S-Bahn, auf ihrem Handy, im Supermarkt, überall die Berichte über die Virusbefreiungsfront.
Auf dem Rückweg nach Hause musste sie am Robert-Karl-Institut für Mikrobiologie vorbei.
Die Zeitungen hatten groß berichtet, dass hier in den Hochsicherheitslaboren die wirklich gefährlichen Erreger verwahrt wurden. Als wollten sie, dass ein Anschlag stattfindet.
Überall stand Polizei, die Straße war für Autos gesperrt. Ihr Ausweis wurde kontrolliert, aber ein anderer Weg hätte für sie einen 15 Minuten längeren Fußweg bedeutet.
Als sie den Haupteingang erreichte, ging alles ganz schnell.
Zwei Polizisten zogen Schnellfeuergewehre und schossen wahllos auf ihre Kollegen. Sie war wie gelähmt. Dann griff sie einer der Schießenden und zog sie als Schutzschild mit sich.
Aus dem Institut waren Explosionen zu hören, Rauch drang aus zersplitternden Fenstern, dann liefen ein Mann und eine Frau, beide als Ärzte gekleidet, die Treppen vom Haupteingang hinunter und schlossen sich ihnen an.
Bevor die Polizei die Situation überblickte, waren die Vier mit ihr bereits in dem Teil des Hafens, der in der Nähe des Instituts lag. Handlungsunfähig ließ sie alles über sich ergehen.
Die als Ärztin verkleidete Frau wurde angeschossen. Einer der als Polizisten verkleideten Männer warf Rauchgranaten und schoss wahllos um sich. Dann nahm er eine am Boden kauernde Frau als weitere Geisel.
Im Hafenbecken lag ein Schnellboot. Irgendwer drückte ihr einen Lappen auf das Gesicht. Es roch nach ...
Als sie wieder zu sich kam, sah sie die beiden Männer, die als Polizisten verkleidet gewesen waren, an einem Holztisch sitzen und essen. Nun trugen sie unauffällige Alltagskleidung. Sie hörte ein Wimmern. Die andere Geisel saß mit Handschellen an Händen und Füßen auf dem Boden in einer Ecke. Das Zimmer wirkte wie ein Teil eines Ferienhauses, draußen sah sie im Dunkel nur Bäume und Schnee.
Aus einem anderen Teil des Hauses hörte sie Schmerzensschreie, das musste die angeschossene Frau sein. Der Mann, der als Arzt gekleidet gewesen war, war auch nirgends zu sehen.
Nina merkte, wie sie wieder wegsackte, dann verschwand die Welt.
Als sie wieder aufwachte, war von den beiden Männern nichts mehr zu sehen. Auch die zweite Geisel war verschwunden. Am Fenster saß der Mann, der als Arzt gekleidet gewesen war. Als sie sich bewegte, sah er zu ihr herüber. Nur ihre Hände waren mit Handschellen gefesselt. Er wies mit dem Kopf nach draußen.
Aus dem Fenster war nur Schnee und Wald zu sehen. "Der Schnee liegt inzwischen zwei Meter hoch, die Temperatur liegt bei 17 Grad minus, der nächste Ort ist 60 Kilometer entfernt. Versuchen Sie gar nicht erst zu fliehen."
Nina sah ihn an: "Wo sind wir?"
"Das ist nicht wichtig."
"Wieso tun Sie das?"
Der Mann schien einen Augenblick an ihr vorbeizuschauen: "Haben Sie sich schon mal überlegt, wie es kommt, dass diese Gesellschaft immer korrupter und egoistischer wird? Die Menschen denken nur noch an das nächste große Auto, PC-Spiele, Sex und alles käuflich. Wir zerstören die Lebensgrundlage für kommende Generationen. Die Abwehrsysteme der Natur funktionieren nicht mehr. Wir helfen nur, damit alles wieder ins Gleichgewicht kommt. Irgendwer muss die Verantwortung übernehmen. Das ist wie im Krieg. Wenn Sie das richtige tun, machen Sie sich damit nicht unbedingt beliebt. Die Demokratie verhindert heute, dass das Notwendige getan wird. Wir tun es."
Nina zitterte: "Was haben Sie vor?"
"Wir werden weltweit drei bis vier Virusepidemien auslösen. Danach wird die Welt anders aussehen. Vielleicht überleben 10 Prozent, vielleicht 20 Prozent, aber die Menschen werden wieder gelernt haben, die Natur zu respektieren."
Der Mann kam auf sie zu: "Sie werden uns dabei helfen."
Sie spuckte ihm ins Gesicht. Er wischte die Spucke ab, er blieb ruhig: "Sie haben keine Wahl."
Ihr wurde untersagt, den Raum, in dem sie sich befand, zu verlassen. Aber wo sollte sie auch hin?
Einige Tage vergingen eintönig, sie waren hier offensichtlich isoliert vom Rest der Welt. Am Samstag, es musste Samstag sein, wenn sie sich nicht verzählt hatte, hörte sie Türen schlagen und Streit.
"Wir müssen das Virus testen vor der massenhaften Freisetzung."
Das war die Stimme der Frau, die angeschossen worden war. Sie schien sich erholt zu haben. Die anderen Stimmen konnte sie nicht verstehen. Sie hörte nur noch die Worte "... die Geiseln ..."
Dann nach einer Weile hörte sie das Schreien der anderen Geisel.
Dann war es wieder ruhig.
Vier Tage später hörte sie Schüsse. Dann sah sie die andere Geisel durch den Schnee kriechen, und sie sah die blaue aufgesprungene Haut, das Blut aus den Mundwinkeln, A/H1N5, die Deutsche Pest.
In ihr kamen alle Erinnerungen hoch, die Leichen überall, ihre tote Mutter zusammengekrümmt auf dem Küchenboden, die Maden in älteren Leichen. Sie konzentrierte sich ganz auf das Bild ihres Springseils, ihr Springseil, und atmete langsam ein und aus.
Draußen schienen die beiden Männer, die sie zuerst als Polizisten verkleidet gesehen hatte, Spaß an der Jagd zu finden. Sie hörte weitere Schüsse und Lachen.
Später brannte es etwas abseits des Hauses, was brannte, konnte sie nicht sehen.
Die Frau und der Mann, die als Ärzte verkleidet gewesen waren, schienen zufrieden.
In der Nacht schneite es. Am nächsten Tag lag der Schnee so hoch, dass an ein Verlassen des Hauses für die nächsten Tage nicht zu denken war. Nina wusste jetzt, was zu tun war.
Sie wartete auf die Nacht. Zwar schlossen die Entführer sie an ein Heizungsrohr, doch sie waren nicht mehr achtsam, es gelang ihr, ihre Hand aus der Handfessel zu lösen. Leise schlich sie durch das Haus. Sie musste nicht lange suchen. Die Kühlbox mit den Viren war nicht einmal versteckt. Sie nahm die Ampulle heraus, A/H1N5, und strich sich damit ein, dann die Türklinken und die Handtücher im Bad.
Ihr liefen Tränen über das Gesicht.
Dann legte sie sich wieder hin.
Als am nächsten Morgen ihre Hand nicht gefesselt war, schrie der Mann, der als Arzt verkleidet gewesen war, rum, aber sonst passierte nichts.
Am nächsten Tag, es war der zweite Samstag, den sie nun hier war, bekamen sie alle Fieber. Zuerst wollten die Entführer es nicht wahrhaben. Dann, nach einem weiteren Tag, fingen die Halluzinationen an und nach weiteren 14 Stunden gab es den ersten Toten.
Dienstag waren alle tot.
Nina betrachtete die Toten: "Seid doch froh, jetzt habt Ihr Euren Lieblingen zur Speise gedient."
Sie schaffte die Toten in einen abseits gelegenen Schuppen, sie deponierte dort auch die Kühlbox und zündete dann den Schuppen an.
Dann desinfizierte sie das Haus gründlich. Die Entführer hatten große Kanister mit Desinfektionsmittel im Anbau gelagert. Sie badete fast darin. Sie durfte niemanden gefährden.
Aber im Haus konnten die Viren ohne Wirt sowieso nur ein paar Tage überleben.
Sie dachte zurück an ihre Kindheit, an die Schlagzeilen über den einzigen Menschen, der die Virusepidemie vor 20 Jahren trotz Infektion unbeschadet überlebt hatte, an das kleine Mädchen mit dem Springseil.
Die Zeitungen hatten damals alle ihr Bild abgedruckt. Das Springseil hatte sie damals vor dem Verrücktwerden bewahrt zwischen all den Toten. Als die Seuchenkommandos in ihren Anzügen kamen und das kleine Mädchen mit dem Springseil trafen, mussten sie einen Moment an ihrem Verstand gezweifelt haben.
Später wurde sie untersucht und wieder untersucht. Alle anderen waren tot. Sie hatte als einzige Infizierte überlebt.
Das war jetzt 20 Jahre her.
Sie war immun, zu essen war ausreichend da und der Schnee würde schmelzen.
FIN
Yuriko Yushimata
Varus der Virus
"Heute spielen wir Varus der Virus und Armin der Antikörper." Das schmale Lächeln der Betreuerin im Kinderhort traf Ayumi nicht mehr unvorbereitet. Inzwischen hatte sie gelernt, dass dieses Lächeln immer eine Kampfansage bedeutete. Wir werden Dich schon zurechtbiegen.
"Die kleine Ayumi spielt Varus den Virus. Und außer unserer kleinen Chinesin spielt auch noch Michael Varus."
Die Betreuerin schubste einen etwas unbeholfenen ängstlichen Jungen in die Ecke, in der Ayumi stand.
"Ich bin keine Chinesin, ich bin Japanerin."
Die Betreuerin lächelte Ayumi erneut an.
"Aber Ayumi, das ist doch egal."
Dann wandte sie sich an alle Kinder. "Varus war ein böser römischer Feldherr, der versucht hat, Deutschland zu erobern. Armin, ein germanischer Fürst, hat Deutschland verteidigt, Varus besiegt und die Römer vertrieben."
Ein kleiner Junge meldete sich: "Was ist germanisch?"
"Germanisch ist ein alter Ausdruck für deutsch. Genauso wie damals unsere Vorfahren sich dagegen gewehrt haben, dass die Römer, dass Fremde, in Deutschland eindringen und die Macht übernehmen, genauso wehrt sich unser Immunsystem mit Hilfe von Antikörpern gegen Viren. Über Viren haben wir ja schon geredet.
Was macht man gegen Viren?"
Die Kinder brüllten im Chor: "Hände waschen!"
Nur Ayumi sagte nichts.
Die Betreuerin lachte: "Das habt Ihr aber gut gelernt. Die anderen, außer Ayumi und Michael, spielen also alle Armin den Antikörper. Eure Aufgabe ist es, Varus den Virus, also Ayumi und Michael, zu vertreiben. Das Spiel ist zu Ende, wenn Ayumi und Michael draußen im Hof stehen. Viren müssen ausgeschlossen werden.
Ich klatsche jetzt einmal in die Hände und dann geht es los."
Michael fing an zu heulen und ließ sich von der Gruppe Kinder willenlos hinausschubsen. Ayumi nutzte den kurzen Moment, um sich auf der höher gelegenen Spielebene zu verschanzen.
Doch auf einmal spürte sie den harten Griff der Betreuerin von hinten.
"Ayumi, das ist unfair. Das giltet nicht."
Sie hob Ayumi hoch und stellte sie direkt vor die Gruppe der anderen Kinder. Die Kinder stürmten johlend auf Ayumi zu und schubsten sie nach draußen.
Die Betreuerin steckte kurz ihren Kopf durch die Tür.
"Ihr bleibt erst mal hier draußen."
Drinnen sangen die Kinder Spottgesänge auf Varus den Virus. Und krakeelten: "Armin, Armin!"
Der Junge mit Namen Michael saß auf dem staubigen Steinboden und schlug verheult seinen Kopf gegen einen Baum. Ayumi tanzte über den Hof und achtete darauf, dass die Betreuerin sie nicht sehen konnte.
Zwischendurch versuchte sie, Michael dazu zu bewegen, mit ihr zu spielen. Aber der sah sie nur böse an. Ayumi setzte sich auf einen Steinpfosten und sah träumend in den Himmel. Sie träumte, sie wäre in Japan, sie war noch nie in Japan gewesen.
Plötzlich hatte sie den Eindruck, ihr würde schlecht. Der Boden schien zu schwanken. In der Ferne tanzte schwerfällig ein Wolkenkratzer und fiel dann in sich zusammen.
Auf einmal war der Lärm überall. Sie sah Michael wie gebannt auf den Kinderhort in ihrem Rücken starren. Dann kam der Staub von überall her, roter Staub. Rot wie der Klinkerbau des Kinderhortes. Als sie sich umdrehte, stand dort kein Gebäude mehr. Nur Schutt und Trümmer lagen überall verstreut. Niemand sang mehr Spottgesänge. Nach dem Lärm war es auf einmal seltsam still.
Kurz darauf hörte sie Sirenen.
Sie saß einfach da und wartete, bis spät am Nachmittag ihr Vater mit dem Fahrrad kam. Heulend schloss er sie in die Arme.
So viele Tote, es hatte so viele Tote gegeben. Erdbeben waren hier selten.
Auch ihre Mutter war überglücklich, die kleine Ayumi wiederzusehen.
Abends durfte Ayumi noch einmal nach draußen, aber nur kurz und in Sichtweite.
Im Sandkasten baute sie einen Grabhügel, für Armin. Armin der Antikörper war gestorben und Varus hatte überlebt.
Sie hüpfte auf einem Bein und sang.
FIN
Yuriko Yushimata
Der Sinn des Lebens
"Freitagabend kommt Prof. Richard Windar, Mausi. Da kannst Du Dich mal wieder so richtig ärgern." Lachend küsste David sie. Sie entwand sich unwillig seiner Umarmung.
Richard Windar, der Autor des Bestsellers 'Das egoistische Virus', war einer der führenden evolutionären Virologen und hatte viele Thesen aus der Virologie auf die menschliche Gesellschaft übertragen. David und seine hochschulpolitische Liste hatten es mit viel Aufwand geschafft, ihn zu einem Diskussionsabend an der Universität einzuladen.
Karin hielt das alles für Schwachsinn.
"Außerdem bin ich nicht Dein Mausi."
"Wenn Du Dich so ärgerst, bist Du besonders süß, Mausi."
"Na, dann kannst Du ja alleine dahin gehen."
"Ach komm, ich mache doch nur Spaß."
Sie fragte sich wieder einmal, wieso sie immer noch mit David zusammen war.
Also saß sie doch am Freitagabend im Audimax der Universität. Richard Windar war ein älterer Herr mit Altherrenhumor. Lustlos ließ sie die Stimme an sich abperlen, zwischendurch nickte sie immer wieder ein. Dann schoben sich Traumsegmente vor ihre Augen, fiese kleine Viren kletterten an ihr hoch und im Hintergrund lachte David.
Dann hörte sie wieder die eingespielte Altherrenstimme. "Das menschliche Sexualverhalten muss als Effekt der Optimierung der Virusvermehrung begriffen werden.
...
Der reverse Effekt, dass Menschen sich gegen AIDS-Viren schützen, erklärt sich aus der Konkurrenz des AIDS-Virus mit anderen Viren, deren menschliche Habitate der AIDS-Virus bedroht. Die Nutzung von Kondomen ist ein Effekt, der darauf zurückzuführen ist, das die bestehenden alt eingesessenen Viren ihr menschliches Territorium verteidigten.
...
Schließlich reguliert auch die EU die Zuwanderung. In Virenkolonien ist das nicht anders. Im gewissen Sinn ist die EU-Politik sogar Folge der viralen Interessen. Die Abschottung dient den in der EU etablierten Viren zur Sicherung ihres Territoriums. Der Mensch ist als Virushabitat nur Erfüllungswerkzeug.
..."
Sie schüttelte sich und sah sich um.
David und seine Kommilitonen waren wie gebannt. Sie sah die leuchtenden Blicke, die starr auf den Redner gerichtet waren. Solche Blicke hatte sie bisher nur bei den Gottesdiensten der Adventisten gesehen, zu denen sie früher von ihrer Tante geschleift worden war.
Gott ist die Wahrheit!
Sie stellte sich Faschismus so ähnlich vor. Wir sind eins in der Wahrheit, eins mit dem Virus.
Sie erinnerte sich an einen Artikel und ein Interview mit Windar, die sie im Spiegel gelesen hatte. Es war der Aufmacher gewesen – 'Bestimmen Viren unser Schicksal?' –. Die Titelseite dazu zeigte ein Bild mit Viren, die kleine Menschen an Fäden wie Ziehpuppen steuerten.
Ihr fiel auch der Inhalt wieder ein.
Der Autor hatte sich vor allem mit Männlichkeit und Weiblichkeit als Effekt der viralen Evolution befasst.
Da Frauen beim Geschlechtsakt aufgrund ihrer Biologie besonders viral ansteckungsgefährdet waren, war es das Interesse der Viren, ihre Habitate vor diesem Risiko der Übernahme durch andere Viren zu schützen. Deshalb war es das Interesse der Viren, dass Frauen den Geschlechtsverkehr auf wenige virologisch passend ausgewählte Partner begrenzten. Im Laufe der Evolution hatte der virale Evolutionsdruck entsprechend dieses Verhaltensmuster bei Frauen hervorgebracht. Frauen wählten sehr genau wenige viral passende Geschlechtspartner anhand des Körpergeruchs aus.
Männer hingegen waren die optimalen Vektoren für die Verbreitung von Viren beim Geschlechtsverkehr. Männer waren im Laufe der viralen Evolution zur Angriffswaffe der Viren bestimmt worden. Deshalb bewirkte der virale Evolutionsdruck bei Männern ein aggressives Sexualverhalten mit einer maximale Streuung der Wahl der Geschlechtspartnerinnen.
Windar wurde im Spiegel-Interview mit einigen scheinkritischen Fragen noch die Möglichkeit gegeben, diese Thesen weiter auszuführen.
Sie schreckte hoch aus ihren Gedanken. Die Menge hatte zu klatschen begonnen. David stieß sie an. "Was ist, Mausi?"
Außer ihr standen alle Leute im Saal zum Klatschen auf. Sie merkte, dass sie sich gleich würde übergeben müssen, falls sie nur einen Moment länger blieb. David lachte sie an. "Komm, Du bist auch nur ein Viriushabitat, wie wir alle. Und der einzige Sinn Deiner Existenz ist, ihre Vermehrung zu sichern."
Sie sah ihn nicht an. Sie stand auf, nahm ihre Jacke und packte ihre Sachen in die Tasche. Dann drängte sie sich durch die Reihe zur Treppe am Rand.
David folgte ihr nach kurzem Zögern verdutzt.
Auf der Treppe holte er sie ein.
"Was ist?"
Sie sah ihn nur starr an.
David grinste. "Sehen wir uns Montag, Mausi?"
Sie schüttelte den Kopf. "Nein, ich denke nicht."
Er sah sie an, "Dienstag?"
"Nein."
"Wann dann?"
Sie zuckte mit den Schultern. "Gar nicht mehr, das macht für meinen Virus keinen Sinn, das verstehst Du doch sicher."
Damit drehte sie sich um und ging.
FIN
Yuriko Yushimata
Bis aud den letzten Mann
Nanami war etwas eifersüchtig auf Corinna. Corinna war die Ex ihrer Liebsten. Aber sie hatte dafür keine Zeit. Sie musste sich auf ihr Referat konzentrieren.
Ihr Thema war die Umbruchzeit. Dabei hatte sie riesige Schwierigkeiten, sich eine Welt mit Männern vorzustellen. Ihr kam auch der Gedanke von Sex mit Männern widerlich bis albern vor. Aber vermutlich war dies ein Vorurteil gegen Behinderte. Sie versuchte, in ihren Vorstellungen korrekter zu sein, aber es gelang ihr nicht.
Jedesmal, wenn sie mit Freundinnen die alten Hollywoodfilme von vor über 100 Jahren sah, lagen sie nach kurzer Zeit lachend auf dem Boden.
100 Jahre war es her, dass es passiert war. Ihre Urgroßmutter hatte vielleicht noch mit Männern geschlafen. Für Nanami war dies eine abstruse Vorstellung.
Damals waren die Menschen in Frauen und Männer unterteilt gewesen. Es war auch ein Mann gewesen, der das Antischnupfenserum entwickelt hatte.
Das erste Serum war nur bedingt wirksam, doch im Laufe von einem Jahrzehnt war den Wissenschaftlern die Optimierung gelungen. Der Schnupfen konnte das erste Mal effizient bekämpft werden. Nur dass sie etwas übersahen. Die Kinder aller geimpften Menschen waren nicht mehr in der Lage, Männer zu zeugen, es wurden nur noch Frauen geboren.
Richtig bewiesen wurde der Effekt erst 30 Jahre nach der ersten Impfung, da war es zu spät. Alle waren geimpft worden, weltweit, eine Kampagne einer Organisation mit dem Namen WHO.
Zuerst war es ein Schock gewesen, aber dann hatten sich die Frauen schnell damit arrangiert. Mit Hilfe moderner Reproduktionstechnologien war es kein Problem, den Fortbestand der Menschheit auch ohne Männer zu sichern.
Letztendlich hatte sich dies sogar als positiv gezeigt. Heute wurde die Versorgung und Betreuung von Kindern als gesellschaftliche Gemeinschaftsaufgabe begriffen. Wenn sie über eine Organisationsform wie die Kleinfamilie las, kamen ihr die Menschen von damals völlig verrückt vor. Wieso hatten die Frauen das nur mitgemacht?
Heute war doch alles viel besser.
Männer waren seit wenigen Jahren vollständig ausgestorben. Dabei war es eine Frau gewesen, die frühzeitig auf die Risiken der Schnupfenimpfung hingewiesen hatte. Aber ihre männlichen Kollegen hatten ihre Arbeiten lächerlich gemacht.
Die Wissenschaftlerin Barbara Tiruna hatte schon frühzeitig die These vertreten, dass Männlichkeit der Effekt einer Virusinfektion war, die, lange bevor die Säugetiere entstanden, sich im Zuge der Evolution stabilisiert hätte. Heute wusste jedes Schulmädchen, dass dies so gewesen war.
Die Schnupfenimpfung hatte nicht nur die Schnupfenviren unschädlich, sondern auch Teile dieser Virusmutation rückgängig gemacht.
Seitdem gab es keinen Schnupfen mehr auf der Welt und nun auch keine Männer mehr.
Nanami konnte darin keinen Verlust sehen.
FIN
Yuriko Yushimata
Virus-Hilfe
'Freie Journalistin' – die Karte mit ihrem Namen, die Mira sich von ihrem letzten Verdienst hatte machen lassen, sah eindrucksvoll aus. Das war nun schon wieder drei Monate her.
Sie hatte eine Geschichte über die Kampfabstimmung in der Kleingartensiedlung verkauft, mit Foto. Am meisten Geld brachten die Bilder, aber auch das war nicht viel. Unabhängiger Journalismus war nur noch ein Hobby, das sich Reiche leisten konnten.
Sie war nicht reich.
Nur als PR-Managerinnen lohnte es sich noch zu arbeiten. Aber sie war einfach nicht gut genug im Lügen. Selbst als sie die Visitenkarte erstellen ließ, hatte sie ein ungutes Gefühl. Ehrlicher hätte auf der Karte stehen müssen, Sozialhilfeempfängerin, arbeitslos seit vier Jahren. Arbeitslose mit überdurchschnittlichem Studienabschluss, fehlqualifiziert, schwer vermittelbar.
Die Beraterin der Individualoptimierung bot ihr eine Umschulung zur Sekretärin an. "Sie können doch schreiben."
Das Konzept der Individualoptimierung hatte vor einem Jahrzehnt die alten Arbeitsvermittlungen abgelöst – nun stand der Mensch im Mittelpunkt, laut Selbstdarstellung des Optimierungsmanagements.
Ihre Großtante meinte nur: "Hübscher neuer Name."
Da sie die Umschulung zur Sekretärin nicht wollte, musste sie freiwillig zustimmen, an einer Individualqualifizierungsmaßnahme teilzunehmen. Früher hieß das mal 1-Euro-Job. Bei Nichteinhaltung der Eingliederungsvereinbarung würden ihr alle Mittel entzogen.
Besser als ein unbezahltes einjähriges Weiterbildungspraktikum beim gemeinnützigen Zweig der Lidl-Schlecker-Gruppe.
Sie hatte schon vorher an Individualqualifizierungsmaßnahmen teilgenommen. Bei den meisten kam es nur darauf an, pünktlich anwesend zu sein und dann die Zeit totzuschlagen.
Mit etwas Glück hatte sie Kolleginnen und Kollegen, mit denen sie tratschen konnte.
Sie wurde der Virus-Hilfe zugewiesen. Natürlich hatte sie schon von der Virus-Hilfe gehört. Der allgegenwärtigen Reklame konnte niemand entgehen – 'Gib keinem Virus eine Chance!'
Vielleicht würde sie als Journalistin dort einen Skandal entdecken. Sie hatte bei jedem Aushilfsjob diese Phantasie. Eine Freundin, Sozialwissenschaftlerin und arbeitslos wie sie, phantasierte bei jedem Job davon, eine wissenschaftliche Studie über dieses Arbeitsverhältnis zu verfassen. Bisher hatte das nie geklappt.
Und auch Skandale schien es keine mehr zu geben, außer dem großen Skandal dieser Art der Gesellschaftsorganisation.
Ihr erster Arbeitstag bei der Virus-Hilfe begann um 8.00 Uhr. Das war eine sehr moderate Zeit. Viele Individualqualifizierungen wurden auf möglichst frühe Zeiten verlegt ab 6.00, um die Arbeitsdisziplin der Teilnehmerinnen zu testen.
Im Flur hing das allseits bekannte Plakat 'Küssen ist schön, aber niemals ohne!' – eine Reklame für die hauchdünnen Kussfolien aus desinfiziertem Plastik in unterschiedlichen Geschmacksrichtungen. Auf Toilettensitzen waren diese Einmalfolienbezüge schon lange Standard. Trotzdem gab es in bestimmten Unterschichtvierteln immer noch alte lackierte Holzklodeckel.
Auch ihr Klo war noch ein solches Museumsstück. Aber nur wenige gute Freunde und Freundinnen besuchten sie ab und an.
Ihrem neuen Chef würde sie das mit Sicherheit nicht erzählen.
Sie wurde im Büro freundlich begrüßt und schnell durchgeschleust und an einen Optimierungsbeauftragten weitergereicht, der ihr Team leitete. Er war bis vor zwei Monaten noch selbst Teilnehmer einer Individualqualifizierung gewesen, und war nun eine Stelle höher im System gerutscht.
"Sie sind Journalistin, da sind Sie hier genau richtig. Wir brauchen Leute, die andere Leute überzeugen können."
Ihre Aufgabe war, in 'Problemvierteln' im Team Klingeln putzen zu gehen, Aufklärungsmaterial zu verteilen und das Gespräch mit den Leuten zu suchen. Die Kampagne wurde in den Armutsvierteln aber nicht gut angenommen. Die Sekretärin hatte das gleich angemerkt, auch sie hatte sich von der Individualqualifizierung auf diese Stelle hochgearbeitet.
"Da muss man sich ja nicht wundern über die Verelendung, wenn Leute die elementarsten Hygieneregeln missachten und ungeschützt küssen. Aber das können Sie denen einfach nicht beibringen.
Da muss ganz anderes passieren."
Im Büro bekam sie noch eine Broschüre des Innenministeriums mit Empfehlungen für den Aufenthalt in virologischen Risikogebieten. Damit waren die Stadtviertel gemeint, in denen sie die Broschüren verteilen sollte. In einem davon lebte sie.
– 'Halten Sie sich nie länger als unbedingt nötig in Risikogebieten auf.' – 'Meiden Sie die Nahrungsaufnahme.' – 'Nutzen Sie in Risikogebieten keine sanitären Anlagen, außer an den als sicher ausgewiesenen Orten.' –
Die Virus-Hilfe übernahm keine Haftung für die Folgen von Ansteckungen bei der Arbeit in Risikogebieten für die Teilnehmerinnen von Maßnahmen der Individualqualifizierung.
Sie wurden mit einem alten VW-Transporter vor Ort gebracht. Und bekamen Straßen zugewiesen. Schnell bekam sie mit, dass die meisten aus ihrem Team die Broschüren zwar verteilten, aber sich selbst über den Inhalt lustig machten.
– 'Dein erster Kuss, mit Folie, aus Liebe!' – Es gab inzwischen Folien speziell für das erste Mal, in Herzform und parfümiert. Statt ein Mädchen anzusprechen, konnte ein Junge ihr auch einfach eine Folie schenken. Dann war schon alles klar.
Sie hatte noch nie Folien benutzt, natürlich hatte sie auch das nicht im Büro erzählt, sondern immer nur genickt. Sie kannte die Statistiken, die besagten, dass die oberen Einkommensgruppen praktisch immer Folie verwendeten, während 'Küssen ohne' ein Unterschichtshabitus war. Sie fand, ohne machte einfach mehr Spaß.
Sie ersparte sich das Klingeln und stopfte die Broschüren einfach in die Briefkästen. Die gewonnene Zeit nutzte sie für eine empfehlungswidrige Nahrungsaufnahme an einer Würstchenbude im Risikogebiet.
Eine ältere Frau erhaschte einen Blick auf die Broschüren, die sie unachtsam auf den Bürgersteig gelegt hatte. Die Frau nahm sich eine der Broschüren und schüttelte den Kopf, dann gab sie die Broschüre zurück: "Kind, ich habe keine Lust an diesen Plastikteilen zu ersticken."
Mira zog verschämt den Kopf ein und nuschelte: "Das ist eine Individualqualifizierungsmaßnahme, an der ich teilnehme, ich muss das machen."
Die Frau tätschelte ihr freundlich die Schulter und nickte verständnisvoll: "Ach so, das kann jeder passieren."
Abends in der Straßenbahn las sie die Schlagzeile der Bildzeitung – 'Virussexparties im Obdachlosenasyl' –. Die Neue Kirche forderte psychiatrische Behandlungen für Verweigerer von Hygienemaßnahmen. Außerdem wurde in einem Artikel erwähnt, dass die Zentrale Infektionskommission auf Grund der Gefahr von Kreuzinfektionen beim Küssen von Madonnenfiguren von der katholischen Kirche forderte, unentgeltlich Kussfolien bei öffentlich zugänglichen Reliquien zur Verfügung zu stellen. Und es gab diverse weitere Verfügungen bzgl. der Desinfektion von Weihwasser.
Zum Glück war sie den Job bald wieder los, da aufgrund einer Sparmaßnahme des Optimierungsmanagements die Virus-Hilfe die Hälfte aller Stellen streichen musste.
Aber nun war ihr Interesse als Journalistin geweckt. Und sie hatte jetzt ja wieder Zeit. Sie begann zu recherchieren. Sie wollte wissen, wie sich die Lebenserwartung durch den Kussschutz verändert hatte.
Zuerst fand sie nur lauter nicht vergleichbare Statistiken, da alle Basiswerte voneinander abwichen. Doch irgendwann gelang es ihr, durch geschickte Kombination zu Ergebnissen zu kommen. Sie musste sich bei der Zusammenführung der Statistiken verrechnet haben.
Sie rechnete nach.
Doch das Ergebnis war mathematisch korrekt. Die Lebenserwartung der Mittel- und Oberschicht sank gerade im letzten statistisch erfassten Zeitraum auffällig.
Um neuere Daten zu bekommen, musste sie eine Bekannte in der Universität überzeugen, ihr einen Zugriff auf einige Datenbanken zu ermöglichen. Das Ergebnis war erschreckend. Die Todesrate hatte sich im letzten Jahr massiv erhöht. Die Besserverdienenden starben massenweise an unspezifischen Gehirnerkrankungen. Inzwischen lag die Lebenserwartung der Mittel- und Oberschicht sogar leicht unterhalb der Armutsbevölkerung.
Sie recherchierte weiter.
Es dauerte fast einen Monat, bis sie im Internet auf eine ältere Forschungsarbeit aus den USA stieß, die sich mit Toxinen in ultradünnen Plastikfolien befasste. Kussfolien waren ultradünne Plastikfolien.
Ein Fachmann, den sie darauf schriftlich hinwies, wiegelte ab und widersprach schlichtweg ihren Daten. Sie bot ihre Rechercheergebnisse als Artikel einer größeren Zeitung an.
Am Tag darauf kam die Sondereinheit des BKA zur Bekämpfung des Bioterrorismus, durchsuchte ihre Wohnung, beschlagnahmte alle Akten und verhörte sie 42 Stunden lang.
Dann wurde ihr die Hilfe zum Lebensunterhalt gestrichen. Sie wusste nicht, wovon sie die nächste Miete bezahlen sollte.
Außerdem hatte sie den Eindruck, dass sie beschattet wurde, aber das war vielleicht auch nur Einbildung.
Es gelang ihr zumindest, die scheinbaren Verfolger abzuschütteln. Dann verließ sie die Stadt.
Sie tauchte bei einer Freundin aus uralten Tagen unter. Barbara wohnte auf einem kleinem Selbstversorgerhof auf dem Land. Niemand wusste, dass Barbara und Mira sich kannten.
Zumindest hoffte Mira das.
Hier war sie vorerst sicher.
Matthias, Barbaras Mann, war, bevor er entlassen wurde, Toxikologe gewesen. Sie erzählte ihm ihre Rechercheergebnisse. Er schlug weitere Recherchen vor. Aber sie schüttelte nur traurig den Kopf, im Internet konnten sie nicht recherchieren, ohne aufzufallen.
Matthias lachte und führte sie in die Scheune. Dort lagen stapelweise Bücher und Zeitschriften, eine vollständige biochemische Fachbibliothek. Nur etwas schlecht sortiert. Er hatte sie praktisch umsonst bekommen.
Wer benutzte noch bedrucktes Papier.
Es brauchte eine Weile, bis sie die passende Fachliteratur gefunden hatten.
Das beschriebene Toxin reicherte sich an und wirkte dann mit Verzögerung tödlich. Alle, die häufiger Kussfolien benutzten, würden früher oder später sterben.
Wahrscheinlich sogar bald.
Sie versuchte noch, über Mails aus Internetcafés, die Menschen zu warnen. Und das war für sie schon risikoreich. Einmal konnte sie sich gerade noch dem Zugriff der Polizei bei einer Routinekontrolle der Internetcafés entziehen. Doch niemand nahm sie ernst.
Sechs Monate später waren die Bankenviertel leer bis auf die chinesischen Imbissbudenmitarbeiter und Putzkolonnen, die sich in Chefsesseln lümmelten und vom Recycling der Möbel und der Technikausstattung der Banken lebten. Von den Einkommensgruppen über 2000 Euro im Monat hatten weniger als 5 Prozent überlebt. In der Unterschicht hatte es kaum Tote gegeben.
Da die Unterschicht keine Kussfolien verwandte, hatte sie sich auch nicht vergiftet.
Freundinnen von Mira hatten gemeinschaftlich eine Villa am Fluss besetzt. Sie überlegte, dort einzuziehen. Alle wesentlichen Arbeiten der basalen Versorgung funktionierten weiter, da die Arbeiten jetzt in Selbstorganisation erledigt wurden. Sie arbeitete jetzt 20 Stunden in der Woche im E-Werk.
Sie setzte sich in eins der geplünderten Nobelcafés probierte eine Kaffeemaschine, improvisierte sich einen Espresso und genoss die Frühlings-Sonne.
FIN
Yuriko Yushimata
Der absolute Impfstoff
Sie waren fast einen Monat auf der Alm gewesen, zu zweit, alleine, nur einmal vor drei Wochen hatten sie einen Bergwanderer getroffen. Nora sah zu Uwe hinüber. Der hockte an einem Bachlauf und wusch sich. Sie kannte nun den Geruch seiner Haut genau. Sie spürte fast seine Hände auf ihrem Körper.
Es war eine gute Zeit gewesen, obwohl sie sich vorher noch nicht lange gekannt hatten. Auch das Wetter war wunderbar gewesen, in ihrem Hochtal. An sich war sie keine Romantikerin, aber als Auszeit vom Job war dies genau das, was sie gebraucht hatte. Aber jetzt war sie froh, zurückzukommen. Sie würden sich verabschieden und vielleicht irgendwann mal wiedersehen. So war es abgesprochen. Und ihm war dies wohl auch ganz recht.
Die Sonne schien auch heute auf sie herab, trotzdem war es nicht heiß. Obwohl sie jetzt schon in der Nähe des kleinen Dorfes waren, war ihnen immer noch niemand begegnet. Dann sahen sie die ersten Kadaver. Tote Rinder, die toten Tiere waren schon in Verwesung übergegangen. Aber irgendetwas stimmte nicht. Dann begriff sie. Da waren keine Würmer, nur ein stinkender Schleim. Die Tiere hatten vor ihrem Tod den Zaun niedergetrampelt und lagen mitten auf dem Weg. Sie machten vorsichtshalber einen kleinen Umweg. Sie würden es der Bäuerin erzählen, der Bäuerin. Wieso hatte sie es noch nicht bemerkt?
Uwe ärgerte sie mit einem Grashalm. Sie wollte gerade selbst einen langen Halm ausreißen, als ihr Blick auf die Leiche fiel. Aufgedunsen lag ein junger Mann im Graben am Wegesrand. Sie spürte, dass ihr schlecht wurde und übergab sich. Uwe sah auch bleich aus. Er nahm sie beim Arm. Sie hatte den Eindruck, er wollte sich selbst festhalten. Trotz des nur kurzen Blickes hatte sie die fehlenden Würmer auch bei diesem Leichnam bemerkt.
"Was ist passiert?"
"Lass uns zum Ort gehen, schnell."
Auf dem Weg ins Dorf sprachen sie kein Wort, sie sahen sich nur ab und an misstrauisch um und sahen sich dann fragend an. Uwe zuckte mit den Schultern. Aus irgendeinem Grund war ihnen ab diesem Moment klar, dass irgendwas ganz und gar nicht stimmte, dass irgendwas passiert war, was nicht nur diesen einen jungen Mann betraf, nicht nur diese Tiere. Jetzt sahen sie auch, dass tote Vögel am Boden lagen.
Im Dorf fanden sie weitere tote Tiere und sie fanden weitere menschliche Leichen.
Doch nirgends sah sie Würmer.
Sie liefen von Haus zu Haus und riefen, aber niemand reagierte, kein Mensch lebte mehr in diesem Ort, nur verwesende Tote.
Sie ging in ein Badezimmer in irgendeinem Bauernhaus, um sich frisch zu machen. Aber es kam kein Wasser aus dem Hahn. Nur die Handpumpe im Hof funktionierte noch. Uwe probierte das Licht aus, doch auch die Elektrizität war ausgefallen.
Sie erinnerte sich an das Café, an dem sie vorbeigekommen waren – überall die verwesenden Leichen. Dort war ein Radio. Auf einmal war Uwe weg. Sie konnte ihn nirgends mehr sehen, sie rief ihn. Doch keine Antwort kam. Panisch brüllte sie. Dann kam er aus dem Keller.
"Was ist?"
"Nichts, ich dachte nur, Du bist auch weg."
"Nein, ich habe Konserven gefunden und Saft und Kaffee."
"Im Café war ein Radio."
"Es gibt keinen Strom. Das Handynetz funktioniert auch nicht, und das Festnetz ist auch tot."
"Batterien, im Laden an der Hauptstraße gab es Batterien. Und irgendwo werden wir auch ein Radio finden, das mit Batterien funktioniert.
Aber wir bleiben jetzt zusammen."
Uwe nickte.
Sie gingen zurück zur Hauptstraße. Sie sah dabei möglichst starr geradeaus. Die Leichen, sie wollte die Leichen nicht noch mal sehen und auch nicht die Tierkadaver. Jetzt merkte sie, dass sie auch noch keine Insekten gesehen hatte.
Im Laden fanden sie nicht nur Batterien, sondern auch ein passendes Radio. Auf UKW war gar nichts zu hören, nichts. Auf Mittelwelle auch nicht. Doch dann auf Kurzwelle war etwas. Uwe mit seinen Wurstfingern verstellte den Sender immer wieder. Sie riss ihm das Radio aus der Hand. Er sah sie nur hilflos an. Dann hatte sie den Sender eingestellt. Französisch, sie verstanden nichts von dem, was gesagt wurde.
Dann kam die Senderkennung, das einzige, was sie zuordnen konnte, war der Name Djibouti. Djibouti, ein Sender aus Afrika, sonst nichts.
Sie schüttelte den Kopf. Das konnte doch nicht sein. Wie wild drehte sie an den Knöpfen. Nichts. Sie setzte sich in die Ladentür und ihr Kopf war leer.
Uwe probierte inzwischen weitere Radios aus, immer noch eins.
Nichts.
Das Hotel. Sie erinnerte sich an ihre Ankunft. Im Vorraum des Hotels lagen immer die Tageszeitungen der letzten sieben Tage.
"Wir müssen ins Hotel."
"Wieso?"
"Die Tageszeitungen."
Einen Moment sah Uwe sie stumpf an, dann begriff er.
Im Hotel roch es muffig. Sie sperrte die Tür auf, um zu lüften. Tatsächlich, dort lagen die Tageszeitungen. Sie blätterte und las, Uwe stand wie erstarrt neben ihr. Sie erinnerte sich. Kurz bevor sie aufgebrochen waren, hatte sie noch darüber gelesen. Der neue Impfstoff, der absolute Impfstoff.
Sinori, der neue europäische Life-Science-Konzern, hatte ihn entwickelt, einen Impfstoff, der jedes Virus tötet. Das Ende aller Viruserkrankungen, nie wieder Grippe, nie wieder AIDS, sie erinnerte sich an die überschwänglichen Kommentare in der Presse, die schon vor der Freisetzung den Konzern feierten.
Sie hatte das nicht weiter beachtet, die Wissenschaftsseiten interessierten sie nicht und das bisschen Schnupfen hatte ihr nie viel ausgemacht.
Die Freisetzung des Impfstoffes erfolgte zwei Tage, nachdem sie auf die Alm aufgebrochen waren. Sie hatten ihn weltweit über die Luft verbreitet, um wirklich alle Viren gleichzeitig auszulöschen. Die erste Woche verlief alles nach Plan. Doch dann traten die ersten Probleme auf. Menschen und Tiere kollabierten aus unerfindlichen Gründen, selbst Insekten blieben einfach sitzen und starben. Sie las in der Zeitung über die ausbrechende Panik, dann wurden die Zeitungen dünner, Notausgaben.
Eine Wissenschaftlerin, die schon vorher vor der Freisetzung gewarnt hatte, bewies, dass es gerade die Fähigkeit des Impfstoffes war, alle Viren zu töten, die tödlich war für alles tierische Leben. Sie hatte schon vorher darauf hingewiesen, dass Leben ein komplexes symbiotisches Zusammenspiel ist, nur hatte niemand ernst genommen, was sie schrieb.
Alle Tiere, auch Menschen, bildeten eine Einheit mit einer Vielzahl Viren, die überlebenswichtige Funktionen wahrnahmen. Ohne diese Viren brachen lebenswichtige Funktionen zusammen.
Alle Versuche, Gegenmittel zu entwickeln, kamen zu spät. Nur in Afrika waren in einigen Regionen die Menschen und Tiere nicht betroffen, aufgrund der Korruption in einem Teilbereich des Life-Science-Konzerns Sinori war die Impfung der Atmosphäre mit dem Impfstoff dort nicht richtig durchgeführt worden.
Die Zeitung, in der dies stand, war die letzte Ausgabe, die im Hotel lag.
Sie war 15 Tage alt.
Sie packten sich einige Konserven ein und verließen den Ort. Sie hatten WIRKLICH Glück gehabt mit dem Wetter, der Impfstoff hatte sie nicht erreicht. Die Bäume bewegten sich im Wind. Die Alm war vom Impfstoff verschont geblieben, wieso auch immer. Nichts lebte hier in Europa mehr, nur in Afrika. Aber wie sollten sie nach Afrika kommen und – ob sie da willkommen waren?
Sie sah über die einsamen Bergtäler hinweg. Hier waren sie alleine, weit und breit die einzigen Menschen. Auf der Alm waren auch noch ein paar Tiere, sicher hatten auch an anderen Stellen einzelne Tiere überlebt und würden sich wieder ausbreiten.
Sie sah ihn an, was er wohl dachte, es war ja ganz nett gewesen mit ihm, aber für den Rest des Lebens?
FIN
Yuriko Yushimata
Eine harmlose Liebhaberei
Sein Großvater hatte Schmetterlinge gesammelt. Er erinnerte sich noch gut an die Glaskästen mit den bunten Flügeln, die hinter dem Glas immer leicht angestaubt erschienen. Als Kind hatten ihn diese Kästen gleichzeitig angezogen und abgestoßen. Er stellte sich vor, wie es war, aufgespießt zu werden und aufzuspießen.
Ein Mann braucht ein Hobby.
Seine Großmutter hatte ihm dies zuerst gesagt.
Später hörte er es noch viele Male.
Als junger Mann arbeitete er als Aushilfspfleger. Ein älterer Mann sprach ihn im WC an. Zuerst vermutete er ein sexuelles Interesse, doch das Angebot war andersartig. Für 20 Euro je Reagenzglas verschaffte er dem Älteren Proben des Stuhlgangs der Kranken.
Was als Geschäft begann, wurde auch für ihn bald zu einer Art Obsession. Der Ältere schien das mit Wohlgefallen zu betrachten. Als er das bemerkte, wollte er aufhören, ihm wurde das alles zu viel. Doch der Ältere nahm ihn kurzerhand mit zu sich.
In der großen Altbauwohnung roch es nach Desinfektionsmitteln. Bis auf einen Raum mit Bett und Schrankwand waren alle Räume mit Kühlaggregaten vollgestellt. Der junge Mann blickte sich misstrauisch um. In einem Raum hatte der ältere Mann ein modernes Labor eingerichtet. Freundlich erklärte er dem Jüngeren alles, führte ihn ein in seine Leidenschaft. Er war ein Sammler von Viren. Er zeigte dem Jüngeren Bilder des komplizierten und doch so einfach wirkenden Aufbaus der Viren. Der ältere Mann hatte mehr als 100 unterschiedliche Subtypen des Grippevirus, TBC-Erreger, Masern und Kinderlähmung im Reagenzglas. Zärtlich streichelte der Ältere über die einzelnen Reagenzien, die er sorgsam gekühlt hielt.
Zuerst war dem jungen Mann das völlig verrückt vorgekommen. Doch dann war er wieder hingegangen.
Er begann, dem Älteren bei der Beschaffung und Isolierung von Viren zu helfen. Und irgendwann begann er, selbst zu sammeln.
Ein Mann braucht ein Hobby.
Er fing mit Schnupfenviren an, das waren die Kinderalben der Virensammler.
Doch bald reichte ihm das nicht mehr. Die Liebhaberei wurde zur Passion. Kinder und Familie hatte er nie, das war auch nicht möglich. Die Viren waren seine Familie. Er berauschte sich an ihrer Schönheit, der Perfektion ihrer Architektur und der Intelligenz ihrer strukturellen Organisation. Sie waren allen anderen Lebensformen überlegen, sie waren seine Kinder und er war ihr Meister.
Das gesamte Tiefgeschoss seines Hauses war mit Kühlaggregaten zugestellt. Er hatte die Stromzufuhr mit Notstromaggregaten abgesichert.
Inzwischen war er selbst alt. Der ältere Mann war lange tot. Die Sammlung hatte er geerbt und sie mit seiner eigenen vereinigt. Nun war dies die größte Privatsammlung, die existierte. Jedenfalls hatte er noch nie von einer größeren gehört. Und er pflegte regen Austausch mit anderen Sammlern. Im Internet hatten sie ein Forum eingerichtet, dass als Treffpunkt für Menschen mit abnormalen sexuellen Vorlieben getarnt war.
'Suche schnell fickenden Marburger.'
Da hoffte tatsächlich jemand, den Marburgvirus im Tausch bekommen zu können. Das war sicher ein neuer Teilnehmer. Denn das war die rote Mauritius der Virensammler. Selbst er besaß ihn nicht.
Das Sammeln von Viren war eine anspruchsvolle und nicht ungefährliche Tätigkeit. Er wusste noch bei jedem Virus, wie er ihn bekommen hatte. Er hatte Urlaube in afrikanischen Elendsgebieten und in den Slums von Rio de Janeiro verbracht, nur für seine Sammlung. Am Victoriasee hatte er bei Prostituierten AIDS-Viren gesammelt. Zweimal war er mit dem Tod bedroht und noch öfter war er ausgeraubt worden. Aber um Viren zu sammeln, musste man in den tiefsten Dschungel vordringen, das war heute wie vor 100 Jahren.
Seit Jahren beschäftigte er illegale Migrantinnen als Hausangestellte. Er wählte möglichst krank aussehende Frauen aus und entließ sie nach kurzer Zeit und der Probenentnahme wieder. Einmal hatte er dabei Glück gehabt und eine seltene Form des Denguefiebers einsammeln können.
Freitag hoffte er einen guten Tausch zu machen; ein Sammler aus Bayern hatte sich angekündigt. Damit würde sich seine Sammlung weiter vervollständigen. Nur die Stromrechnung wurde immer teurer.
Heute war Dienstag. Noch einmal ging er die für den Tausch vorbereiteten Objekte durch, als ein Luftzug das Fenster aufriss. Eine der Röhren fiel auf den Fußboden. Schnell lief er ins Bad, um die Desinfektionsmittel zu holen. Doch sein rechtes Bein versagte ihm in letzter Zeit immer öfter den Dienst. Er knickte um und fiel in die Scherben.
Er badete sich regelrecht in Desinfektionsmitteln. Es würde schon reichen, es hatte immer gereicht. Er hatte sich noch nie angesteckt.
Doch am nächsten Tag kam das Fieber. Er hatte den Vorfall aber schon wieder vergessen. Nur ein Schnupfen, sagte er sich. Das Fieber stieg den nächsten Tag weiter und ein eitriger Ausschlag bedeckte seine Hand. Es würde sich schon legen. Er musste sich nur hinlegen und ausruhen. Doch auf der Treppe brach er zusammen und blieb dort liegen. Niemand war im Haus, außer seinen Kindern in ihren Kühlaggregaten.
Am Freitag trat der Sammler aus Bayern ins Haus. Die Tür war nicht abgeschlossen. Auf das Klopfen hatte niemand reagiert. Als er die eitrige Gestalt auf der Treppe liegen sah, begriff er sofort.
Der alte Mann lebte noch und war scheinbar sogar bei Bewusstsein. Er sah den Sammler aus Bayern an und versuchte zu reden, doch nur Blut und Eiter quollen aus seinem Mund. Der Bayer nickte jovial mit dem Kopf und zog sich seine Schutzhandschuhe und die Gesichtsmaske über und beugte sich dann über den alten Mann. Das war einmalig. Dieser Virus musste eine Mutation sein. Der Sammler konnte sein Glück kaum fassen. Vorsichtig füllte er etwas Eiter und Blut in ein Reagenzglas. Der alte Mann zitterte. Der Sammler aus Bayern packte das Reagenzglas vorsichtig ein, lächelte dem am Boden liegenden zitternden Kranken noch einmal zu und ging.
An der Tür wandte er sich noch einmal kurz zu dem alten Mann um, der in seinem Blut, in Eiter und Erbrochenem und Fäkalien lag.
"I dank Eana! Griaß God."
Damit schloss er die Tür.
FIN
Yuriko Yushimata
Die Virusverschwörung
An sich glaubte Yuka nicht an Verschwörungen, Illuminaten und andere derartige paranoide Theorien, aber dieser Ort erzeugte bei ihr Unbehagen, das tief unter ihre Haut kroch. Eine eisige Kälte schien sie von innen zu durchdringen.
Der Mann hatte sie in diesen leeren Betonraum in einem der Keller gebracht und war dann einfach verschwunden. Verschwunden, nicht gegangen. Der Raum, der eben noch eine Tür gehabt hatte, hatte jetzt keine mehr.
Dann gab der Boden nach. Sie fiel und fiel.
Sie landete in einem lila Ledersessel. Ihr gegenüber auf der Glas-platte eines Schreibtisches saß breit grinsend ein fettes Schwein und grunzte, dann verwandelte es sich vor ihren Augen in einen Anzugträger. Der Mann sah sie an.
"Hatten Sie eine gute Reise?"
Yuka wusste nicht recht, was sie sagen sollte. Sie zwang sich ein Lächeln ab.
"Danke, ich kann nicht klagen."
Nun verfinsterte sich das Gesicht des Anzugträgers. "Zum Klagen werden Sie noch früh genug Grund bekommen.
Sie wissen, warum Sie hier sind?
Es geht um die Viren. Und um all das, was Sie über sie lesen. Glauben Sie kein Wort."
Yuka blickte ihm direkt in die Augen.
"Wieso?"
Er wich ihrem Blick aus.
"Ich darf es ihnen nicht sagen. SIE hört ALLES mit. SIE entscheidet. Ich kann nicht."
Yuka rümpfte die Nase.
"Versuchen Sie es doch einfach mal."
Der Anzugträger öffnete den Mund, aber nur um sich im nächsten Moment zusammenzukrümmen. Er fiel auf den Boden und schmolz im wahrsten Sinne des Wortes dahin. Seine Übereste flossen in einen Abfluss, den Yuka bis eben noch nicht bemerkt hatte.
Dann hoppelte ein Kaninchen durch den Raum und verlor einen blaues Kuvert. Yuka versuchte es aufzuheben, doch ihre Arme schienen immer kürzer zu werden. Sie las den Titel der Außenseite des Kuverts – Die Virusverschwörung –. Sie versuchte, zum Kuvert hinzulaufen, doch ihre Beine gaben unter ihr nach. Also kroch sie auf allen Vieren weiter, bis sie das Kuvert erreichte.
Doch dann bemerkte sie, dass die Wände immer näher kamen und gleichzeitig verschwammen.
Alles um sie herum schien in Auflösung begriffen. Sie selbst schien zu verblassen. Sie atmete immer schneller und bekam trotzdem kaum Luft.
Ihre Lunge schnürte sich zu.
Mit letzter Kraft öffnete sie das Kuvert und begriff.
Es gab keine Hoffnung, nicht für sie, aber vielleicht gab es noch eine Chance für die auf der anderen Seite.
Yuka schrie so laut sie konnte, doch ihre Stimme versagte. Nur ein Flüstern brachte sie mit Schweiß auf der Stirn hervor. Sie kroch ganz nahe an die Innenseite des beschriebenen Blattes Papier heran, auf denen diese Worte standen, die Worte, deren Produkt sie war. Sie glaubte, eine Leserin auf der anderen Seite zu erkennen, aber vielleicht war es auch ein Mann.
Ihr Flüstern drang durch das Papier. "Ihr müsst Euch vorsehen. SIE ist es, SIE hat ALLES geplant, SIE hat sich ALLES ausgedacht. Die AUTORIN steht hinter ALLEM. Hütet Euch vor YURIKO YUSHIMATA. SIE will Euch .. "
Weiter kam sie nicht. Ihre Lunge wurde zerquetscht von einer unbekannten Kraft. Ihr Flüstern erstarb in einem Röcheln, als Blut aus ihrem Mund auf die Innenseite des beschrieben Blattes Papier spritzte.
Das letzte, was sie sah, war eine spiegelverkehrte 29 – die Seitenzahl, schoss ihr ein letzter Gedanke durch den Kopf ...
FIN
Yuriko Yushimata
Eine notwendige Entscheidung
Miyuki hatte schon länger nicht mehr bei ihrer Freundin angerufen. Dabei hatte sie sich schon so lange vorgenommen, sich mal wieder bei Naoko zu melden. Aber mit jedem weiteren Monat fiel es ihr schwerer, ihr schlechtes Gewissen wuchs und wuchs. So konnte das nicht weitergehen.
Sie ging in den Flur und desinfizierte das Telefon, besonders sorgsam bearbeitete sie die Hörmuschel und die Sprechfläche.
Sie hatten sich bisher noch kein Telefon mit austauschbaren Einmalhörern geleistet. Die Kinder ekelten sich schon vor dem Telefonieren und versteckten das Telefon, wenn Freundinnen zu Besuch kamen.
Miyuki ging mit dem Hörer in die Küche, öffnete die infektionssichere Vakuumverpackung für die Einmalbecher und schenkte sich etwas Wasser mit einem Antidepressivum ein. Sie wählte Zitronengeschmack. Dann setzte sie sich an den Küchentisch. Die Telefonnummer von Naoko war gespeichert.
Als sie Naokos Gesicht auf dem Bildschirm sah, das leicht gezwungene Lächeln, wusste Miyuki sofort, dass die Gerüchte, die sie gehört hatte, einen wahren Kern haben mussten. Naoko wirkte sehr unsicher. Ihre Begrüßung klang, als käme sie aus einer fernen Welt. Sie fing nach kurzer Zeit an zu weinen. Miyuki schaltete die Bildübertragung auf Weichzeichner und die Stimmmodulation auf beruhigend. Naoko hatte sich von ihrem Mann scheiden lassen. Die letzten Wochen waren trotzdem die Hölle gewesen.
"Die Nachbarn sind über uns hergefallen, in der Schule wurde den Kindern verboten, die Mensa zu nutzen. Plötzlich durften Freundinnen nicht mehr mit ihnen spielen. Sie durften auch nicht mehr am Sportunterricht teilnehmen und mussten an einem Extratisch sitzen.
Inzwischen geht es wieder etwas besser.
Wir haben jetzt ein Attest vom Amt."
Einen Augenblick schwieg Naoko. Miyuki sah auf dem Bildschirm, dass ihre Freundin die ganze Zeit eine Stelle des Tisches vor ihr mit Desinfektionsmittel bearbeitete. Miyuki wählte noch ein Antidepressivum mit Kiwigeschmack und blickte ihre Freundin aufmerksam durch den Bildschirm an.
Dann redete Naoko weiter. "Wie konnte er uns das nur antun? Ich meine, natürlich bin ich auch traurig. Und sicher ist es auch für ihn schwer. Aber er hat es sich doch selbst zuzuschreiben. Wir hatten doch gar keine Wahl. Als wir das Haus hier gekauft haben, wussten wir, dass dies ein virusfreies privatgesichertes Wohnviertel ist. Wir hätten ausziehen müssen.
Wie konnte er so etwas tun, sich anstecken lassen?
Das Gericht hat, als klar war, dass er wirklich Virusträger ist, die Scheidung sofort vollzogen. Ihm wurden alle Rechte mit sofortiger Wirkung abgesprochen und er durfte unser Haus nicht mehr betreten. Alle seine persönlichen Sachen wurden sicher entsorgt.
Das musste ich allein bezahlen.
Natürlich tut es mir auch für ihn leid, aber er hat es ja verursacht. Das ist so rücksichtslos von ihm, das den Kindern anzutun. Wir mussten alle vier Wochen in Quarantäne, und auch danach haben uns noch alle gemieden. Die Kleine hat die ganze Zeit geheult. Sie hasst jetzt ihren Vater.
Vielleicht ist das auch besser so.
Und ich kann die Nachbarn ja verstehen. Wie konnte er das zulassen, krank zu werden? Natürlich ist er auch sofort fristlos gekündigt worden.
Ich habe ihm jeglichen Versuch der Kontaktaufnahme untersagt. Auch seine eigenen Eltern haben mir Recht gegeben. Sein Vater meinte, das wäre nicht mehr sein Sohn. Ein Virusträger wäre nicht sein Sohn."
Naoko heulte wieder. Miyuki versuchte, ihre Freundin zu beruhigen.
"Du hast doch alles richtig gemacht."
Gleichzeitig überlegte sie in einer dunklen Ecke ihres Gehirns, ob sie den Kontakt zu ihrer Freundin nicht besser für eine Weile abbrechen sollte, sicher war sicher. Und man konnte nie wissen. Sie ließ Naoko noch eine Weile reden und beendete dann das Gespräch ohne eine Verabredung, obwohl sie bemerkt hatte, dass ihre Freundin darauf gehofft hatte.
Am Abend ging sie noch einmal nach draußen. Sie sog die kalte aber frische Nachtluft ein. Heute trug sie ihren kecken lilaweißen Mundschutz. Ein ihr entgegenkommender Mann lächelte.
Drüben, weit genug weg von den Gesunden, sah sie eine Arbeitskolonne der Virusträger bei der Reinigung der Kanalisation. In der leuchtend gelben Kleidung, die alle Virusträger tragen mussten, waren sie für alle Gesunden als Warnung deutlich sichtbar.
Früher hatten Virusträgerinnen auch ab und an Kinder bekommen. Die kleinen Dinger in der gelben Kleidung hatten Mitleid erweckt und waren zu einem erheblichen Gefahrenpotenzial geworden. Miyuki konnte diese Verantwortungslosigkeit nicht fassen. Aber heute wurden alle Virusträger sterilisiert.
Einen Moment glaubte sie, in einem der Virusträger Akio, den Mann von Naoko, zu erkennen. Doch es war zu weit weg.
Als sie in den Schutz der Glaskuppel des Einkaufszentrums trat, sah sie, wie der Mann sich etwas von der Gruppe entfernte. Sofort waren zwei Wachleute in ihrer Schutzkleidung da und stellten ihn mit ihren Elektroschockwaffen ruhig. Krampfartig zuckend fiel der Virusträger zu Boden, sein Schreien drang bis zum Einkaufszentrum. Die Wachleute schossen noch zweimal mit den Elektroschockwaffen, bis sich der Mann nicht mehr rührte. Miyuki sah, dass die Wachleute ihren Blick bemerkt hatten, schnell blickte sie weg. Es war ihr peinlich, es war ungehörig, das Wachpersonal bei der Arbeit zu stören.
Die Firma, die die Waffen herstellte, hatte Gott sei Dank erwirkt, dass Fehlberichterstattungen über tödliche Wirkungen von Elektroschockwaffen und ihre Nutzung als Folterwerkzeug untersagt wurden. Jedes Kind wusste heute, dass Elektroschockwaffen harmlos und die Todesfälle nur auf unglückliche Umstände zurückzuführen waren. Außerdem mussten die Virusträger unter Kontrolle gehalten werden.
Die Wachleute trugen bereits so ein hohes Risiko.
Niemand konnte sich schließlich die früheren Zeiten zurückwünschen, in denen Viruserkrankungen sich überall ausbreiteten und Grippewellen jedes Jahr Tausenden von Menschen das Leben kosteten.
FIN
Yuriko Yushimata
Immun
Zwei Uhr nachts, langsam wurde er zu alt für solche Treffen. Aber das hatte er die jungen Barone nicht spüren lassen. Junge Barone, so nannten sie die nachsetzende Politikergeneration, die gerne auf ihre Stühle wollte. Sie hatten die jungen Barone systematisch abgefüllt und dann mit in den Puff genommen, als Test. Der junge Herr Staatsekretär hätte sich fast nass gemacht. Keine Souveränität, das würde er seinem Freund, dem Minister, morgen beim Mittagessen aufs Brot schmieren. Seine rechte Hand hatte Angst im Puff und benahm sich eher wie ein linkischer Trottel.
Er fuhr, wie immer, selber. Er hatte nie einen Fahrer genutzt, obwohl das sein Anrecht gewesen wäre. Er drehte das Radio leiser, nahm das Handy aus der Tasche und rief seinen persönlichen Mitarbeiter an. Der hörte sich auch schon ziemlich verschlafen an. Er ließ sich von ihm alle wesentlichen Anrufe des Abends durchgeben. Die jungen Leute konnten nichts vertragen. Und jetzt auch noch überall diese Frauen, aber einige davon waren wirklich professionell. Da musste man aufpassen, kein falsches Wort. Er blies die Luft durch die Nase. Ihm konnten sie nichts, als Chef der EU-Sicherheitsbehörde war er sakrosankt.
Er wusste alles und er war immun.
Das junge Mädchen war nur noch kurz mit dem Hund rausgegangen. Sie hatte den ganzen Tag Fieber gehabt und sich erbrochen. Aber jetzt konnte sie nicht schlafen. Also hatte sie sich etwas übergezogen und den Hund mitgenommen, vielleicht würde die frische Luft ihr helfen. Sie merkte erst spät, dass sie Mühe hatte, sich auf den Beinen zu halten. Als sie die Bundesstraße überquerte, hörte sie das Auto nicht. Der große schwere Wagen fuhr viel zu schnell und schnitt die Kurve. Sie sah nur kurz die Scheinwerfer, dann war alles vorbei. Ihr Körper flog durch die Luft. Der Hund jaulte.
Der Chef der EU-Sicherheitsbehörde wusste, dass er im Ort viel zu schnell gefahren war, außerdem hatte er etwas getrunken und telefoniert.
Aber sie konnten ihm nichts, er war immun.
Er hielt an und sah sich den Wagen an und sah sich um. Was für eine Sauerei. Alles war voll Blut.
Er ging zu dem leblosen Körper, das Mädchen war tot. Kein schöner Anblick, ein Bein und ein Arm waren halb abgerissen, das Gesicht unkenntlich. Er hatte es nur kurz im Scheinwerferlicht gesehen. Wie konnte jemand so wahnsinnig sein, und mitten in der Nacht hier auf die Straße laufen. Der Wagen selbst, ein sicherheitsverstärktes Fahrzeug, war kaum beschädigt.
Niemand konnte ihm etwas. Sie hatte selber Schuld, armes Ding. Er selbst hatte nur einen Kratzer an der Hand.
Aber Ordnung musste sein. Er rief die Streifenhörnchen. Ein Polizist und eine Polizistin kamen und dann der Krankenwagen. Zuerst wurden sie unverschämt, doch dann begriffen sie, wem sie da gegenüberstanden und wurden vorsichtig. Zu einer Blutprobe konnte ihn niemand zwingen.
Er war immun.
Sie nahmen den Unfall auf und seine Aussage, dann durfte er weiterfahren. Das würde morgen schlechte Schlagzeilen geben, er musste die Pressestelle wecken.
Er fuhr direkt ins Büro und legte sich in dem kleinen Privatraum, der ihm hier zur Verfügung stand, hin, damit er gleich morgen alle einweisen konnte. Die Nacht würde kurz werden. Es war wichtig, dass alle das Richtige sagten oder den Mund hielten. Er rief auch noch seine Sekretärin an, dass er sie morgen schon ab 6.00 Uhr brauchte. Als er sich gerade rasiert hatte und mit seiner Sekretärin die Termine des Morgens plante, kam ein Anruf, der Polizeipräsident. Er bat ihn noch einmal, möglichst gleich im Präsidium vorbeizuschauen. Es gab da noch eine Frage.
"Was für eine Frage?"
"Das kann ich Ihnen am Telefon nicht sagen."
"Was?"
"Kommen Sie bitte, oder ich muss Sie holen lassen."
Er schäumte vor Wut. Was bildete der sich ein? Scheinbar wollte da jemand den Unfall nutzen, um ihm ans Bein zu pinkeln. Aber wer deckte das? Der Polizeipräsident selbst war viel zu unwichtig, um sich so etwas zu trauen. Der Innenminister? Der BKA-Chef? Oder eine dieser Aufsteigerinnen?
Er würde es herausfinden. Er rief gleich einige Freunde im Kanzleramt an. Die würden sich noch wundern.
Dann ließ er sich diesmal ausnahmsweise fahren, zum Polizeipräsidium.
Er wurde nicht einmal vom Polizeipräsidenten empfangen, sondern nur über den Lautsprecher gleich in den Raum F 1078 bestellt. Nirgends war jemand auf den Fluren zu sehen. Was für eine Unverfrorenheit. Der Raum bestand aus einem Stuhl und einer Liege und einem kleinen Metallbeistelltisch. Im Zimmer erwartete ihn ein Arzt im weißen Kittel und mit Mundschutz.
"Würden Sie sich bitte hinlegen, ich muss eine Blutprobe von Ihnen nehmen."
"Was fällt Ihnen ein? Sie haben keinerlei Befugnis dazu."
"Falls Sie sich wehren, müssen wir leider Gewalt anwenden."
Jetzt erst sah der Chef der EU-Sicherheitsbehörde die beiden kräftigen Männer in grünblauen Kitteln und mit Mundschutz. Er zitterte jetzt vor Wut.
"Das wird Sie Ihren Job kosten."
"Machen Sie bitte den Arm frei."
Ihm blieb nichts anderes übrig, als die Prozedur über sich ergehen zu lassen. Das hatte er seinen Gegnern nicht zugetraut. Das war illegal. Der Arzt nahm eine Blutprobe und verließ dann mit den beiden Männern ohne ein weiteres Wort den Raum. Er wollte ihnen folgen, doch die Tür ließ sich von innen nicht öffnen. Langsam hatte er den Eindruck, unter Wahnsinnige geraten zu sein. Er war immun, dies war alles gesetzwidrig.
Das würde Konsequenzen haben.
Man ließ ihn geschlagene zwei Stunden in dem Raum warten. Sein Handy funktioniert hier nicht, kein Netz. Wer steckte dahinter? Er überlegte die ganze Zeit. Das mussten mehrere sein, um sich so etwas zu trauen. Er machte einen Plan, wen er alles anrufen würde, sobald diese Farce vorbei war. Er würde sich wehren, und wenn die Kanzlerin selbst dafür die Verantwortung trug. Sie würden es bereuen.
Aber er wusste nicht, wieso. Es gab hierfür einfach keinen Grund.
Das Ganze war verrückt.
Dann öffnete sich auf einmal die Tür. Der Staatsekretär, das Weichei, stand dort, rechts und links von ihm wieder die Männer mit den blauen Kitteln und Schutzhandschuhen. Auch der Staatssekretär trug einen Mundschutz.
Der Chef der EU-Sicherheitsbehörde polterte los: "Was fällt Ihnen ein, ich bin immun."
Der Staatsekretär schüttelte den Kopf: "Nein, Sie haben sich angesteckt, die Tote hatte eine tödliche Viruserkrankung, die sich über das Blut überträgt. Es tut mir leid."
FIN
Yuriko Yushimata
Virale Worte
Der Bettler wackelte mit dem Kopf und sah nach unten. So erhielt er sicher nicht viel Geld. Der Mann war ihm schon ein paar Mal aufgefallen. Er sonderte sich von den anderen Bettlern ab, und sie schienen Gefallen daran zu finden, ihn zu ärgern.
Heute sah er zum ersten Mal das Gesicht, und irgendwie kam es ihm bekannt vor.
Auf dem Weg vom Supermarkt nach Hause stand das Gesicht weiter vor seinen Augen. Irgendwo hatte er diesen Mann schon gesehen. Doch es wollte ihm nicht einfallen. Dann, als er die Wohnungstür aufschloss, fiel es ihm auf. Der Bettler sah aus wie dieser Linguistikprofessor, der früher öfter in der philosophischen Talkshow am Dienstagabend im öffentlichen Fernsehen zu Gast gewesen war. Er versuchte sich an den Namen zu erinnern, Löwiczek, nein, Lavoisier, richtig. Vermutlich ein Franzose. Der Bettler sah wirklich genau aus wie dieser Lavoisier. Er war irgendwann aus der philosophischen Talkshow verschwunden.
Hatte er nicht irgendwas darüber gelesen?
Es fiel ihm nicht mehr ein.
Als er das nächste Mal im Supermarkt einkaufte, saß der Bettler wieder dort. Er schmiss dem Bettler ein Zwei-Eurostück in den Hut und wartete, dass dieser ihm das Gesicht zuwandte. Die Ähnlichkeit war verblüffend.
"Herr Lavoisier?"
Die Frage war ihm einfach so rausgerutscht. Der Bettler schien erst nicht verstanden zu haben, dann wandte der Bettler sich ihm mit einem bösen Lachen entgegen. "Seien Sie vorsichtig, was Sie fragen, oder es könnte Ihnen genauso ergehen, wie mir."
"Sie sind Professor Lavoisier?"
"Ich war Professor Lavoisier. Ich bin ein Niemand, Nichts."
"Was ist passiert? Entschuldigen Sie, wenn ich frage. Ich habe natürlich kein Recht."
"Sie werden die Antwort nicht hören wollen. Und es ist gefährlich." Der Bettler sah sich misstrauisch um, dann blickte er gierig über die Straße auf ein Restaurant. "Wenn Sie mir ein Mittagessen ausgeben, erzähle ich alles."
Das Restaurant war nicht teuer und er hatte auch Zeit. Also lud er den Bettler ein. Er erwartete nicht, die Wahrheit zu hören, aber vielleicht war es ganz amüsant. Also saß ihm der Bettler nun gegenüber und schlürfte eine Gulaschsuppe. Danach würde er ihm noch etwas zu trinken kaufen.
Er selbst trank einen Latte macchiato.
Nachdem der Bettler die Reste der Gulaschsuppe mit Brot aufgetunkt hatte, setzte er sich auf. Ein Bier stand vor ihm, zitternd führte der Bettler es an die Lippen.
"Sie benutzen uns."
Die Worte tropften aus ihm heraus.
"Wer?"
Der Bettler lachte. "Na wer schon? Sie, die Worte."
Er schwieg einen Augenblick, bevor er fortfuhr.
"Haben Sie sich nie Gedanken gemacht, wie es dazu kommt, dass bestimmte Worte sich immer weiter ausbreiten und andere verloren gehen? Worte sind wie Viren. Sie benutzen uns, um sich fortzupflanzen, um sich auszubreiten, überall. Und dabei stehen sie in evolutionärer Konkurrenz zueinander. Sie verdrängen andere Worte aus ihrem angestammten Lebensraum, mutieren zu neuen Bedeutungen, mischen sich mit anderen Worten und pflanzen sich fort und bekämpfen sich auf Sein und Nichtsein. Wir sind nur ihre Wirtstiere, nicht mehr. Schriftsteller, Linguisten bilden sich ein, sie wären die Meister der Worte und dabei sind es die Worte, die die Menschen manipulieren, beherrschen, und nicht umgekehrt. Die Worte sind die Herrscher. Sie steuern, was passiert. Dabei geht es ihnen immer nur um ihre maximale Verbreitung und sonst nichts."
"Na ja ..."
Der Bettler fuchtelte wild mit den Armen.
Nichts na ja. Frieden, was wird nicht alles Frieden genannt. Schauen Sie sich an, wie sich dieses Wort heute verbreitet, wie es mutiert und jede beliebige Bedeutung annimmt, nur um sich auszubreiten, um aus jedem Winkel zu kriechen. Oder sozial, heute ist es sozial, Menschen wie mich betteln zu lassen, heute ist das Wort sozial auf der Siegesstraße, es ist in aller Munde und die Menschen krepieren."
Mitleidig schaute der Mann den Bettler an. "Aber was hat das mit Ihrer Situation zu tun?"
"Ich habe nicht mehr geschwiegen. Ich habe es aufgedeckt, in meinen Vorlesungen, in Vorträgen, selbst im Fernsehen, auch im Fernsehen. Das konnten die Worte nicht zulassen. Die Menschen dürfen nicht begreifen, dass sie nur ein biologischer Vektor für die Ausbreitung und Vermehrung von Worten sind. Sie könnten anfangen, das Reden zu verweigern oder den Worten nicht mehr zu trauen. Die Worte wissen das zu verhindern. Also haben sie eins der ihren auf mich losgelassen.
Verrückt, auch so ein Wort, ich wurde für verrückt erklärt. Sie halten mich auch für verrückt, oder?
Die Worte gewinnen immer. Seien Sie vorsichtig. Und lassen Sie mich in Ruhe."
Damit stand der Bettler auf und verließ das Lokal.
Er sah ihn nie wieder am Supermarkt.
In der Zeitung stand, dass bei der robusten Friedensmission 10 000 Menschen durch die Bombardierung getötet worden seien. Ein Reporter verlor seinen Job, weil er von Krieg und Mord schrieb.
Dabei diente der Einsatz doch dem Leben.
FIN
Yuriko Yushimata
Treiben Sie Vorsorge!
Als ihre Mutter schwanger war, noch vor ihrer Geburt, bevor sie also in die Welt trat, hatte ihre Mutter bereits die ersten Vorsorgeuntersuchungen für ihre Tochter durchführen lassen. Zum Glück erwies sie sich aber als grundsätzlich gesund. Aber da der Großonkel väterlicherseits an Krebs verstorben war und die Urgroßmutter mütterlicherseits zuckerkrank war, wurde der Säugling auf Diät gesetzt und mit Spezialnahrung versorgt. Dadurch stieg ihre Lebenserwartung um 0,001 %.
Als kleines Kind setzte sich dies fort, Vorsorgeuntersuchungen wechselten sich mit Nachuntersuchungen ab, und mit Vorschriften über Bewegungsabläufe, das richtige Sitzen, das Essen und Trinken. Mit drei Jahren hatte sie ihre erste eigene Tablettendose mit diversen Ergänzungspräparaten zur Unterstützung des Knochenaufbaus und der Blutbildung. Anhand der Tabletten lernte sie auch das Zählen und die Grundrechenarten, noch bevor sie zur Schule kam. Morgens 2 Tabletten von x, Abends 1 Tablette von y und von z, und 1/2 von x.
Den Freundinnen im Kindergarten erging es nicht anders.
Besonders intensiv wurde im Kindergarten mit ihnen das Zähneputzen und Händewaschen trainiert. Die Flüssigseife wurde von einer großen Firma gespendet, die auch kleine Buttons verteilte mit einem Smiley und dem Firmenlogo.
Da Viren so gefährlich sind, durften die Kleinen draußen nur aufrecht gehend oder stehend spielen. Kinder, die sich hinhockten, oder gar Dinge vom Erdboden aufhoben, wurden zu einer Sonderschulung im Händewaschen verurteilt und dann in das Krabbelzimmer für die Kleinsten verbannt.
In der Grundschule hatte bereits alle Kinder gelernt, Plastikhandschuhe überzustreifen, bevor sie andere Kinder oder gar Tiere berührten. Ein Kind, das die Plastikhandschuhe zur Produktion von Wasserbomben missbrauchte, wurde von der Schule verwiesen.
Sie war eine Musterschülerin und ihr wurde die Aufgabe der Hygienekontrolle in der Klasse übertragen.
Zweimal sagte sie gegen Mitschülerinnen aus, die auf den Pausenhof gespuckt hatten. Außerdem war sie dafür zuständig zu kontrollieren, dass Mitschülerinnen korrekt in den Ärmel niesten und ihre Viren nicht überall verbreiteten. Auf ihren Vorschlag hin wurde der Unterricht für Schülerinnen mit Schnupfen in einen Extraraum verlegt, der Unterricht erfolgte dort über eine Videoübertragung. Sie erhielt für diese Idee eine Auszeichnung der Schulleitung.
Als sie auf die weiterführende Schule kam, ging sie alle zwei Monate zur Infektionsberatung und ließ sich untersuchen. Da ihre Großtante zwischenzeitlich an einer Virusgrippe verstorben war, wurde ihr geraten, zusätzliche Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen. Sie bestand darauf, zukünftig an einem Einzeltisch zu sitzen und verzichtete nun ganz auf Körperkontakt.
Ihre erwachenden sexuellen Bedürfnisse befriedigte sie mit einem Jungen, der ihr durch sein ausgezeichnetes Hygieneverhalten aufgefallen war, in den dafür eingerichteten sterilen Hygieneräumen im Gesundheitszentrum, die nur durch Desinfektionsschleusen betretbar waren. Der Besuch kostete sie allerdings fast ihre gesamten Ersparnisse.
Als Studentin verzichtete sie jeden zweiten Tag darauf, etwas zu essen, da sie sich die hypersterilisierte Gesundheitskost nicht jeden Tag leisten konnte. Als sie nach einem halben Jahr deshalb zusammenbrach, nahm sie einen Zusatzjob an bei einer Drogeriekette. Nun ging es etwas besser.
Inzwischen wurden aber auch die monatlichen Vorsorgeuntersuchungen immer teurer. Und die Nahrungsergänzungspräparate konnte sie sich nur leisten, weil sie sie von einer in der Apotheke arbeitenden Freundin unter der Hand kaufte.
Auf sexuelle Kohabitation mit anderen Menschen verzichtete sie inzwischen aus Kostengründen völlig, außerdem war ein gewisses Restrisiko für Infektionen bei derartigen Praxen nie auszuschließen.
Als die zweimonatlichen Impfzyklen aufkamen, musste sie das erste Mal einen Kredit aufnehmen. Nur die Impfauffrischung alle zwei Monate garantierte den sicheren Impfschutz. Dafür, fand sie, waren Schulden gerechtfertigt. Dann kam noch eine von ihrem Arzt zur Immunprophylaxe empfohlene Tomographie hinzu. Ihre Bank gab ihr keinen Kredit mehr, also belieh sie die Kasse des Drogeriemarktes, in dem sie aushilfsweise arbeitete. Zwei Tage später erfolgte ihre Entlassung.
Für ihre regelmäßigen Vorsorgeuntersuchungen erhielt sie bald keine Termine mehr, da sie mit den Zahlungen in Rückstand geriet. Ihre Freundin verkaufte die Nahrungsergänzungspräparate nun im Internet und selbst die prophylaktischen Impfungen konnte sie nicht mehr bezahlen. Alles war zwecklos geworden.
Zwei Tage später fand man ihre Leiche, sie hatte sich selbst getötet.
Sicher war sicher.
FIN
Yuriko Yushimata
Der Untergang der Weißen Rasse
Bevor die Impfung allgemein angewandt wurde, hatte der Impfstoff umfassende Tests durchlaufen. Im Kongo war das Serum knapp zweitausend Freiwilligen verabreicht worden. Es hatte keinen einzigen ernsten Zwischenfall gegeben. Auch im Tierversuch kam es zu keinen bedenklichen Nebenwirkungen. Der Impferfolg betrug hingegen annähernd 100 Prozent.
Viral verursachter Fußgeruch würde bald der Vergangenheit angehören. Der Life-Science-Konzern, der das Serum entwickelt hatte, startete eine große Aufklärungskampagne. Für viele Menschen, die aufgrund ihres viral verursachten Fußgeruches Ausgrenzung erfuhren, waren dies die Tage der Erlösung.
Die Impfzahlen erreichten in vielen Ländern gerade unter jungen Menschen schnell 100 Prozent, insbesondere in Europa und in angloamerikanischen Staaten war der Leidensdruck vieler Jugendlicher hoch gewesen.
Auch Christiane von Tutlingen-Oberstein hatte sich sobald als möglich impfen lassen. In ihrer Familie reichte das Problem mit dem virologisch verursachten Fußgeruch bis in die Zeit des Kaisers Barbarossa zurück. Dabei hatten die von Tutlingen-Obersteins immer nur innerhalb des europäischen Hochadels geheiratet.
Die Wirkung der Impfung war beeindruckend. Ihre Füße hatten sich von einem Tag auf den anderen von käsig stinkenden Mauken in wohlriechende Damenfüßchen verwandelt. Lachend tänzelte die 17-jährige Adlige über den Fußboden und drehte sich in ihrem Ballkleid. Es waren nun schon elf Monate, elf Monate ohne Fußgeruch. Und heute Abend beim Großen Presseball würde sie mit dem Prinzen tanzen. Sein Stammbaum reichte zwar nicht soweit zurück, wie der derer von Tutlingen-Oberstein, aber dafür gehörte Prinz Othmar von Kufshiet zum absoluten hohen Hochadel.
Und der 19-jährige Prinz war wirklich süß.
Um 20.30 Uhr begann der Große Eröffnungstanz. Bis dahin waren es nur noch wenige Stunden. Sie hatte den ganzen Tag schon Hitze, sie war so aufgeregt. Teilweise ergriff sie richtig Schüttelfrost. Sie setzte sich kurz in einen der Sessel in der Halle des Hauses ihrer Familie, um auszuruhen. Die Lichter ließ sie gelöscht. Sie war ja mit allem fertig.
Als es klingelte, begriff sie, dass sie eingeschlafen sein musste. Es war keine Zeit mehr. Sie würde sich auf dem Ball schnell noch einmal frisch machen. Der Taxifahrer schaute kurz etwas irritiert, als sie durch die Tür trat, und verbarg aber dann seine Überraschung.
"Fräulein von Tutlingen-Oberstein?"
"Ja."
Der Taxifahrer zuckte mit den Schultern.
"Gut."
Im Taxi war leider kein Spiegel, in dem sie ihre Schminke nachziehen konnte. Es war alles zu dunkel. Der Taxifahrer schien immer noch leicht irritiert. Christiane schob das darauf, dass er nicht gewohnt war, mit dem Hochadel zu verkehren.
Vor dem Großen Stadtschloss öffnete er ihr die Wagentür. Sie lächelte ihm huldvoll zu. Da sah sie den Fürst von Dicktorf. Sie grüßte ihn, er sah sie aber nur starr und indigniert an und dann an ihr vorbei und begrüßte dann die Frau des Bürgermeisters. Sie entschloss sich, ihn ebenfalls zu ignorieren.
Am Eingang zum Ballsaal waren fast alle Augen auf sie gerichtet. Sie hatte nicht erwartet, einen solchen Eindruck zu machen. Das musste das neue Kleid sein. Als sie dem Pagen die Eintrittskarte gab, schaute der sie verwirrt an.
"Christiane von Tutlingen-Oberstein?"
Die Worte tropften vollständig ungläubig aus seinem Mund.
"Ja, wieso?"
Der Page verbeugte sich schnell. "Entschuldigen Sie, ich war unhöflich."
Etwas irritiert betrat Christiane den Ballsaal. Sie erregte immer noch die Aufmerksamkeit aller Anwesenden. Aber inzwischen rissen sich die Betrachterinnen und Betrachter zusammen und schauten höflich weg, sobald Christianes Blick auf sie fiel. Sie dachte sich nichts weiter dabei und schlängelte sich durch zu den Seitengängen. Die Säulen waren hier ganz verspiegelt. Sie betrachtete noch mal versonnen ihr Kleid, aber ...
Sie betrachtete das Kleid, aber ...
Das konnte nicht sein. Sie hob ihren Arm. Die junge Frau im Spiegel, die ihr Kleid trug, hob auch ihren Arm. Sie schüttelte den Kopf, das Bild im Spiegel schüttelte auch den Kopf. Sie zog sich einen Handschuh aus und starrte ungläubig auf ihre Hand. Ihre Haut war dunkelbraun, fast schwarz, ihr Gesicht im Spiegel auch und auch ihre Brüste, soweit sie zu sehen waren. In ihrem Kopf begann sich alles zu drehen, immer wieder durchzuckte sie nur der eine Gedanke – "Ich bin eine Negerin" – die Frau, die ihr gegenüber im Spiegel stand, in ihrem Kleid, hatte eine dunkle Hautfarbe.
Sie musste eingeschlafen sein, träumen. Sie schlug mit der Faust gegen den Spiegel, das Glas zerbrach, sie blutete und es schmerzte, doch die Haut war immer noch schwarz.
In den nächsten Monaten veränderte sich die Hautfarbe aller Weißen, die sich hatten impfen lassen in unterschiedliche dunkelbraune bis schwarze Hauttöne. Fast alle Weißen unter 30, die in Europa und im angloamerikanischen Raum lebten, waren davon betroffen. Und es war eine durch das Serum ausgelöste erbliche Mutation, sie würden auch farbige Kinder bekommen.
Eine Gesundheitsgefahr bestand dadurch aber nicht.
Die Eltern von Christiane von Tutlingen-Oberstein hatten große Probleme, ihre Tochter so zu akzeptieren, vielen Eltern erging das ähnlich. In einem geheimen Biolabor ließen sie ein Virus entwickeln, das den mutagenen Effekt des Serums rückgängig machen sollte.
Dies schien auch zu funktionieren, nur geriet der Virus außer Kontrolle und nun wurden auch alle Farbigen weltweit eingeweißt.
Und dann zeigte sich auch noch, dass weder der mutagene Effekt des Serums noch der des Virus stabil waren. Es bildeten sich immer mehr Zwischentypen aus. Menschen mit karierten, punktierten oder gestreiften Farbmustern der Haut. Viele waren auch einfach mehrfarbig scheckig.
Christiane von Tutlingen-Oberstein bildete sich deshalb auf die rhombenförmige Schwarzweißmaserung ihrer Haut besonders viel ein, schließlich war sie eine von Tutlingen-Oberstein.
Und Othmar von Kufshiet hatte jetzt ganz süße Streifen.
FIN
Yuriko Yushimata
ImpfSTOFF
Intelligente Kleidung wurde bereits über zwei Jahrzehnte vertrieben, als die intelligente Kleidung der zweiten Generation auf den Markt kam. Bei der ersten Generation intelligenter Kleidung ging es noch um die automatische Anpassung vor allem der Oberbekleidung an die Witterungsverhältnisse, um Jacken, die bei Regen automatisch wasserundurchlässig wurden, bei Hitze als Klimamembran wirkten und im Winter Wärmeenergie speicherten und bei Bedarf automatisch freisetzten.
Die zweite Generation war die erste Generation medizinisch wirksamer Kleidung. Der Durchbruch kam mit Kleidung, die virologische Risiken mit Hilfe von Sensoren erkannte, analysierte und automatisch die notwendigen Impfungen durchführte.
Zuerst wurde diese Kleidung vor allem bei alten Leuten und Kleinkindern vermarktet. Die Lebenserwartung stieg dadurch nachweislich. Langsam begann sich dann die Neue Funktionskleidung auch in anderen Altersgruppen durchzusetzen. Das Tragen medizinisch wirksamer Kleidung wurde immer mehr zur Selbstverständlichkeit und die komplexen Kleidungsstücke wurden ergänzt durch kleine handliche Impfarmbänder. Selbst beim Sexualverkehr trugen die Menschen Impfarmbänder. Schließlich barg gerade das Teilen von Körperlichkeit mit anderen besondere Infektionsrisiken.
Die Armbänder wurden mit der Zeit darüber hinaus zu einem modischem Accessoire, das es in den unterschiedlichsten Varianten gab, verspielt in Herzform mit Rüschen, aus schwarzen Leder für harte Kerle und für die SM-Szene mit Metallnoppen, aus buntem Plastik im Popartdesign, als Hippiefransen und, und ...
Menschen und Gruppen, die sich diesen Impfpraxen verweigerten, wurden zunehmend ausgegrenzt. Sie galten als Hochrisikogruppen für die Verbreitung ansteckender Krankheiten.
Impfverweigerern wurde ohne weitere Begründung die Arbeitsstelle entzogen. Wohnungen bekamen sie nur noch in bestimmten Stadtvierteln. Falls sie sich weigerten, ihre Kinder mit der Neuen Funktionskleidung auszustatten oder mit Impfarmbändern, konnte ihnen das Sorgerecht entzogen werden.
Dies geschah aber fast nur bei Kindern aus den oberen sozialen Schichten.
In den Armutsbezirken der Städte vegetierten die Menschen mit dysfunktionaler und veralteter Funktionskleidung dahin. Da Viruserkrankungen, als selbstverschuldet, nicht mehr von den Krankenversicherungen abgedeckt wurden und die Menschen in den Armutsgebieten sich selbst eine Behandlung nicht leisten konnten, kam es in den Ghettos immer wieder zum Auftreten von Pandemien mit Tausenden von Toten.
Dies war die Normalität, auch für Klara. Klara saß am FKK-Strand und las die Tageszeitung, sie trug ein neckisches Impfarmband mit einer Äskulapschlange mit Apfel im Mund. Sie musste daran denken, es nachher zu verschieben, damit sie dort keinen weißen Ring nicht gebräunter Haut behielt. Sie wollte sich gerade wieder der Zeitung zuwenden, als ihr Blick an der alten Frau haften blieb.
Irgendetwas an der Alten irritierte sie. Sie hatte nichts gegen alte Leute beim FKK. Im Gegenteil, sie fand das mutig. Aber diese Frau machte sie unruhig. Sie sah, dass es auch anderen so ging. Sie versuchte wegzuschauen, doch ihr Blick glitt immer wieder zu der alten Frau, ihre runzlige Haut sah etwas verquollen aus.
Dann begriff sie. Es war unglaublich.
Die Alte trug kein Impfarmband. Sie war völlig nackt. Offensichtlich fehlte der Alten jegliches Schamgefühl. Wie konnte die Alte so verantwortungslos sein, erstaunlich, dass die Frau mit einer solchen Einstellung dieses Alter erreicht hatte. Sie konnte es nicht fassen, Ekelschauer ließen ihre Haut erzittern.
Dann sah sie die jungen Männer, die sich der Alten näherten.
Zuerst spielten die Männer immer nur einen Ball direkt über die Alte hinweg. Da sie döste, schien sie das gar nicht richtig zu merken. Dann traf sie ein Schuss mit voller Wucht am Kopf. Ihr Ohr blutete, verwirrt setzte sie sich auf. Um sie herum standen die jungen Männer. Einer warf ihr den Ball zu. Sie fing ihn automatisch. Ein anderer trat ihn ihr aus der Hand. Sie war jetzt völlig durcheinander.
"Was, was soll das?"
"Dreck wegräumen."
Die Alte sah sich hilfesuchend um, doch alle am Strand schauten weg, vertieften sich in ihre Bücher oder entschlossen sich auf einmal, noch mal schwimmen zu gehen. Die Jungmänner spritzten Bier auf die Alte. Als sie sich aufraffte, um zu fliehen, stellte einer ihr ein Bein. Sie stolperte. Ihr Handtuch blieb liegen. Sie kroch weiter. Dann richtete sie sich zitternd wieder auf und wandte sich zum Übergang zum Parkplatz. Ein Jungmann sprang direkt vor sie.
"Na Alte, willste noch Bier?"
Sie versuchte, zur Seite auszuweichen und stolperte wieder. Leicht humpelnd stand sie wieder auf. Sie floh seitwärts in die Dünen.
Klara sah zwei große Hunde hinter ihr her springen. Dann konnte sie nichts mehr sehen, nur die Schreie waren zu hören. Alle am Strand schauten unangenehm berührt, aber niemand tat etwas. Ein Jungmann brüllte hinter den Hunden her. Endlich, nach Minuten kamen die Hunde zurück. Die Alte brüllte jetzt nicht mehr.
Später bei der Polizei sagte Klara aus, dass es ein Unfall war, ein tragischer Unfall. Die alte Frau war ja wohl auch verrückt gewesen, ohne Impfarmband rumzulaufen.
Klara sah als Teil der gebildeten Schicht einer helleren Zukunft entgegen. Irgendwann würden sie diese letzten Reste des alten Verhaltens überwinden.
Das Schicksal der Alten tat ihr leid, der Fortschritt war manchmal unerbittlich. Doch letztendlich würde er allen zugute kommen.
Zwei Jahre später kam es zum ersten großen Seuchenausbruch unter den Trägerinnen und Trägern von Funktionskleidung. Die Dauerimpfungen hatten das Immunsystem der Menschen stark geschwächt, Millionen starben. In der Folge kam es zu Pogromen gegen die Bevölkerung in den Armenghettos, denen die Schuld an der Seuche gegeben wurde.
Ganze Viertel wurden niedergebrannt und die Bewohnerinnen und Bewohner bestialisch abgeschlachtet.
Dann kam der nächste Schub der Seuche und noch mehr starben und auch die Pogrome flammten wieder auf, die Armutsbevölkerung begann sich zu wehren. Und sie war gegen die Seuche immun.
Zehn Jahre später, nach weiteren Schüben der Seuche, Bürgerkrieg und Zerfall der Gesellschaft hatte nicht einmal 0,5 Prozent der europäischen Bevölkerung überlebt.
Klara stand am Strand und erinnerte sich kurz an die Szene mit der alten Frau am Strand. Damals, als ihre Welt noch existierte, vor der Seuche und dem Bürgerkrieg. Keine ihrer Freundinnen, kein Verwandter hatte überlebt. Sie war eine der wenigen Überlebenden aus der Oberschicht, allein. Der Strand war ihre Zuflucht geworden vor der Gewalt und anderen Menschen.
Die Menschen erschlugen sich wahllos wegen etwas zu essen.
Sie durften sie nicht finden. Sie hielt sich jetzt in den Dünen versteckt. Sobald sie Menschen hörte oder sah, floh sie.
Klara hatte sich eine notdürftige Höhle in den Sanddornbüschen gebaut.
Sie schlürfte gierig ein Möwenei.
FIN
Yuriko Yushimata
Für eine bessere Welt
Dr. Schuhmann lachte in die Kameras. Er war sich sicher, dass diese Bilder heute Abend über alle Nachrichtenkanäle laufen würden. Neben ihm saß Linda Mutton, die Pressereferentin der Firma. Sie grüßte gezielt alle wichtigen Medienvertreterinnen und ‑vertreter und schenkte allen ein persönliches individuelles Lächeln. Die Aktien der Firma hatten gestern bereits einen Sprung nach oben gemacht, als die ersten Gerüchte durchgesickert waren.
Ja, sie hatten es geschafft. Das Elend würde ein Ende haben. Und nicht nur die Betroffenen würden profitieren, indirekt würde dies zur Erhöhung der Lebensqualität in ganzen Stadtquartieren führen. Nur die Polizei würde wohl Stellen einbüßen.
Die erste Frage durfte der Vertreter des größten Fernsehsenders im Land stellen.
"Stimmt es, dass Ihr Impfstoff nicht nur Heroin- und Kokainabhängige von ihrer Sucht kuriert, sondern auch bei Drogen wie Marihuana, Alkohol und Zigaretten wirksam ist?"
"Da unser Wirkstoff direkt im Gehirn ansetzt, wirkt er bei jeder Form von Drogenmissbrauch. Bei einer Übererregung spezifischer Hirnareale wird eine körperliche Gegenreaktion ausgelöst, die jeden Drogenkonsumenten auf Dauer von weiterem Konsum abhält. Insofern haben Sie das völlig richtig verstanden."
Eine Journalistin hakte nach.
"Es handelt sich ja aber eigentlich nicht um einen Impfstoff?"
"Der Begriff Antidrogenimpfung ist von uns umgangssprachlich gewählt, wir regen den Körper an, auf Drogeneinnahme mit einer Art Immunabwehr zu reagieren. Ich glaube nicht, dass Ihr Publikum die Details wirklich interessieren. Das ist dann mehr eine Diskussion für Fachleute."
Weitere Fragen wurden gestellt.
"Das bedeutet das Ende aller Drogenkartelle?"
"Ja."
"Es wird keine Drogenabhängigen mehr geben?"
"Nicht ganz, in seltenen Einzelfällen kommt es zu Resistenzen, aber dies betrifft nach unseren Tests weniger als 0,1 Promille einer Population."
Die Fragen gingen noch eine Weile weiter. Den ganzen Tag über gab es Sondersendungen und am Abend war er in eine Talkshow eingeladen. Überall beglückwünschten ihn die Menschen und gratulierten zum Erfolg. Seit der Entdeckung von Antibiotika hatte es vermutlich keine wichtigere medizinische Entwicklung gegeben.
Der Wirt des Restaurants, in dem er regelmäßig zu Mittag aß, scherzte am nächsten Tag, wann er denn nun den Nobelpreis erhalten würde.
Alles war gut.
Sie impften die gesamte Bevölkerung.
Guido saß wie immer auf einem Stofffetzen vor seinem Supermarkt. Wie jeden Tag defilierten die Spießer auf dem Weg hinein und hinaus an ihm vorbei. Ab und an fiel etwas Kleingeld in seinen Hut. Er hing jetzt schon so lange an der Nadel, dass er sich ein anderes Leben gar nicht mehr vorstellen konnte. Als die Cops kamen und ihn wegschleppten, ließen sie ihm nicht einmal mehr Zeit, den Hut mit dem Kleingeld einzusammeln. Er kannte das schon.
Doch diesmal war es anders. Sie stellten ihn vor die Wahl Knast oder freiwillige Zustimmung zur Antidrogenimpfung. Nach der Impfung wurde er in ein Krankenzimmer gebracht in einer Klinik. Noch in der Nacht verschwand er mit dem Flachbildschirm des TV-Gerätes aus dem Gemeinschaftsraum. Für den Flachbildschirm erhielt er genug Stoff für zwei Schüsse.
Zwei Tage später lag er wieder vor dem Supermarkt. Als die Cops ihn das nächste Mal holten, brachten sie ihn gleich in die Klinik. Eine ganze Gruppe Weißkittel untersuchte ihn, schob ihn in eine Röhre, spritzte ihm irgendwas und ließ ihn dann in einem abgedunkeltem Zimmer zurück. Diesmal war die Tür verschlossen.
Am nächsten Tag erhielt er die Diagnose Impfresistenz und eine Bescheinigung für die Apotheke. Er bekam sein Heroin nun umsonst, einer von elf resistenten Fällen in Deutschland. Außerdem wurde ihm ein Zimmer in einer betreuten Wohngemeinschaft angeboten. Besser als die Straße war das allemal. Immer wieder musste er zu den Weißkitteln und sich untersuchen lassen.
Er war ein interessanter Fall. Ihm wurde das unheimlich und er fragte nach einem Therapieplatz.
In der Entzugseinrichtung gab es außer ihm nur zwei anderen Abhängige, eine Frau und einen Mann. Die Einrichtung stand kurz vor der Schließung, aber auf jeden der drei Abhängigen kamen zwei Ärzte, eine Psychologin, ein Sozialarbeiter und zwei Krankenschwestern und zusätzlich noch Verwaltungspersonal.
Er gab nach kurzer Zeit jeden Widerstand auf.
Er war nun clean.
Monate zogen ins Land.
Dr. Schuhmann wurde immer noch herumgereicht. Aber im letzten Monat hatte sich sein Verhalten verändert. Misstrauisch beobachtete ihn die Pressereferentin. Sie konnte nicht glauben, was sie sah. Schuhmann war doch einer der ersten gewesen, die geimpft worden waren mit ihr zusammen – öffentlich, als Werbung – und nun das.
Dr. Schuhmann lallte und versuchte, seiner Mitarbeiterin an die Brüste zu grapschen. Fassungslos registrierte die Pressereferentin das Geschehen. Es hatte in der letzten Zeit mehrfach Getuschel über derartige Vorfälle gegeben. Aber sie hatte das nicht geglaubt, sie hatte gedacht, es wäre gemeiner Tratsch aus Eifersucht. Diesmal passierte es das erste Mal in der Öffentlichkeit. Sie versuchte, Schuhmann aus dem Vortragsraum zu zerren und ließ ihre Assistentin verbreiten, dass Dr. Schuhmann leider an einer schweren Grippe erkrankt sei. In einigen Tagen sicher aber wieder für Fragen zur Verfügung stünde. Mit Mühe gelang es ihr, Schuhmann vom Gang in einen kleinen Nebenraum zu bugsieren.
"Mein Gott, was ist los?"
"Milch, trinken Sie etwas Milch."
"Nein Danke."
Schuhmann tätschelte ihr die Wange.
"Ach, kommen Sie, seien Sie nicht so. Hier."
Er hielt ihr eine aufgerissene Milchtüte hin.
"Nein."
"Dann geh ich wieder raus."
"Stopp, ich trinke die Milch und Sie tun dann, was ich sage."
Sie musste unter allen Umständen dafür sorgen, dass die Presse Schuhmann so nicht zu Gesicht bekam. Schuhmann nickte grinsend. Zwar ekelte sie sich vor Milch, aber Job war Job.
Angeekelt schluckte sie etwas von der Milch hinunter. Es schmeckte erstaunlich. Sie nahm noch einen Schluck. An sich war es ja egal, sie trank die Tüte leer. Schuhmann hatte noch einen Liter. Sie riss ihn auf und trank weiter. Irgendetwas war seltsam. Schuhmann umarmte sie. Sie lachte. Dann ging irgendwie das Licht aus.
Als sie am nächsten Morgen aufwachte, lagen sie in Schuhmanns Wohnung auf der Couch. Sie hatten hier offensichtlich zu zweit übernachtet. Schuhmann kam gerade aus dem Bad, er hatte einen starken Kaffe gekocht und reichte ihr eine Tasse. Seine Hand zitterte leicht. Überall im Zimmer lagen leere Milchtüten. Es stank. Aber irgendwie löste der Geruch keinen Ekel bei ihr aus, sondern Durst. Milch, sie brauchte Milch.
Schuhmann unterbrach ihre Gedanken.
"Trinken Sie erst eine Tasse Kaffee."
Sie versuchte Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Schuhmann sah ihren ungläubigen Blick. Er setzte sich ihr gegenüber an den Couchtisch.
"Es ist die Milch. Der Impfstoff führt dazu, dass Milch starke halluzinatorische und euphorisierende Effekte auslöst. Ich, ich kann es nicht mehr kontrollieren."
"Was war letzte Nacht?"
Schuhmann schüttelte den Kopf.
"Ich weiß auch nicht."
Sie stand auf und lief in die Küche. Dort stand eine offene Tüte Milch. Sie konnte dass nicht glauben, roch an der Milch. Sie roch ganz normal, sehr gut. Sie nahm einen Schluck, dann noch einen. Sie lachte. Es war doch alles gut.
Als Schuhmann in die Küche kam, tanzte sie auf einem der Stühle und reichte ihm den Rest der Milch. Sie blieben den Tag über in Schuhmanns Wohnung. Als sie alle vorhandenen Milchtüten ausgetrunken hatten, gingen sie kurz zum Supermarkt.
Sie waren nicht die einzigen.
Innerhalb weniger Monate waren mehr als 90 Prozent der Bevölkerung milchabhängig.
Die Milchpreise erreichten ein Allzeithoch. Bei politischen Empfängen wurde die Milch in großen Schüsseln und verschiedenen Farbnuancen und Geschmacksrichtungen serviert. Die Produktivität sank um fast 40 Prozent. Alle Arbeitslosen fanden eine Anstellung, da aufgrund der allgemeinen Milchsucht alle Stellen doppelt besetzt werden mussten, um zumindest halbwegs die Produktionsabläufe sicherzustellen. Auf den Straßen fanden regelrechte Milchorgien statt.
Milch wurde zum Nationalgetränk erhoben und Leute, die keine Milch tranken, galten schnell als asozial. Alle tranken Milch und nur Außenseiter nahmen sich davon aus.
Guido war immer noch clean. Milch schmeckte für ihn noch genauso widerlich wie früher. Wieder sahen ihn die Leute abschätzig an, immer wenn er das Mittrinken ablehnte. Früher hatte er gedacht, es gäbe nichts schlimmeres als verklemmte nüchterne Spießer.
Heute wusste er, dass Spießer auf Droge noch schlimmer waren.
FIN
Yuriko Yushimata
Virale Stimulation
Als sie ihre E-Mail abrief, wollten ihr wieder diverse 'gute Freundinnen' virale Stimulanzien verkaufen.
'Haben Sie Probleme, Lust zu empfinden in Ihrer Partnerschaft?'
'Erleben Sie einen Orgasmus, wie Sie ihn noch nie hatten.'
'Mit V, dem Virus mit der V-Formel zur natürlichen Luststeigerung.'
Seit der Entdeckung der Möglichkeit viraler Stimulation der Sexualität hatte sich ein Multimillionen-Dollarmarkt entwickelt. Bisher hatte sie dies immer abgelehnt. Aber nachdem nun auch ihre Schwester Eva ihr von der Wirkung vorschwärmte, kam sie ins Grübeln. War sie zu altmodisch? Eva war überzeugt, dass die virale Stimulation ihre Ehe gerettet hatte.
Männer benutzten sie schon länger.
Matthias hatte ihr schon vor zwei Jahren davon vorgeschwärmt. Matthias, sie hatte eine Weile nichts mehr von ihm gehört. Matthias, der dauernd eine neue Freundin hatte und aus der Disco nie allein nach Hause ging. Manchmal fiel er ihr mit seiner Fixierung auf Sex und Frauen auf den Wecker. Und seine Angst vor Männern. Aus irgendeinem Grund war ihr Verhältnis zu ihm immer freundschaftlich geblieben. Er hatte bei ihr nie etwas versucht. Beste Freundin, sie prustete durch die Lippen.
Sie bestellte sich V, den Virus mit V-Formel.
Als das Päckchen kam, ließ sie es aber ungeöffnet liegen.
Die virale Stimulation wurde selbst in medizinischen Ratgebersendungen im Fernsehen empfohlen. Für Jugendliche gehörte sie zum Alltag, dabei war sie erst vor knapp zweieinhalb Jahren eingeführt worden. Vor allem die kleinen Machomänner pumpten sich damit auf. Die neuen Technologien verbreiteten sich immer schneller. Gesundheitliche Probleme wurden aber zu 100 Prozent ausgeschlossen.
Das Päckchen lag immer noch ungeöffnet in ihrem Schrank. Sie war einfach zu altmodisch und es gab Wichtigeres als Sex.
Sie rief Matthias an, sie hatte ihn länger nicht mehr gesehen. Ja, es ging ihm gut, wunderbar. Er hätte sich ganz neu entdeckt, aber das wolle er ihr lieber persönlich sagen und die virale Stimulation könne er nur empfehlen. Es würde ihr sicher gut tun. Sie zuckte mit den Schultern, obwohl Matthias das am Telefon nicht sehen konnte. Sie stellte die Kamera eigentlich immer ab. Matthias verabredete sich für Dienstag mit ihr.
Das Päckchen blieb ungeöffnet im Schrank.
Am Dienstagmorgen traf sie Matthias im kleinen Café am Markt. Er sah gut aus, wirkte aber etwas nervös. Ein junger Mann stand neben ihm und beide tuschelten, als sie hereinkam. Sie begrüßte Matthias.
"Hallo. Wie geht's?"
Matthias lächelte etwas unsicher.
"Hallo, mhh – das ist Christian."
"Hallo."
Irgendetwas stimmte hier nicht. Matthias legte den Arm um Christian und küsste ihn.
"Äh, wir sind zusammen."
Einen Moment fiel ihr die Kinnlade runter – Matthias schwul –, dann fasste sie sich und reichte Christian ihre Hand, ihr Lächeln war etwas unsicher.
Als sie wieder zu Hause in ihrer Küche saß, trank sie erst mal noch einen Kaffee.
Zwei Wochen später rief ihre Schwester Eva an, sie hatte sich von ihrem Mann getrennt und lebte jetzt mit ihrer Geliebten zusammen. Wieder hatte sie das Gefühl, irgendetwas Entscheidendes verpasst zu haben. Natürlich war das in Ordnung, nur Eva, da hätte sie das nie gedacht.
Sie kochte sich einen Kaffee.
Dann explodierte die Medienberichterstattung, Homosexualität schien die neue Mode zu sein. Knutschende kleine Machos bevölkerten die Straßen. Zuerst fand sie dies irritierend, bald fiel es ihr aber nicht einmal mehr auf. Dann kamen die ersten Berichte über Zusammenhänge mit der viralen Stimulation. Und nach kurzer Zeit war der Zusammenhang klar. Aber kaum jemand regte sich wirklich auf, im Gegenteil der Absatz für virale Stimulanzien brach nur sehr kurzfristig ein, um dann sogar weiter anzusteigen.
Das Päckchen lag immer noch ungeöffnet im Schrank. Nachdenklich öffnete sie es. Sie dachte nach, an sich war das doch ... Sie lächelte.
Sie las sich die Gebrauchsanweisung durch und folgte Stück für Stück den Anweisungen.
FIN
Yuriko Yushimata
Die letzte ihrer Art
Sie gehörte zu den wenigen Überlebenden der Seuche innerhalb der Zone A. Die internationale Gemeinschaft hatte die Zonen A und B vollständig mit Militär abgeriegelt, um eine weitere Ausbreitung der Krankheit zu unterbinden. Die Krankheit hatte angefangen wie eine Grippe, doch dann hatten sich auf der Haut Geschwüre gebildet, die aufplatzten.
Überall der Gestank nach Tod.
Die Zone A war einmal eine Großstadt gewesen, ihre Stadt, die Stadt, in der sie aufgewachsen war.
War einmal, vor zwei Monaten.
Sie lag apathisch auf dem Bett. Seitdem war alles anders, für die Menschen in der Zone A. Das Militär hatte den Befehl, auf jede, die versuchte, die Zone zu verlassen, scharf zu schießen. Sie waren mit irgendeiner Art Spezialpanzer und Lautsprechern durch die Stadt gefahren. Die Ansage war das erste, was sie von der Welt draußen nach Ausbruch der Seuche, nachdem sie bereits eine Woche in ihrer Wohnung verbracht hatte, hörte. Und dann sah sie noch einmal eine Patrouille in Schutzanzügen, bewaffnet. Sie schossen auf alle Menschen, die sich ihnen näherten.
Sie hatte aus dem Dunkel ihres Fensters gesehen, wie sie einen kleinen Jungen erschossen. Die Leichen wurden verbrannt. Es gab nur noch wenige Menschen in der Stadt, keine ihrer Freundinnen lebte mehr.
Ein junges Mädchen hatte sich in der Wohnung unter ihr einquartiert. Das Mädchen hatte nur noch Angst. Sie hatte sie auf der Straße gefunden und mitgenommen.
Zu essen und zu trinken war genug vorhanden in den Supermärkten, Konservendosen und Plastikwasser, alles umsonst. Das einzige, was in den Supermärkten der Stadt noch herumlief, waren Kakerlaken, vielleicht auch Ratten. Der Strom funktionierte schon lange nicht mehr, aber inzwischen gab es nicht einmal Wasser. Sie ging nun systematisch auf die Klos in den Nachbarhäusern, ohne Wasser war jedes nur einmal benutzbar, aber da war ja niemand.
Das Mädchen benutzte einen Schuppen im Hinterhof als Klo.
Am Anfang hatte sie noch Angst gehabt, selbst zu erkranken, inzwischen wusste sie, dass sie an dieser Krankheit nicht sterben würde, nicht jetzt. Ein Batterieradio war ihre einzige Verbindung zur Außenwelt, dort wurden Menschen wie sie und das kleine Mädchen als Gefahr für die Menschheit bezeichnet. Sie waren latent erkrankte Virusträger.
Die meisten Menschen tötete der Virus innerhalb weniger Tage, aber einige erkrankten nur leicht und entwickelten eine chronische Infektion. Sie waren die Vektoren der Verbreitung des Virus, die Botinnen des Todes.
Dann traf sie ihn beim Zusammensuchen von Konservenbüchsen. Er war jünger als sie und wirklich süß. Sie nahm ihn mit. Er hieß Jean. Die Nächte ohne Fernsehen waren jetzt erträglicher. Die Einsamkeit hatte ihm zugesetzt, manchmal schreckte er mit Alpträumen nachts hoch, dann nahm sie ihn in die Arme, streichelte ihn.
Das Mädchen mochte ihn auch. Sie frühstückten jetzt oft lange und ausgiebig zusammen, nur Brötchen fehlten. Er organisierte einen Campinggasherd und einige Gasflaschen und Wein, Krabben und Kaviar, das Beste vom Besten. Leider alles aus der Dose.
Die Tage wurden wieder heller.
Doch dann kam der Tag, an dem sie die Schüsse hörten. Sie ging, um nachzusehen. Vorsichtig schlich sie über die Hinterhöfe, es war einige Kilometer entfernt.
Dann sah sie es.
Miltärpatrouillen in Schutzkleidung durchkämmten Haus für Haus, alle Überlebenden wurden erschossen. Die meisten waren zu apathisch, um sich zu wehren. Ein Kind saß zitternd und verängstigt hinter einer Schaukel. Sie konnte ihm nicht helfen, ohne selbst entdeckt zu werden. Die Soldatin zögerte keinen Moment und schoss dem Kind in den Kopf.
Die Frau zitterte und verkroch sich und lief dann über die Hinterhöfe zurück. Jetzt sah sie auch Überwachungsdrohnen in der Luft.
Bei dem Tempo würden die Patrouillen in zwei Tagen bei ihnen sein. Und sie hörte die Schüsse jetzt auch aus anderen Himmelsrichtungen, sie bildeten einen Ring.
Sie entschlossen sich, in der Nacht den Ausbruch zu versuchen. Sie wollten leben. Jean schlug vor, einen Truck zu benutzen. Benzin gab es noch an einigen Tankstellen.
Um 0.00 Uhr fuhren sie los. Sie hatten den Truck gepanzert. An der ersten Straßensperre lief alles glatt. Der Truck schob einfach alles zur Seite. Die Schüsse verfehlten sie. Doch dann gab es eine Explosion und der Truck wurde angehoben und zur Seite geschleudert, als wäre er ein Spielzeug, vielleicht eine Mine, vielleicht eine Rakete. Jean war sofort tot, das Mädchen war eingequetscht und atmete nur noch flach.
Sie konnte für die beiden nichts mehr tun.
Schnell verschwand sie in den Trümmern des Hauses, in das der Truck geschleudert worden war, und rannte dann im Dunkeln, immer in der Deckung der Häuser, immer bereit abzutauchen, so schnell und so weit sie konnte. Zweimal musste sie blitzschnell in einem Haus verschwinden, um Patrouillen zu entgehen. Sie wusste nicht genau, wo sie war.
Dann kam der Fluss.
Das Wasser war nicht sehr warm, aber im Dunkeln gelang es ihr, treibend an einem Stück Holz, weit weg von der Stelle, an der sie den Fluss erreicht hatte, das andere Ufer zu erreichen. Sie kroch mehr als dass sie lief noch drei Kilometer weiter und verkroch sich dann in einem dichten Gebüsch.
Dass die Patrouillen sie übersahen, war reines Glück. Die Zonen B und C zu durchqueren war wesentlich leichter. Sie stahl sich unterwegs Essen und Geld.
Die Behörden brauchten drei Wochen, um zu begreifen, dass ein Vektor entkommen war, da war es zu spät. Im ganzen Land überlebten nicht mehr als 10 000 Menschen.
Im Ausland konnte das Schlimmste vermieden werden, da nun ein Impfstoff zur Verfügung stand.
Die Frau zog sich auf einen verlassenen Bauernhof zurück, hier gab es Wasser mit einer Pumpe, reichlich Konserven und einen großen Gemüsegarten. Im Supermarkt im Dorf fand sie alles, was sie sonst brauchte.
Am Anfang hatte sie sterben wollen, doch dann hatte sie bemerkt, dass sie schwanger war. Jean hatte mehr als eine kurze Erinnerung hinterlassen. An die Möglichkeit, schwanger zu werden, hatte sie damals einfach gar nicht gedacht.
Es war absurd, aber aus irgendeinem Grund wollte sie das Kind haben.
Später tat sie sich mit anderen Überlebenden zusammen. Das angrenzende Ausland teilte das Land unter sich auf, die wenigen Überlebenden hatten nichts zu sagen, die Frau bekam die Staatsbürgerschaft eines dieser Länder.
Das Kind wuchs heran und bekam selbst Kinder.
Auch die Kinder des Kindes bekamen wieder Kinder und diese wieder.
Zuerst bemerkte niemand die Veränderung. Dann nach Hunderten von Jahren wurden die ersten Anomalien in Genomen festgestellt. Weitere 100 Jahre gingen ins Land, bis die Muster klar waren. Da war es bereits zu spät.
Der Virus hatte in den evolutionären Prozess eingegriffen. Die Gensequenzen, die der Virus transportiert hatte, hatten nicht nur Zellen umprogrammiert, um weitere Viren zu produzieren, sie hatten das menschliche Genom umgebaut.
Dieser Prozess war als viral induzierte Evolution lange bekannt, aber kaum beachtet worden.
Und nun war eine neue Art Mensch entstanden. Berechnungen sagten, dass der Homo sapiens innerhalb der nächsten 500 Jahre aussterben würde, abgelöst von seinem genetischen Nachfolger.
1000 Jahre später saß eine einsame alte Frau auf einem Felsen und schaute in die stürmische See.
Hier auf den Färöer-Inseln war das letzte Reservat des Homo sapiens angesiedelt worden. Man hatte sie nicht schlecht behandelt, trotzdem waren sie immer weniger geworden.
Nun war sie der letzte Mensch der Gattung Homo sapiens.
Sie spritzte sich etwas kaltes Wasser ins Gesicht.
Das Leben ging weiter.
FIN
Yuriko Yushimata
Und krank bedeutet frei zu sein
Mit 13 Jahren begann die Angst, die Angst vor dem Virus. Dabei ging es nicht um einen speziellen Virus, sondern um den Virus, der überall lauern konnte, aber besonders gefährlich waren andere Menschen, die Nähe zu anderen Menschen.
In der Schule lernten sie, wie sie mit Plastikschutz und Desinfektionssalben und -sprays trotzdem erfüllte Beziehungen haben könnten. Bei ihrem ersten Kuss riss das Plastik, danach mied sie zwei Jahre jeden weiteren Kuss. Dann kaufte sie extrastarke Kussfolie. Nun spürte sie zwar nichts mehr, aber sie war sicher. Trotzdem blieb ein Stück Angst.
Das WC in ihrer ersten Wohnung rüstete sie mit einer automatischen Totaldesinfektion nach. Ihr zweiter fester Freund musste nach einer Fehlauslösung ins Krankenhaus. Er kam nie wieder. Aber mit jemandem, der nicht auf Desinfektion achtete, wollte sie sowieso keine Beziehung. Schließlich rasierte sie auch jedes Körperhaar ab.
Sie hatte inzwischen gefühlsechte Ganzkörperschutzanzüge gekauft, die nach jeder gemeinsamen Nacht durch den Beschuss mit Radionukliden gereinigt wurden. Aber auch jetzt hatte sie immer Angst. Außerdem hatte sie Schwierigkeiten, ihre Liebsten länger zu halten. Meist hatten ihre Liebhaber die absurde Erwartung, dass sie irgendwann auf den Schutz verzichten würde. Aber gerade Liebende sollten doch verantwortungsbewusst miteinander umgehen. Dann gingen sie und es kam ein neuer.
Dadurch wuchs ihre Angst immer mehr, schließlich waren häufig wechselnde Beziehungen ein hohes Risiko.
Dann gab es diesen Autounfall. Sie wurde verletzt, auf offener Straße, blutend, lag sie im Dreck. Seitdem war sie Virusträgerin.
Nun achtete sie erst recht auf Sicherheit, sie hatte Angst, andere anzustecken. Sie trug nun permanent Schutzhandschuhe und einen Mundschutz, auf Beziehungen verzichtete sie, ihre Arbeit erledigte sie als Telearbeit von zu Hause aus. Menschen berührte sie möglichst gar nicht mehr. Bei Gängen durch die Stadt wich sie allen anderen aus. Zur Not wechselte sie den Bürgersteig, um niemandem zu nahe zu kommen.
Es war ein Herbsttag, die Sonne schien, als es passierte. Sie stolperte und fiel zusammen mit einem Mann in ihrem Alter auf den Boden. Sie blutete und ihr Blut tropfte auf seine Haut. Schreckensbleich zog sie sich zusammen. Der Mann versuchte ihr aufzuhelfen. Sie stieß ihn von sich, schrie.
"Ich bin Virusträgerin!"
Der Mann sah sie an. "Ich auch."
Sie hatten noch zwei Jahre. Es war das erste Mal, dass sie die Haut eines anderen Menschen auf ihrer Haut spürte. Sie hatten ja beide nichts zu verlieren. Sie liebten sich nicht nur nachts und ihr Begehren wuchs wie der Samen einer Wüstenpflanze nach dem ersten Regen seit dreißig Jahren.
Sie war das erste Mal glücklich.
Sie hatte das erste Mal keine Angst.
Als sie starb, sagte sie ihrer Freundin, dass es nicht schlimm sei, die Krankheit wäre das Beste gewesen, was ihr passieren konnte.
FIN
Yuriko Yushimata
Das Meer in DIR
Das große kreischend lachende Gesicht vor ihren Augen blähte sich immer weiter auf und verzerrte sich zu einer Fratze. Dann sah sie mit einem Mal, dass es aus lauter kleinen bewegten Punkten bestand, die grüngelb pulsierten. Auf einmal war das Gesicht wieder da, jetzt war es das Gesicht ihres widerlichen Chefs, dann das Gesicht des Mannes, der sie gestern angepöbelt hatte und dann ihr Gesicht. Die Punkte formierten sich laufend neu. Sie versuchte wegzulaufen, aber ihre Füße gehorchten dem Gesicht und nicht ihr.
Ein Priester kniete vor dem Gesicht im schwarzen Nichts.
"Geheiligt werde Dein Name, Dein Reich komme ..."
Er betete das Gesicht an. Doch plötzlich wandte er sich direkt an sie, nun war er das Gesicht.
Sein Atem betäubte sie, sie lag gefesselt auf einer Krankenliege. Er beugte sich über sie und schrie: "Das ist unsere Seele!"
Es gelang ihr, den Kopf zu schütteln, doch er lachte nur darüber.
Dann hielt er ein riesiges Plakat vor ihre Augen. Seine Stimme bekam jetzt den Klang eines Professors aus ihrer Studienzeit. "Zu 70 Prozent besteht der Mensch aus salziger Lösung. Darin sind zehnmal mehr Bakterienzellen, als der Mensch ansonsten an Zellen hat."
Die Stimme schwoll an und wurde wieder zu der des Priesters.
"DIESE ZELLEN SIND NICHT IN DIR. DAS BIST DU.
Der Mensch ist ein autopoietisches System von Bakterien und Viren, die sich in der stofflichen Hülle, die wir Körper nennen, organisiert haben. Sie machen mehr als 90 Prozent des genetischen Materials in DIR aus.
SIE SIND DU!
SIE BESTIMMEN ÜBER DEINEN STOFFWECHSEL.
Sie bestimmen alle Abläufe, Denken und Fühlen, Du bist nur ein Effekt ihres Seins. Eine Simulation der Einheit des autopoietischen Systems."
Es gelang ihr, einen Arm loszureißen und nach dem Priester zu schlagen. Doch jedes mal formierte sich das Gesicht neu aus kleinen beweglichen Einzelteilen. Und sein Lachen schwoll an.
"SIE SIND DEINE SEELE!"
Sie schrie: "NEIN!"
Schweißgebadet wachte sie auf. Sie sah auf die Uhr, es war 3.00 Uhr nachts.
Sie nahm sich vor, abends nicht mehr so schwer zu essen und vor dem Schlafengehen keine wissenschaftstheoretischen Texte mehr zu lesen.
Statt dessen waren Comics besser.
FIN
Yuriko Yushimata
Für alle Zeit
Sie saß im Aufenthaltsraum der Redaktion, auf einem der Tische, ließ die Beine baumeln und rauchte. Die Aschenbecher quollen über. Jan lächelte ihr aus einem der alten Ledersessel zu. Sie lachte. Alle waren da. Der Raum wurde von Qualmschwaden durchzogen.
Das Magazin brauchte dringend mal wieder eine richtig gute Coverstory. Aber zur Zeit waren nirgends Außerirdische gesichtet worden, und sie hatten auch lange keine Hinweise mehr erhalten auf geheimnisvolle uralte magische Dinge.
Zumindest keine glaubwürdigen Geschichten.
Sie trank etwas Kaffee.
Das Magazin war auf solche Fragen spezialisiert. Seit kurzem gab es da zwar diese Hochglanzkonkurrenz, aber die dachten sich ihre Artikel offensichtlich aus. Außerdem galt dort in der Redaktion Rauchverbot.
Einmal war sie dort gewesen. Der jungsche Chefredakteur des Hochglanzmagazins saß in seinem Plastikbüro und sah sie sexuell taxierend an. Er trug, wie alle dort, teure und legere Kleidung, auf der nicht ein Staubkorn sichtbar war.
Alles war sauber und hygienisch rein.
Statt Kaffee gab es Wasserspender mit Plastikbechern und beigefügtem Neuroenhancement. Man bot ihr an, einen Artikel über das Sexualleben der Marsmenschen, als Aufmacher, zu schreiben. Als junge Frau fiele ihr da doch sicher einiges ein.
Die Erinnerung hinterließ einen schalen Geschmack in ihrem Mund. Sie spülte ihn mit Kaffee herunter.
Trotzdem, sie mussten sich was überlegen. Der Chef schlug einen Artikel über die siebte Dimension als Aufmacher vor. So wie er aussah, hatte er wohl wieder im Büro übernachtet.
Ihr fiel auch nichts Besseres ein.
Sie steckte sich noch eine Zigarette an, ließ sich vom Tisch gleiten und verließ durch die Seitentür den Raum. Am Fenster im Flur blieb sie kurz stehen und sah sich noch mal die Posteingänge der letzten Woche durch.
Ein Müllmann war überzeugt, Spinnen gesehen zu haben, die größer als Ratten waren und die auch Ratten gejagt hätten. Aber der Mann war Alkoholiker. Eine ältere Dame hielt ihren Friseur seit kurzem für einen Zombie – 'Seine Hände sind so kalt' –. Ein anonymer Hinweis berichtete über ungewöhnliche nächtliche Leuchterscheinungen in der Garage von T. Schulz im Liliengrund 3a.
Es war nichts Brauchbares dabei.
Sie dachte nach.
Mit bürgerlichem Namen hieß sie Franziska Lisu, ihre Freundinnen und Freunde nannten sie Ziska. Sie schrieb unter dem Autorenpseudonym Franciskus und dieser Name stand in der interessierten Szene für herausragende Berichte und Qualität. Sie dachte an ihre Mumienberichte. Aber ihr Ruhm drohte zu verblassen.
Nicht nur das Magazin, auch Sie brauchte einfach wieder mal eine richtig gute Story.
Sie legte die Zettel beiseite. Ein kleiner Zettel fiel zu Boden. Sie musste ihn vorher übersehen haben. Sie hob ihn auf und faltete ihn auseinander.
Sie zog an dem Rest ihrer Zigarette und blies den Rauch langsam aus und schaute ihm auf dem Weg durch die Luft hinterher. Im Hintergrund hörte sie durch die Tür des Aufenthaltsraumes den Rest der Redaktion weiter über die nächste Ausgabe diskutieren.
Die Schrift auf dem Zettel war kaum zu lesen.
– 'Vorsicht vor Plastikviren! SIE wollen die Weltherrschaft.
SIE dürfen dies nicht finden. Vernichten Sie bitte diesen Zettel!
Falls Sie mich treffen wollen, kommen Sie Samstag mit einem lila Halstuch um 12.30 in das Stehcafé in der Ludwigstr. 42.' –
Zumindest war diese Notiz ungewöhnlich, den Zettel musste jemand in den Hausbriefkasten geworfen haben.
Heute war Samstag und es war jetzt 11.00 Uhr, also noch genug Zeit. Nur, wo sollte sie ein lila Halstuch auftreiben?
Dann erinnerte sie sich an das Kirchentagshalstuch, das ihr ihre Schwester geschickt hatte.
Ihre Wohnung lag auf dem Weg zur Ludwigstraße. Sie konnte bequem zu Fuß gehen.
Als sie rauchend das Zeitungsgebäude verließ, traf sie der missbilligende Blick einer Frau mit Kinderwagen. Die Frau war nicht älter als sie selbst. Der Säugling würde sich jetzt vermutlich wegen ihr das Rauchen angewöhnen, das schien jedenfalls die Mutter zu denken. Irgendwer hatte erst gestern gefordert, das Rauchen in der Öffentlichkeit zu untersagen.
Überall auf den Plakatwänden eine Kampagne für attraktive, hygienische, 100 Prozent recycelbare Einmaldessous aus Nanokunststoffen. Frauen in sexuell konnotierten Posen und nur mit Dessous bekleidet blickten sie rehäugig von den Plakaten aus an.
Sie trug trotzdem immer noch Baumwolle.
Sie versuchte, den Blick der Frauen nachzuahmen und probierte den Blick an einem ihr entgegenkommenden älteren Mann aus. Der Mann war völlig perplex und rannte beinahe gegen einen Laternenpfahl.
Sie ging unschuldig weiter und unterdrückte ein Lachen.
Ihre Wohnung lag im Erdgeschoss, nach hinten raus. Die kleine Altbauwohnung war ziemlich vollgestopft mit Büchern, Zeitungsausschnitten und, in ihrem Arbeitszimmer, mit einem riesigen Schreibtisch. Auch hier lagen stapelweise Unterlagen zwischen den Aschenbechern.
An E-Books konnte sie sich einfach nicht gewöhnen, sie berührte gerne das Papier der Seiten.
In der Küche streckte sich ihre Katze Tris und maunzte. Fressen, Tris dachte natürlich nur ans Fressen. Die Katze strich ihr so lange um die Beine, bis sie ihr eine Portion Katzenfutter aus dem Kühlschrank holte. Sie selbst nahm sich einen Joghurt.
Ihr fiel einfach nicht ein, wo dieses Halstuch hingekommen war. Sie schenkte sich selbst etwas kalten Espresso mit Milch ein und schlürfte die hellbraune Flüssigkeit.
Das Schuhputzzeug, jetzt fiel es ihr wieder ein. Das Halstuch war beim Schuhputzzeug. Dort fand sie es auch, nur roch es auch so und hatte große schwarze Flecken. Egal, ein Kirchentagshalstuch war sowieso peinlich, mit oder ohne Flecken. Sie rauchte noch in Ruhe eine Zigarette und trank den Espresso aus.
Die Katze lag wieder in der Fensterbank und träumte von Fisch und Mäusen.
Sie schaffte es gerade noch bis 12.30 in die Ludwigstraße. Sie trug eine etwas ausgeblichene schwarze Jeans, einen bequemen schwarzen Pullover, schwarze leichte Laufschuhe und ein lila Kirchentagshalstuch mit Flecken schwarzer Schuhcreme, als sie das Stehcafé betrat. Nichts davon bestand aus den neuen hautfreundlichen Nanokunststoffen.
Sie war hoffnungslos outdated.
In der Mittagszeit war es im Café recht voll. Sie stellte sich unauffällig an einen der Tische. Der Mann neben ihr sah sie etwas irritiert an, wohl weil sie einen intensiven Geruch nach Schuhcreme ausströmte, vielleicht auch wegen ihrer Bekleidung.
Er trug einen Nanorak, der mit der Stimmungslage die Farbe wechselte. Als sie an den Tisch kam, war die Farbe von einem entspannten Blau erst zu lila und dann zu einem schreienden Gelb gewechselt. Sie ignorierte das und holte sich einen Kaffee.
Niemand sonst schien von ihr Notiz zu nehmen. Dabei war das lila Halstuch wirklich nicht zu übersehen.
Als sie nach draußen ging, um eine Zigarette zu rauchen, folgte ihr unauffällig auffällig ein dünner Mann in einem grauen Kittel. Er sah sie kurz an und ließ dann einen Zettel fallen. Dann verschwand er um die nächste Straßenecke.
Sie hob den Zettel auf.
'Seitengasse bei den Mülltonnen in der Uraniastraße gegenüber dem Kino.'
Das war nicht weit weg. Da das Stehcafé auch draußen überall Rauchverbotsschilder platziert hatte, entschloss sie sich, dem Mann sofort zu folgen.
Sie kannte solche Verhaltensweisen aus vielen ihrer Recherchen. Meist ergab sich daraus nichts, Verrückte halt. Nur selten gab es wirklich Hinweise auf unerklärliche Vorgänge oder Außerirdische. Sie trank ihren Kaffee aus und machte sich auf den Weg.
Routinemäßig achtete sie darauf, dass ihr niemand folgte.
In der Uraniastraße war gegenüber dem Kino zwischen zwei Häusern tatsächlich ein Durchgang. Weiter hinten standen Müllcontainer. Sie bog in diese dunkle Gasse ein, als würde sie dies immer tun, und schritt an den Müllcontainern vorbei.
Hinter den Containern stand der dünne Mann in einer Nische der Hauswand, nervös versuchte er sich eine Zigarette zu drehen. Das machte ihn ihr spontan sympathisch. Sie sah sich um, niemand beachtete sie. Also stellte sie sich zu ihm und lehnte sich an die Hauswand. Sie holte ihre Zigaretten aus der Hosentasche und bot ihm eine an. Er lächelte verlegen und schüttelte den Kopf.
"Ich rauche gar nicht, dann würde ich meine Arbeit verlieren, aber das Drehen kann ich nicht aufgeben.
Sie sind vom Magazin?"
"Ich bin Franciskus, das ist ein Pseudonym."
Er nickte wieder und roch an der Zigarette.
"Wenn SIE bemerken, dass ich was weiß, werden SIE mich beseitigen, wie die anderen."
"Wer?"
"SIE."
Sie zündete sich eine Zigarette an und sah, wie seine Augen jeder ihrer Bewegungen folgten.
"Erzählen Sie."
"Ich arbeite im Laviahochhaus für den Laviakonzern als Aushilfshausmeister. Ich muss ab und an auch in den Keller. Und da habe ich es bemerkt."
"Was?"
"Ich kann es Ihnen nicht sagen, Sie würden es nicht glauben, aber ich kann es Ihnen zeigen. Die Putzfrau ist verschwunden und ich habe gesagt, dass eine Cousine von mir sicher gerne kurzfristig aushelfen würde.
So kommen Sie in die Firma.
Alles Weitere dann.
Sie müssen morgen um 6.00 Uhr am Laviahochhaus sein. Ich werde auch dort sein und eine Sachbearbeiterin der Personalabteilung. Sie kriegen einen Zeitvertrag für eine Woche, für die Stunde zahlt Lavia 7 Euro. Sie putzen jeden Tag morgens von 4.00 bis 7.00 Uhr. Sie sind für die Reinigung des Kellers zuständig. Ich zeige Ihnen alles."
"Ich suche keinen Job."
"Nur so kann ich Sie ins Gebäude bringen und in den Keller."
"Worum geht es?"
Er schüttelte den Kopf.
"Sie würden mir nicht glauben."
Er hatte Angst.
"Vielleicht sollte ich einfach kündigen oder einfach wegbleiben. Das wäre wohl das Beste."
Ziska sah, dass der Mann am ganzen Körper zitterte.
"Ich komme morgen. Aber ich muss noch wissen, wie Sie heißen, wenn ich als Ihre Cousine auftreten soll. Und wie alt sind Sie, sind Sie verheiratet?"
"Ich heiße Norbert Schramm, 48, ledig, keine Kinder. Ich wohne allein in der Nordstadt, Berger Gasse 2.
Das einzige Hobby, von dem auch meine Kollegen wissen, ist Angeln. Aber" – ein Schauer durchfuhr seinen ganzen Körper – "ich traue mich nicht mehr alleine an den Kanal."
Ziska fasste ihn beruhigend am Arm.
"Ich werde morgen pünktlich da sein. Sie können sich auf mich verlassen."
Der Mann drehte sich noch einmal kurz um.
"Im Laviakonzern ist rauchen strikt untersagt. Falls Sie gefragt werden, geben Sie an, dass Sie Nichtraucherin sind und möglichst auch, dass Sie vegan leben."
Dann verschwand er eilig. Sie war sich sicher, dass hier etwas Interessantes im Gange war. Der Mann hatte nicht geschauspielert, und er war absolut durchschnittlich, aber voller Angst.
Dafür musste es einen Grund geben.
Auf dem Rückweg stolperte sie beinahe über einige Werberinnen der 'Kampagne für ein erfülltes Leben'.
Die junge Frau in ihrem Alter, die sie freundlich lächelnd aufhielt, wollte ihr Informationen überreichen, die ihr helfen würden, schädliche Verhaltensweisen, wie den Konsum von Kaffee oder Zucker, zu beenden. Als sie sich aber erst mal eine Zigarette ansteckte, ließ die Frau sie schnell wieder in Ruhe.
Sie sah, als sie weiterging, wie die junge Frau mit einer anderen Frau tuschelte und ihr hinterhersah. Bei den alten Leuten konnten sie es ja verstehen, aber bei einer wie ihr. Sie sah doch gar nicht so aus.
Sie kannte diese Reaktionen schon. Irgendwann würden sie das Rauchen ganz verbieten.
Das freundliche Lächeln wich aber nicht von den Lippen der beiden jungen Frauen. Hinten auf ihren Jacken trugen die Frauen das Logo des Laviakonzerns, offensichtlich wurde diese Aktion vom Konzern unterstützt.
Sie erinnerte sich an die TV-Berichterstattung über die plastischen Injektionen, die der Laviakonzern anbot – 'Damit Sie immer ein jugendliches Lächeln behalten' – Plastiklächeln. Sie schüttelte sich.
Sie hasste das frühe Aufstehen, aber es musste sein. Ihre Katze hielt sie offensichtlich für verrückt und kuschelte sich wieder ins Bett. Der Redaktion hatte sie nur mitgeteilt, dass sie bei einer Recherche war.
Sie war pünktlich am Laviahochhaus. Mit der Einstellung lief alles glatt, obwohl die Sachbearbeiterin trotz Dauerlächelns – Plastiklächeln – Ziska musterte, als wäre sie eine Außerirdische.
Ziska hatte darauf geachtet, dass ihr kein Rauchgeruch anhaftete. Von Zigaretten war auch wirklich nichts mehr zu riechen. Sie hatte erst eine Knoblauchzehe gekaut und dann eine halbe Dose Pfefferminzdrops gelutscht. Ihre Kleidung hatte sie mit Imprägnierspray behandelt. Das roch zwar sehr ungesund, aber nicht nach Rauch.
Außerdem hatte sie versucht, das Lächeln zu erwidern, aber irgendwie misslang ihr das. Sie nahm sich vor, das Dauerlächeln zu Hause im Spiegel zu üben. Irgendwie fielen bei ihr die Mundwinkel immer wieder herab.
Dafür hatte sie sich vorher eine Hetztirade gegen Raucherinnen und Fleischesser ausgedacht, für die sie sich ein freundlich zustimmendes Nicken der Sachbearbeiterin einfing.
Sie bekam die Stelle.
Für eine Aushilfsputzfrau hatte sie sich wohl als hinreichend erwiesen.
Aber sie kam nicht dazu, mit dem Aushilfshausmeister alleine zu reden. Immer war irgendjemand anwesend. Erst die Sachbearbeiterin der Personalabteilung, dann eine Vorarbeiterin aus der Putzkolonne.
Die Vorarbeiterin sah sie die meiste Zeit, trotz freundlichen Dauerlächelns, abfällig an. Ziska bewunderte diese Fähigkeit und überlegte, wie sie das hinbekam. Sie machte das mit den Augen. Die Vorarbeiterin erklärte ihr jedes Detail, als hätte sie eine Idiotin vor sich. Ziska nickte immer nur freundlich.
Mindestens zehnmal wurde sie von ihr außerdem darauf hingewiesen, dass der Laviakonzern grundsätzlich keine Raucherinnen und Raucher beschäftigen würde.
Offensichtlich war sie misstrauisch.
Am nächsten Tag fing sie um 4.00 Uhr an. Mit ihrer Personalkarte kam sie ohne Probleme am Pförtner vorbei. Als sie um 7.00 Uhr fertig war, hätte sie auf der Stelle einschlafen können. Außerdem brauchte sie unbedingt eine Zigarette. Dieser Konzern ging ihr tierisch auf den Wecker. Sie hatte die ganze Zeit auf ein Zeichen von Norbert Schramm gewartet, ihn aber nirgends gesehen. Sie wusste nicht, was sie denken sollte.
Auf dem Weg nach Hause zündete sie sich, außer Sichtweite, sobald sie sich sicher fühlte, erst mal eine Zigarette an. Zu Hause rauchte sie noch ein paar Zigaretten und legte sich dann noch einmal schlafen.
"Wollen Sie Ihre Katze nicht plastinieren lassen? Wir bieten jetzt Ratenzahlungen mit 0 % Zinsen."
Zuerst begriff sie gar nicht, was der Mann wollte. Er hatte sie aus dem Schlaf geklingelt, Telefonmarketing. Es war 12.45 Uhr.
"Noch sieht das Fell Ihrer Katze schön aus, aber sie ist doch schon alt. Genau die richtige Zeit, sie plastinieren zu lassen. Damit Sie sie für alle Zeit in bester Erinnerung behalten. Oder wollen Sie zusehen, wie sich das Tier langsam zu Tode quält?"
"Nein, ich will meine Katze nicht plastinieren."
Sie unterbrach das Gespräch ruppig. Tris strich ihr um die Beine. Sie nahm die Katze auf den Arm und kraulte sie. Leicht murrend ließ Tris sich das gefallen.
Sie hatte darüber gelesen. Die Plastination von Haustieren war inzwischen üblich. Die Menschen ließen ihre Lieblinge plastinieren, bevor sie verfielen, und stellten sie sich zu Hause auf die Anrichte.
Der Laviakonzern verdiente damit Millionen. Die Tiere wurden bei lebendigem Leib zu einem Zeitpunkt, an dem sie noch schön aussahen, in Plastik verwandelt. Ihr kam das grausam vor – aber es war sauber und hygienisch und angeblich schmerzfrei.
Menschen wie sie wurden inzwischen als Natürlichkeitsfetischistinnen bezeichnet.
Der Morgen darauf verlief wie der Tag zuvor. Sie fragte beim Herausgehen den Pförtner nach ihrem 'Cousin'. Er gab ihr bereitwillig Auskunft.
"Der Norbert ist seit gestern verschollen. Wenn Sie ihn erreichen, sagen Sie ihm, dass er unbedingt eine Krankschreibung nachreichen muss. Sonst gibt das Ärger. Und er soll sich in der Personalabteilung melden. Es gibt schon die Gerüchte, dass er heimlich raucht, er sollte besser aufpassen."
Ziska hatte ein ungutes Gefühl.
Nachdem sie sicher war, dass sie vom Konzernhochhaus aus nicht mehr zu sehen war, rauchte sie erst einmal eine Zigarette, dann fuhr sie zur Berger Gasse 2.
Die Wohnung war verschlossen, niemand meldete sich. Von den Nachbarn hörte sie nichts. Aber das Schloss war nicht sehr sicher, selbst für sie war es einfach, die Tür zu öffnen. Ein Schauer durchfuhr sie, als sie die Wohnung betrat.
Doch alles war ruhig. In der Wohnung roch es nach Kohl. Norbert Schramm war nicht da, auch nicht seine Leiche, zum Glück. Sie musste sich eingestehen, dass sie befürchtet hatte, ihn tot aufzufinden.
Sie war erleichtert.
Sie sah sich um. Überall standen leere unbenutzte Aschenbecher, Gläser mit Zigaretten und Feuerzeuge. Aber niemand rauchte in dieser Wohnung, nirgends roch es nach Rauch.
Vielleicht waren hier irgendwo Hinweise.
Sie fand einige Zeitungsartikel über Lavia und eine plastinierte Maus.
Lavia hatte inzwischen den Markt für Plastinierungen von Haustieren auf Menschen ausgeweitet. Natürlich keine ganzen Menschen.
Brustplastinierung galt als die sicherste Methode zur Vermeidung von Brustkrebs. Und die Gesichtsteilplastinierung sicherte ein jugendliches Lächeln für alle Zeit – Plastiklächeln. Ein hygienisches Lächeln. Plastinate waren antibakteriell. Das war also der Grund für ihre Schwierigkeiten bei der Nachahmung des typischen Dauerlächelns gewesen. Festangestellte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Laviakonzerns bekamen die Plastination vergünstigt.
Und dann war da noch ein Artikel über Phthalate, Weichmacher im Plastik.
Aber das Magazin, für das sie arbeitete, war kein Ökomagazin, das gab keinen Sinn. Schließlich hatte Norbert Schramm gezielt das Magazin informiert.
Wen hatte er mit SIE gemeint?
Sie rauchte noch eine Zigarette.
Dann sah sie die Tageszeitungen im Briefschlitz. Der Aushilfshausmeister war seit zwei Tagen nicht mehr hier gewesen.
Das sah nicht gut aus. Morgen würde sie den Keller im Laviahochhaus genauer untersuchen.
Zu Hause fand sie eine Arztreklame im Briefkasten. Eine Einladung zur turnusmäßigen Vorsorgeuntersuchung.
Sie wollte sie gerade zerreißen, als ihr der Prospekt auffiel, der zwischen den Seiten lag.
Für die Frau Anfang dreißig, Plastinieren bevor es zu spät ist – 'Lassen Sie Ihre Brüste, Ihr Lächeln und Ihr Gesäß plastinieren, solange sie noch in Form sind. Eine Plastinierung wird mit zunehmenden Alter immer teurer. Fettabsaugen, Straffung der Haut und operative Glättungen verursachen zusätzliche Kosten. Diese können Sie vermeiden, wenn Sie sich frühzeitig für eine Plastinierung entscheiden. Das Ende der Problemzonen, eine Verlockung für jede Frau.' –
Sie verzog die Nase, schmiss alles in den Müll und setzte sich an den Schreibtisch. Sie konnte nicht vermeiden, in den Spiegel zu schauen, noch saß alles an seinem Platz.
Sie zündete sich eine Zigarette an.
Ihr Blick fiel auf einen Absatz auf der Rückseite eines der Prospektschnipsel im Abfall – 'Rauchen schadet dem Plastinat. Raucherinnen verlieren alle Garantieansprüche' –. Sie musste lauthals lachen.
Am nächsten Morgen im Konzern grüßte sie den Pförtner und erzählte kurz, dass sie Norbert nicht erreicht hätte, dann ging sie in den Keller und holte das Putzzeug, sie begann den Boden zu wischen, das gab ihr die Möglichkeit, sich überall genau umzusehen. Doch nirgends war etwas Ungewöhnliches zu finden.
Sie wusste nicht mehr, wo sie noch suchen sollte, als ihr die Menschen im Fahrstuhl auffielen.
Immer wieder blieben Menschen, teils mit zugedeckten Rolltischen, teils im Gespräch, im Fahrstuhl, obwohl dies die unterste Etage war. Die Mitarbeiter lächelten ihr Plastiklächeln, selbst wenn sie alleine im Fahrstuhl fuhren, obwohl niemand dies dort sehen konnte. Das Lächeln schien wie angewachsen. Erst hatte sie gedacht, dass dies Leute waren, die nach oben wollten. Doch dann sah sie, dass sich die Fahrstuhltür schloss und die Anzeige über der Tür gar nichts anzeigte, als würde der Fahrstuhl stehen bleiben. Aber immer, wenn die Tür wieder geöffnet wurde, war der Fahrstuhl leer.
Gab es ein Stockwerk unter dem Keller?
Morgen würde sie gründlich den Fahrstuhl putzen.
Sie putzte weiter und stieß in der Ecke mit dem Putzzeug auf eine alte ausgebeulte Ledertasche, Norberts Tasche. Sie war verschlossen und ließ sich nicht öffnen.
Es war sowieso gleich 7.00 Uhr. Sie nahm sie mit nach Hause.
Zuerst zündete sie sich eine Zigarette an und rauchte sie in Ruhe bei einer Tasse Kaffee. Dann gab sie der Katze Futter. Erst dann öffnete sie die Tasche mit einem Teppichmesser. Ihr fielen zwei Plastikgegenstände entgegen.
Und ihr wurde beinahe schlecht. Denn langsam begriff sie.
Das eine war eine plastinierte Maus, aber das andere war der plastinierte Kopf eines Menschen. Das Gesicht hatte sie sofort erkannt. Es war das Gesicht der verschwundenen Putzfrau. Ein Foto mit ihr hatte sie im Aufenthaltsraum gesehen, das Bild einer Betriebsfeier. Irgendwer hatte die Putzfrau vollständig plastiniert und dann den Kopf vom Rumpf abgetrennt.
Es gab keinen Zweifel, dass dies der wirkliche Kopf der Putzfrau war, am Halsschnitt war jede Ader erkennbar, jedes Detail.
Sie stopfte den Kopf in einen Stoffbeutel. Sie hatte keine Lust mehr, ihn anzufassen.
Sie brachte den Kopf in die Redaktion und informierte einen kleinen Kreis über ihre Recherche. Der Chef versprach, die Titelseite freizuhalten.
Morgen würde sie den Fahrstuhl untersuchen.
Am Abend las sie sich noch den Artikel über Phthalate, Weichmacher im Plastik, durch, den sie in der Wohnung des Aushilfshausmeisters gefunden hatte. Phthalate, die vom Menschen aufgenommen wurden, wirkten ähnlich wie Viren. Sie wurden in das Genom eingebaut und führten zu Störungen des Zellwachstums.
Sie begriff nicht den Zusammenhang.
Am nächsten Morgen nahm sie Putzmittel und Wischlappen und begann die Fahrstühle zu reinigen. Zum Schluss befasste sie sich mit dem Fahrstuhl, der ihren Verdacht geweckt hatte. Sie putzte ihn schon das zweite Mal gründlich, als sie den Mechanismus entdeckte. Die Platte unterhalb des Notfallknopfes ließ sich beiseite schieben, darunter war ein weiterer Knopf verborgen.
Sie nutzte einen günstigen Moment, um ihn auszuprobieren. Tatsächlich setzte sich der Fahrstuhl nach unten in Bewegung.
Sie hatte Glück, niemand war in der Nähe, als sie den Fahrstuhl verließ. Das Licht im Gang war leicht abgedunkelt, sie ließ es so. Im Gang in der Nähe des Fahrstuhls standen zwei abgedeckte Liegen. Sie sah unter die Tücher und fand, was sie befürchtet hatte.
Auf der einen Liege, lag der Resttorso der Putzfrau, plastiniert, und auf der anderen lag der Aushilfshausmeister, auch plastiniert.
Plötzlich wurde sie von hinten mit festem Griff gepackt. Zwei kräftige Männer in blauen Kitteln hielten sie fest und lächelten sie an, Plastiklächeln, obwohl sie ihnen mit aller Gewalt gegen das Schienenbein trat. Sie lächelten nur weiter und verstärkten den Griff, bis ihr keine Möglichkeit mehr blieb, als sich ruhiger zu verhalten. Das Licht schaltete jetzt auf volle Helligkeit um.
Wo war sie hier gelandet?
Was würde mit ihr passieren?
Sie dachte an die plastinierten Körper auf den Liegen.
Ein Mann in weißem Kittel kam auf sie zu.
Sie schrie ihn an: "Lassen Sie mich los!"
"Wir haben Sie beobachtet, seit Tagen. Sie haben noch nicht die Hälfte begriffen, nicht?"
Der Mann sah sie mit seinem Plastiklächeln und doch gleichzeitig abfällig an.
"Vor einem Jahrzehnt haben wir entdeckt, dass Phthalate nicht nur das Genom schädigen können, sondern dass es auch möglich ist, mit ihnen das Genom umzuprogrammieren. Wir haben Phthalate entwickelt, mit denen wir einen Plastinierungsprozess im Körper in Gang setzen können, Plastikviren. Wir haben diese Technik immer weiter verfeinert. Und wir haben die Phthalate so konstruiert, dass wir diesen Prozess von außen steuern können. Wir setzen den Plastinierungsprozess mit bestimmten Sendeimpulsen festgelegter Frequenz in Gang und beenden ihn durch andere. Ein kleiner Sendeimpuls, und die Plastinierung beginnt.
Zuerst haben wir das nur zur Plastinierung von Haustieren verwandt.
Dann kamen die plastischen Injektionen auf den Markt. Wir gaben den Menschen die Chance, ihr jugendliches Lächeln für alle Zeit aufzubewahren. Wir ermöglichten Frauen weltweit ein freieres Leben ohne Angst vor dem Alter, der Alterung der Brüste und anderer Körperpartien."
Er fasste ihr unter das Kinn.
"Hübsch.
Doch inzwischen haben wir erfasst, dass uns eine andere, größere, Aufgabe zugewiesen wurde.
Unsere Phthalate sind inzwischen im Körper von fast einer Milliarde Menschen. 30 Millionen Menschen allein in diesem Land haben inzwischen unsere Phthalate in einer Größenordnung in ihrem Körper, dass ein kleiner Sendeimpuls reicht und die Totalplastinierung beginnt und ist nach zwei Stunden abgeschlossen. Hier auf diesem Hochhaus steht der Sender.
In zehn Jahren wird praktisch jeder Mensch auf der Welt ausreichend Phthalate aufgenommen haben.
Dies ist nur der Anfang."
Der Mann sah ihr lächelnd in die Augen, sein Plastiklächeln bekam etwas fanatisch Fratzenhaftes.
"Sie fragen sich, wer wir sind?
Wir sind die Zukunft.
Wir sind die Neue Kirche."
Der Mann lachte hell, dann fuhr er fort.
"Die Zukunft wird reiner und sicherer sein als die Vergangenheit war. Ungesunde Verhaltenweisen, wie Rauchen, werden nicht mehr toleriert werden. Die Menschen werden auf Fleischkonsum aus ethischer Einsicht verzichten.
Es wird eine gewaltfreie Welt sein, die durch Vernunft und Freundlichkeit regiert wird. Es wird nach Vernunftgründen, nach Maßgabe des Wohls der Gemeinschaft entschieden werden, wann die Zeit der Plastination für einen Menschen gekommen ist.
Keine egoistischen Individualinteressen werden mehr die Gesellschaft schädigen. Es wird eine glückliche Welt sein.
Eine glückliche Welt, in der es keine Sterbenden und Schwerkranken mehr geben wird.
Und die Erinnerung an alle Menschen, die je gelebt haben, wird aufbewahrt werden, für alle Zeit. Für alle Zeit werden die Menschen ihren Nachfahren als Plastinate in Erinnerung bleiben."
Die beiden Männer in blauen Kitteln, die sie festhielten, lächelten sie nun genauso plastikfratzenhaft an wie der Mann im weißen Kittel. Eine junge Frau kam den Gang herunter, Plastiklächeln.
"Ihre Zeit ist jetzt gekommen."
Sie brachten sie in einen kleinen Behandlungsraum und schnallten sie auf einer Liege fest. Ihre Gegenwehr half nichts.
Alle lächelten sie weiter plastikfreundlich an. Noch nie hatte Ziska sich so hilflos gefühlt.
Als die junge plastiklächelnde Frau mit der Spritze kam, versuchte sie noch einmal, sich zu wehren. Es war zwecklos. Die Frau strich ihr mit der Hand über die Stirn.
"Beruhigen Sie sich. Alles ist gut. Dieses Plastinat wirkt auch ohne Sendeimpuls. Der Prozess ist absolut schmerzfrei, da ist nichts, vor dem Sie sich fürchten müssten.
Kommen Sie, wollen Sie so den Rest ihres Lebens aussehen? Versuchen sie, ein wenig zu lächeln. Überlegen Sie sich, in welcher Körperhaltung Sie Ihren Nachfahren entgegentreten wollen.
Sie haben zwei Stunden Zeit, bis die Plastination abgeschlossen ist."
Sie wurde in einen kleinen Raum gefahren. Die beiden Männer schnallten sie los, nahmen die Liege mit und ließen sie allein zurück. Ein Stahltür fiel ins Schloss. Kein Licht drang in den Raum.
Zwei Stunden noch und nicht einmal eine Zigarette. Die Zigaretten hatten sie ihr abgenommen, Antirauchfanatiker. Aber ihre Notration Tabak und Blättchen im Jackenfutter und die Streichhölzer hatten sie übersehen. Dann sollten ihre Nachfahren sie doch hockend, rauchend, bestaunen. Ihr war das egal.
Sie dachte traurig an ihre Katze.
Der Raum war bald mit Rauch gefüllt.
Als die Redaktion um 7.30 noch nichts von Ziska gehört hatte, informierten sie, wie mit Ziska abgesprochen, die Polizei.
Innerhalb kurzer Zeit stürmte eine Hundertschaft der Bereitschaftspolizei unter Leitung der Kriminalpolizei das Laviahochhaus. Sie durchsuchten Stockwerk für Stockwerk. Doch sie fanden nichts. Die Anwälte des Laviakonzerns übten bereits Druck aus, die Aktion abzubrechen. Die leitenden Beamten standen im Erdgeschoss und wussten nicht weiter, als der Feueralarm ausbrach.
Der Ausgangspunkt des Alarms konnte nicht lokalisiert werden. Die anrückende Feuerwehr bat die Beamten um Unterstützung bei der Räumung und Sicherung des Gebäudes.
Der Brandherd musste irgendwo im Keller sein.
Ein Fachmann für Alarmanlagen stellte fest, dass ein Brandmelder im versiegelten, nicht ausgebauten Kellergeschoss unter den Kellern, die in Benutzung waren, ausgelöst worden war. Die Beamten brachen im untersten Kellergeschoss die Versiegelung auf und stießen auf das geheime Kellergeschoss darunter.
Der Einsatzleiter reagierte schnell und setzte alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich in diesem Kellergeschoss aufhielten, fest.
Die Feuerwehr suchte weiter nach der Ursache für den Feueralarm. In einem kleinen Raum, hinter einer verschlossenen Stahltür, fanden sie, nachdem sie die Tür aufgebrochen hatten, eine Frau in abgewetzten Jeans, die rauchte.
Sie saß direkt unter einem Feuermelder.
Ziska begriff nicht, an sich waren schon mehr als zwei Stunden verstrichen, aber immer noch spürte sie alle ihre Glieder. Als die Feuerwehr den Raum aufbrach, verständigte sie sich schnell mit der Polizei. Die Sendeanlagen auf dem Dach wurden gesichert. Alle führenden Mitglieder der Neuen Kirche wurden festgenommen.
Die meisten hatten sich aber noch kurz vor ihrer Verhaftung Plastinat gespritzt. Sie verwandelten sich innerhalb von zwei Stunden in Plastikfiguren und sangen bis dahin in den Gefangenentransportern, bis ihre Lippen erstarrten, Plastiklächeln.
Ziska wurde von Kopf bis Fuß gescannt um herauszufinden, wieso sie nicht plastiniert war. Die Wissenschaftler hofften, dadurch ein Mittel zu finden, um die Hundertausende von Menschen zu schützen, die bereits den Plastikvirus in ihr Genom eingebaut hatten.
Allein darauf zu vertrauen, dass niemand ein Signal senden würde, schien zu unsicher.
Doch die Wissenschaftler standen vor einem Rätsel. Ziska sollte zwei Wochen unter Beobachtung im Krankenhaus verbringen.
Sie schrieb ihren Artikel im Zimmer im Krankenhaus, doch das ging nicht ohne Zigaretten. Als die Krankenschwester ihr die Zigaretten wegnahm, da hier Rauchverbot herrschen würde, rauchte sie wieder Selbstgedrehte.
Der Streit, der daraufhin zwischen ihr und einigen Mitgliedern des Krankenhauspersonals ausbrach, führte zu einem größerem Auflauf. Auch ihr Tabak wurde beschlagnahmt.
Am nächsten Tag erhielt sie ihn aber mit freundlichen Grüßen zurück. Das Rätsel war gelöst. Die Rückstände des Tabaks unterbanden im Blut die Funktion der Plastikviren. Ziska hatte auf Grund des Rauchens überlebt. Rauchen bot einen effektiven Schutz gegen Plastikviren.
Sie dachte einen Moment lang traurig an den Aushilfshausmeister.
In den nächsten zwei Wochen wies die Regierung schweren Herzens alle Unternehmen, Schulen und Universitäten des Landes an, alle Beschäftigten, Schülerinnen, Schüler und Studierenden zwei Wochen lang täglich vier Stunden am Tag zum Rauchen zu verpflichten. Die Wissenschaftler hatten ausgerechnet, das dieser Zeitraum ausreichen würde, um die Plastikviren abzutöten.
Die WHO übernahm diese Regeln weltweit. In einigen Ländern kam es zu Engpässen. Depots der Tabakkonzerne wurden gestürmt. Hilfsorganisationen flogen Tabakprodukte in Notstandsgebiete.
Die Antiraucherverbände liefen Sturm, wurden aber ignoriert. Einige Gruppen vermuteten eine Verschwörung der Tabakindustrie.
Ziska bezweifelte stark, dass Jugendliche durch die Zwangsverpflichtung, zwei Wochen lang jeden Tag vier Stunden zu rauchen, zum Rauchen animiert würden.
Ihr erschien eher das Gegenteil wahrscheinlich.
Außerdem wurden die Rauchverbote nach zwei Wochen wieder in Kraft gesetzt.
Aber Franciskus hatte wieder eine Titelstory publiziert.
FIN
Yuriko Yushimata
Der Virus der Konterrevolution
Viele lebten im Elend, während Wenige immer mehr verdienten. Dann begannen sie, sich zu wehren, sich zu organisieren und sie überwanden die Wenigen.
Die Revolution fand statt und die Menschen tanzten auf den Straßen. Sie umarmten einander und träumten von einer besseren Welt.
Janus Mareik sah aus dem Fenster. Er hasste dieses Rumgehopse der Menschen. Am Tisch hinter ihm saßen die wichtigsten Organisatoren der Ereignisse. Er drehte sich zu ihnen um.
"Noch haben wir nicht gesiegt, der Virus der Konterrevolution ist noch aktiv. Diese Tagträumereien sind eine Gefahr. Wir müssen handeln, jetzt, oder die Geschichte wird uns strafen. Wir müssen jetzt den Virus ausrotten, jetzt wo er geschwächt ist, oder er wird sich wieder ausbreiten. Null Toleranz für die Anhänger des gestürzten Regimes.
Was ich fordere, ist nur eine gesunde Immunreaktion."
Einige am Tisch widersprachen ihm, in seinem Kopf legte er eine Liste mit ihren Namen an. Doch er konnte Duran überzeugen. Und draußen schrien sie Duran, Duran, er war es, dem sie folgen würden.
Janus Mareik bekam freie Hand.
Die Säuberungen dauerten zwei Monate, eine Maßnahme der gesunden Abstoßung der konterrevolutionären Bestandteile der Gesellschaft.
Sie verhafteten vorsichtshalber die ganzen Familien: 22 000 wurden hingerichtet, 240 000 deportiert in die Lager.
Dann wurde die Maßnahme auf Druck von Janicz beendet. Janus Mareik setzte den Namen Janicz oben auf seine Liste.
Bald schon gab es die ersten Widerstände unter den Beschäftigten gegen die Umstrukturierung von Betrieben. Janus überzeugte Duran, Janicz mit den Verhandlungen zu betrauen.
Doch die Widerstände wuchsen.
Janicz' Stern begann zu sinken.
Janus hatte es gewusst, der Virus der Konterrevolution lebte noch und breitete sich wieder aus, die Revolution war in Gefahr.
Wieder gelang es ihm, Duran zu überzeugen.
Janus Mareik baute nun den Revolutionären Sicherheitsdienst auf, den RSD. Wo immer sich Widerstand zeigte, war der RSD zur Stelle, um den Virus der Konterrevolution zu bekämpfen. Der RSD war das Immunsystem der Revolution.
Bald waren die Lager überfüllt und der RSD wuchs auf eine Stärke von 80 000 Mitgliedern.
Der RSD begann mit den Massenhinrichtungen, die Ausbreitung der Konterrevolution musste gestoppt werden.
Janicz protestierte.
Janus nahm das zur Kenntnis.
Am Abend überreichte er Duran und einer ausgewählten Gruppe der Organisatoren die Dossiers über Janicz und die anderen, die auf der Liste standen.
Der konterrevolutionäre Virus hatte sich in den inneren Kreis gefressen. Sie mussten handeln, sofort.
Noch in der Nacht wurden alle, die auf der Liste standen, abgeholt und vor die geheimen Tribunale gestellt. Dort wurden weitere Namen notiert. 12 000 Aktive aus dem inneren Kreis hatte die konterrevolutionäre Seuche bereits erfasst.
Der RSD tat das Notwendige. Keiner überlebte die nächsten zwei Monate. Der RSD wuchs auf 120 000 Mitglieder.
Niemand widersprach nun mehr dem RSD und Janus.
Duran sah ihn manchmal auf den Sitzungen seltsam an.
Sieben Monate später lud Duran ihn zu einem überraschenden Treffen etwas außerhalb der Hauptstadt. Als die Tür ins Schloss fiel, richteten sich die Waffen auf Janus. Duran erhob sich. "Der Virus der Konterrevolution hat unseren innersten Zirkel erreicht."
Er wandte sich mit enttäuschtem Blick an Janus. "Von Ihnen hätte ich das am wenigsten erwartet. Aber die Beweise sind unwiderlegbar."
Janus Mareik wurde sofort hingerichtet. Dann wurde der RSD von allen gereinigt, die vom Virus der Konterrevolution befallen waren. Nur 20 000 Mitglieder blieben verschont.
Kurz darauf kam Duran durch ein Bombenattentat ums Leben.
Es kam zum offenen Kampf zwischen dem revolutionären Militär und den Resten des RSD. Beide beschuldigten einander, vom Virus der Konterrevolution befallen zu sein.
Die Wenigen, die ins Exil gegangen waren, nutzten die Wirren zum Einmarsch mit Hilfe des Auslands.
Sie trafen kaum auf Widerstand.
Die Konterrevolution hatte gewonnen. Die Wenigen verdienten jetzt mehr als je zuvor und die Vielen lebten noch elender als zuvor und nun auch ohne Hoffnung.
FIN
Yuriko Yushimata
Lass Deinen Virus raus!
Lass Deinen Virus raus!
Tina wartete auf die Bahn und dachte an die letzten Wochen.
Was war passiert?
Was war mit ihr passiert?
Es war nicht einmal einen Monat her, dass Sabine sie angesprochen hatte. Sabine, die immer lächelnde, die immer Verständnis hatte. Sie hatte es Tina direkt ins Gesicht gesagt.
"Ich sehe doch, dass es Dir nicht gut geht."
Tina hatte geschwiegen und sich dann umarmen lassen. Sabine hielt sie einen Augenblick und hakte sich dann bei Tina ein.
"Komm doch mal zu unseren Treffen. Du musst wirklich nichts befürchten, keiner frisst Dich da." – Sabine musterte sie besorgt und sprach dann weiter. – "Aber ich glaube, es würde Dir gut tun."
Tina hatte sich los gemacht und schief gelächelt. "Ich glaube, das ist nichts für mich."
Sabine hatte sie angelacht und geboxt. "Komm einfach mal mit. Freitag, Freitag um 16.00 Uhr. Ich hol Dich ab."
Damit ließ sie Tina stehen, aus der Ferne winkte sie noch mal.
Am Freitag hatte sie dann mit Sabine zusammen auf dem Boden in dem mit Matten ausgelegten Raum gesessen. Die anderen begrüßten sie freundlich. Fast alles Frauen, wenig Männer. Sabine umarmte alle lachend. Sabine setzte sich zu ihr und lehnte sich an, lachte. "Du musst Dich entspannen."
Sie kitzelte Tina ein bisschen.
Durch die großen Fenster drang die Frühlingssonne herein, die Luft im Raum war angenehm frisch.
Dann kam Robert Liebig, er wirkte wie Anfang 40, war aber vermutlich älter, auf jeden Fall waren alle anderen im Raum jünger. Er trug ein weißes, schickes, lockeres Hemd und eine weiße Hose. Er begrüßte alle kurz mit seinem Blick und ging dann direkt auf Tina zu, beugte sich zu ihr herab und fasste sie an die Schulter.
"Du musst Tina sein, Sabine hat uns von Dir erzählt. Wir freuen uns hier alle, dass Du gekommen bist."
Seine Stimme streichelte über ihre Haut, sie spürte, wie sich ihre Haare aufstellten. Sie spürte ihre Unsicherheit. Sabine legte beruhigend den Arm um sie, lächelte sie an.
Dann hatte Robert Liebig sich auf die andere Seite neben sie gesetzt.
Er begann zu sprechen, zwischendurch lächelte er ihr immer wieder freundlich zu, reichte ihr einmal eine Schale mit Tee und beugte sich in einer Pause an ihr vorbei, um Sabine etwas zu sagen.
Von dem, was gesagt wurde, bekam sie bei diesem ersten Treffen nicht viel mit. Sie erinnerte sich nur noch an die immer wiederkehrenden Worte vom Virus in uns, den wir nicht weiter in uns verschließen dürften, dem wir die Türen öffnen müssten, und ihn nicht einschließen und verleugnen dürften.
Als sie wieder zu Hause war, schlief sie vor Müdigkeit fast ein.
Dabei hatte sie doch gar nichts getan.
Auch den Freitag darauf kam Sabine und holte sie ab. Diesmal bat Robert Liebig Tina, sich in die Mitte zu setzen. Er setzte sich ihr genau gegenüber.
"Wir wollen Dich alle kennenlernen. Du musst wirklich nichts fürchten. Erzähl einfach soweit, wie Du willst."
Tina war unsicher. "Was soll ich erzählen?"
"Sprich einfach aus, was Dich bedrückt. Das hilft. Sabine sagte, Du fühlst Dich häufig müde und erschöpft."
Tina nickte. Sie beschrieb, das Gefühl, das sie häufig hatte, wenn ihr alles so schwer fiel, als würde sie sich durch eine zähe klebrige Masse bewegen. Sie sah verständnisvoll nickende Gesichter um sich herum. Sie spürte, wie sie eine unbekannte Frau aus dem Kreis spontan in den Arm nahm. Und sie hörte die Stimmen der anderen.
"Es ist der Virus in Dir." – "Du musst ihm einen Weg nach draußen zeigen, aber Du sperrst ihn ein." – "Du klammerst Dich an ihn, wie eine Schiffbrüchige." – "Du musst ihn raus lassen." – "Du wirst sehen, das wird Dir gut tun." – "Ihr seid so lange zusammen, dass Du Dir ein Leben ohne den Virus gar nicht mehr vorstellen kannst, deshalb hast Du ihm alle Wege abgeschnitten, aus Angst, allein zurückzubleiben." – "Aber das ist falsch."
Tina spürte, dass ihr die Tränen kamen, sie wurde rot. Sabine half ihr auf, ging mit ihr zur Seite und nahm sie in den Arm. Dann war auch Robert da, er sah sie an. "Das war sehr gut und sehr mutig von Dir. Du musst Dich nicht schämen, das haben hier alle durchgemacht.
Es ist der erste Schritt. Du wirst sehen, es wird Dir gut tun."
Zu Hause heulte sie noch weiter.
Dann kam schon das Wochenendtreffen. Normalerweise war das zu schnell. Aber Robert hatte entschieden, dass Tina mitfahren dürfte. Sabine erzählte ihr, wie beeindruckt Robert von ihr gewesen war. Er hatte sich noch lange mit Sabine über Tina unterhalten.
Sie hatten alle Einzelzimmer. Tina hatte erst befürchtet, dass sie kein Zimmer für sich haben würde, aber das Zimmer war zwar klein, aber völlig hinreichend.
Sie begannen mit einer Gruppensitzung. Doch Tina war nicht bei der Sache, ihr Blick glitt immer wieder durchs Fenster.
Sabine stieß Tina an. "Du musst Dich öffnen, wenn Du so dicht machst, behinderst Du nicht nur Dich selbst, sondern uns alle.
Das geht nicht."
Es ging wieder um den Virus, der uns bestimmt, unser Leben, bis wir gelernt haben, ihn gehen zu lassen.
"Der Virus ist ein Teil von Dir." – "Mein Virus hat mich immer daran gehindert, feste Beziehungen einzugehen." – "Für mich schien der Virus alles zu sein, was ich hatte, deshalb habe ich mich nie getraut, loszulassen. Erst danach habe ich begriffen, dass da so viel mehr ist."
Doch Tina kam nicht rein. Ihr kam das alles auf einmal als schale Wiederholung vor, als hätte sie all das schon x-mal gehört.
Dann kochten sie zusammen. Das war lustig.
Am Abend entschied Robert, dass Tina eine Einzelsitzung brauche. Sie wollte erst nicht, doch Sabine lachte sie aus. Alle außer Robert verließen den Raum, einige schielten etwas neidisch.
Tina war nun allein mit ihm. Robert lachte sie an und reichte ihr eine Schale Tee. Er streichelte über ihre Schultern.
"Setz Dich."
Tina setzte sich mit dem Rücken an eine Wand. Robert ging im Zimmer auf und ab. Er sah sie an.
"Du bist anders. Mit Dir kann ich reden.
Weißt Du, manchmal ist es schwer, alle erwarten von mir immerzu, das ich etwas Intelligentes sage."
Tina lächelte ihn an.
Er drehte sich zu ihr hin und setzte sich vor sie. Vorsichtig nahm er einen ihrer Arme.
"Lass ganz locker. Ich habe fast vergessen, dass wir hier sind, damit es Dir besser geht.
Entschuldige bitte."
Er bewegte ganz leicht ihre Finger. Er sah sie an.
"Da ist immer noch Widerstand. Du musst Dich ganz entspannen. Ich weiß, dass das nicht einfach ist. Aber Du musst das tun, Tina.
Wenn Dir das hilft, kannst Du auch bei mir im Zimmer übernachten. Manchmal hilft es, einfach loszulassen. Ich fange Dich auf. Ich bin da Tina, Du musst keine Angst haben."
Sie saß jetzt mit dem Rücken zur Wand und vor ihr saß Robert und strich über ihre Schultern und ihren Körper.
Sein Gesicht war jetzt fast direkt vor ihrem.
"Du musst es zulassen. Lass ihn raus, lass den Virus raus, dann tut er Dir nicht mehr weh.
Du wirst es spüren. Halt dich an mir fest, dann musst Du keine Angst haben.
Ich halte Dich."
Sie spürte seinem Atem in ihrem Gesicht. Sie zitterte, ihr war hundeelend. Was machte sie hier?
Dann spürte sie die Zuckungen, ihr Magen.
Sie krallte sich an Robert fest.
Und dann kam es auch schon raus. Sie musste sich übergeben und konnte nicht mehr aufhören zu brechen. Robert versuchte aufzuspringen, doch sie krallte sich nur um so stärker an ihm fest. Und es hörte nicht auf.
Immer mehr entleerte sich ihr Magen. Es schüttelte sie am ganzen Körper.
Robert saß nur noch wie steifgefroren da.
Danach sah Robert sie an wie ein Stück Dreck. Es war ihr egal, im Moment war ihr alles egal. Sie stand auf und ging an den anderen vorbei durch den Flur zur Gemeinschaftsdusche.
Hinter sich hörte sie Robert fluchen. "Scheiße! Scheiße!"
Ihr war das egal, alles egal. Nach dem Duschen ging sie direkt in das kleine Zimmer und schloss ab, dann legte sie sich hin und schlief ein.
Als sie am nächsten Morgen aufwachte, ging es ihr tatsächlich so gut wie schon lange nicht mehr. Dafür war sie aber die einzige beim Frühstück.
Alle anderen lagen mit Magen- und Darmgrippe in ihren Zimmern.
Der Virus hatte jetzt ein neues Zuhause.
Sie packte ihre Sachen zusammen und ging. Draußen lachte sie und genoss die frische Frühlingsluft.
Dann hatte sie den Bahnhof erreicht.
Jetzt stand sie hier und dachte zurück.
Sabine hatte Recht gehabt, es hatte ihr geholfen.
FIN
Yuriko Yushimata
Virales Management
Christina Parlie hatte viel Geld für diesen Kurs bezahlt. Virales Management wurde inzwischen in immer mehr Unternehmen implementiert. Auch die EU setzte inzwischen auf den Dreiklang von Viral Management / Viral Communication / Viral Marketing und NGOs arbeiteten auf der Ebene des Viral Networking.
Sie betrachtete den etwa 50-jährigen Leiter des Kurses, Alexander Götz von Niehus. Jede seiner Bewegungen passte ihm wie angeboren.
Er hatte sie alle im Griff.
Er galt als der Papst des Viral Management. Er ließ jedes seiner Worte auf dem Boden aufschlagen.
Und doch ekelte sie der ganze Kurs immer mehr an.
Von Niehus erläuterte den Begriff Viral Marketing am Beispiel der Werbung für den Film 'Blair Witch Project', einem der frühesten Beispiele für Viral Marketing.
"Die Produzenten des Films 'Blair Witch Project' haben gezielt frühzeitig einen Kult um den Film herum aufgebaut. Sie haben kleine Versatzstücke in die soziale Kommunikation eingeschleust, Versatzstücke, die sich immer weiter verbreitet haben, sodass zum Filmstart bereits eine Fangemeinde existierte."
Ein älterer Mann, Funktionär der Deutschen Ärzteschaft, schüttelte den Kopf. "Richtige Kampagnen funktionieren immer noch anders."
Von Niehaus brachte es fertig, den Teilnehmer gleichzeitig zuvorkommend und abschätzig anzusehen. "Sie unterschätzen das. Natürlich hängt dies vom Alter Ihres Zielpublikums ab. Werbeagenturen nutzen zum Beispiel zunehmend Kurzfilme, die sie auf YouTube einstellen, gerade um jüngere Zielgruppen anzusprechen.
Filme, die primär witzig sind und ihren Werbeinhalt nur am Rand oder implizit enthalten. Virales Marketing, die Filme werden durch ihre Inhalte und ansprechende Formate in soziale Netzwerke eingeschleust und unbezahlt verbreitet. Als Vektoren der Ausbreitung werden die Nutzer und Nutzerinnen von YouTube und verbundener sozialer Netzwerke benutzt.
Viral Marketing heißt, dass Sie andere Menschen dazu bringen, die Arbeit der Verbreitung der Werbung zu machen, ohne Bezahlung und möglichst sogar mit Begeisterung – Schau Dir den Videoclip an –. Sie programmieren die Nutzer in Ihrem Sinne um, genau so, wie ein Virus die Zelle umprogrammiert.
Sie lassen die Menschen für sich arbeiten und lassen ihnen dabei das Gefühl, dass sie Ihnen dafür noch dankbar sein müssten, weil Sie den Menschen scheinbar etwas umsonst zur Verfügung stellen."
Christina Parlie dachte an Apple. "Wäre Apple nicht auch ein gutes Beispiel?"
Von Niehus nickte. "Ja, Apple ist ein sehr gutes Beispiel. Zum Beispiel das Spiel mit neuen hochgeheimen Projekten und gleichzeitig durchsickernde Gerüchte.
Erzählen Sie Menschen etwas unter dem Siegel der Verschwiegenheit und Sie können sicher sein, dass es bald alle wissen.
Ein guter Marketingtrick.
Und kaum ist ein neues Produkt auf dem Markt, erscheinen überall im Internet kritische, aber positive Beschreibungen von erstaunlich gut informierten Nutzern.
Wer das wohl ist?
Apple bestimmt den Zeitpunkt der Einführung einer Technologie und sorgt für die richtige Aufnahme und die richtige Kritik an den richtigen Schnittstellen.
Das ist Viral Marketing."
Christina Parlie hatte genug. "Aber ist das nicht einfach nur eine euphemistische Umschreibung von Manipulation der Kommunikation mit Halbwahrheiten, Gerüchten und durch gezielt 'aufbereitete' Informationen?"
Von Niehus sah leicht spöttisch zu ihr hinüber. "Dies ist keine Science Fiction Story, dies ist das reale Leben. Virales Management ist keine Spielwiese für Gutmenschen, es ist eine Technik für die reale Praxis, für diejenigen, die Verantwortung tragen.
Es geht darum, an den entscheidenden Stellen in einem Unternehmen oder in der Öffentlichkeit die Vektoren der Ausbreitung von Stimmungen und Meinungen zu nutzen oder auszuschalten.
Erzählen Sie den richtigen Menschen zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Dinge, und der Erfolg ist Ihnen sicher. Stellen Sie Menschen, die konträre Informationen verbreiten, ins Aus."
Christina Parlie hakte noch einmal nach. "Aber das ist doch Manipulation?"
Von Niehus schüttelte den Kopf. "Sie denken in zu einfachen Hierarchien. Das tun doch alle, manche sind halt nur besser.
Und dafür sind Sie doch hier?"
Der Kurs lachte. Christina Parlie schwieg.
Niehus fuhr fort. "Werten Sie im Unternehmen den internen E-Mail-Verkehr Ihrer Mitarbeiter und Kollegen aus, achten Sie darauf, welchen Personen Schnittstellenfunktionen zukommen, wo die Multiplikatoren sitzen.
Werten Sie die Informationen aus sozialen Netzwerken aus. Nutzen Sie Facebook und andere Plattformen, aber geben Sie keine Informationen über sich unkontrolliert preis.
Analysieren Sie, wer mit wem befreundet ist. Und benutzen Sie dies bewusst und zielgenau.
Viral Communication Skills fallen nicht vom Himmel. –
Stellen Sie Flussdiagramme über Informationen auf, studieren Sie die Verbreitungspfade. Sie müssen nicht alles kontrollieren, aber Sie müssen an den richtigen Stellen zeitlich abgestimmt ansetzen, um die Kommunikation in Ihrem Sinn zu beeinflussen."
Er sah Christina nachsichtig an. "Nehmen Sie sich einfach in den nächsten Wochen irgendein Projekt vor und probieren Sie aus, was Sie hier gelernt haben.
Sie werden sehen, so funktioniert die Realität."
Von Niehus hatte den Kurs vergessen, als die ersten Andeutungen drei Wochen später in diversen Netzplattformen auftauchten.
Nichts war direkt formuliert, meist waren es nur Randnotizen in anderen längeren Artikeln. Übergriffe, unstatthaftes Verhalten, finanzielle Probleme, Drogen – alles wurde mit ihm ungesagt in Verbindung gebracht.
Und es war nicht eine Quelle, sondern viele kleine Publikationen.
Er untersagte zwei Internetplattformen die Verbreitung, daraufhin wurde es aber nur schlimmer, sein Verhalten wurde als Eingeständnis gewertet.
Dann gab es diese Anrufe bei für ihn wichtigen Auftraggebern. Es wurden Anfragen bzgl. seiner Liquidität gestellt.
Er nahm an, dass einer seiner Konkurrenten aus seiner Partei dafür verantwortlich war und ging zum Gegenangriff über. Doch dadurch wurden die Angriffe auf ihn nur drastischer.
Seine Partei lud ihn dieses mal nicht zu ihrer Klausurtagung ein.
In einer Zeitung wurden Plagiatsvorwürfe erhoben, er hätte seine zentralen Begriffe aus einer Science Fiction Story geklaut.
Jetzt wurde jeder Unsinn hochgekocht.
Sein Verlag legte das aktuelle Buchprojekt auf Eis, nur vorübergehend, der Markt sei zur Zeit nicht gut.
Mehrere Kurse wurden abgesagt.
Aus der zugesagten Berufung auf eine Universitätsstelle wurde nichts.
Als er einige Wochen später die junge Frau am Ufer des Flusses traf, erkannte er sie erst nicht wieder.
Christina Parlie grüßte ihn freundlich. Von Niehus erinnerte sich an den Kurs und an die junge Frau mit ihren Zweifeln und grüßte zurück.
Er fühlte sich angenehm entspannt, mit dieser ehemaligen Teilnehmerin eines seiner Kurse, der er sich überlegen fühlte. Ein bisschen Smalltalk würde ihm ganz gut tun in dieser Zeit der unfairen Angriffe. "Und, sind Sie immer noch überzeugt, dass Viral Communication Manipulation ist?
Haben Sie meine Techniken mal ausprobiert?"
Christina Parlie antwortete mit einem unverbindlichem Lächeln. "Ja, ich habe einige Gerüchte über Sie in die Welt gesetzt."
Von Niehus schüttelte den Kopf. "Was?"
Sie sah ihm höflich in die Augen. "Sie sagten doch, wir sollten uns ein Projekt vornehmen und die im Kurs erlernten Techniken einfach einmal ausprobieren – learning by doing."
Von Niehus sah sie entgeistert an. "Aber, wieso?"
Christina Parlie suchte ihr freundlichstes Lächeln heraus. "Wieso nicht? Sie wissen doch, dies ist keine Science Fiction Story, in der die Gutmenschen gewinnen, dies ist das reale Leben."
FIN
Yuriko Yushimata
Elektrischer Schnupfen
Zuerst wurden die Nanowaschmaschinen, sich selbst reproduzierende Waschroboter, die so klein waren, dass sie mit bloßem Auge nicht zu sehen waren und die aus dem aus der Kleidung entfernten Schmutz ihre Energie bezogen, weltweit verbreitet.
Seitdem konnte Karla ihre Sachen zur Reinigung einfach auf den Fußboden fallen lassen und am nächsten Morgen waren sie sauber.
Das war wunderbar.
Irgendwann bemerkte sie aber kleine Löcher im Putz ihrer Schlafzimmerwand. Und sie war nicht die einzige.
Weltweit begannen die Nanowaschroboter elektronisch zu mutieren und sich neue ökologische Nischen zu erobern. In Japan stürzte ein Hochhaus zusammen, weil die Nanowaschroboter Teile der Wände aufgefressen und ausgehöhlt hatten.
Das war die Zeit, als die ersten Antinanoroboterpestizide auf den Markt kamen. Aber insbesondere die schädlichen Mutationen entwickelten schnell Resistenzen. Nur die Waschroboter starben und die Wäsche blieb schmutzig.
Das war ein trauriger Zustand.
Doch dann entwickelte H. P. Wiczenzky programmierbare, sich selbst reproduzierende Nanoschrottpressen, hochbewegliche Schrottpressenroboter, die so klein waren, dass sie mit bloßem Auge nicht zu erkennen waren und die speziell auf bestimmte Varianten mutierter Nanowaschroboter angesetzt werden konnten.
Innerhalb kürzester Zeit wurden fast alle mutierten Varianten der Nanowaschroboter zu Schrott gepresst. Nur die funktionierenden Nanowaschroboter blieben übrig.
Karla war glücklich. Wieder konnte sie ihre Wäsche einfach auf den Boden fallen lassen.
Alles war gut.
Doch kurz darauf verschwanden die ersten Handys und bald darauf auch größere Metallgeräte über Nacht. Eines morgens wachte Karla auf und ihr Herd war verschwunden. Auch die Nanoschrottpressenroboter waren nun mutiert. Diesmal halfen nur noch ganz harte Antinanoroboterpestizide. Der elektronische Kammerjäger kostete Karla fast ein Monatsgehalt.
Und wieder blieb ihre Wäsche schmutzig.
Es war mit L. G. Nutzky ein Virologe, der die Lösung fand. Er entwickelte kleine elektronische Viren, die speziell an Nanoroboter angepasst waren. Kurz darauf wurden die ersten elektronischen Virenstämme gezielt zur Bekämpfung von Nanoschadrobotern eingesetzt. Innerhalb kürzester Zeit starben fast alle Nanoschrottpressenroboter an elektronischen Nanoviren. Auf Antinanoroboterpestizide konnte Karla jetzt wieder verzichten. Die Nanowaschroboter vermehrten sich wieder.
Und wieder war ihre Wäsche jeden Morgen wundervoll sauber.
Nur bekam nun ihr Auto einen Schnupfen und ihr Kühlschrank Fieber, die Nanoviren waren mutiert und hatten die elektronische Artgrenze überschritten.
Elektronische Grippewellen, die Haushaltsgeräte, Autos und auch die Elektrizitätswerke befielen, wurden zur Normalität. Bald gab es Bauernkalender mit Tipps für die richtigen Hausmittel zur Behandlung kranker Küchengeräte und anderer computerisierter Großgeräte.
Bei Autos mit elektrischem Schnupfen half am besten, sie eine Woche in ölgetränkte Decken einzuwickeln und mit heißem Öl abzureiben.
Karlas Kühlschrank verstarb allerdings an einer Grippe. Sie hätte ihm fiebersenkende Mittel verabreichen müssen, aber da sie keine Krankenversicherung für ihre Haushaltsgeräte abgeschlossen hatte, hatte sie es auch dort mit Hausmitteln versucht. Sie hatte ihm mehrere Liter Holundertee eingeflößt.
Aber er starb in der dritten Nacht.
Sie beerdigte ihn im Garten.
FIN
Yuriko Yushimata
White Pride
Er war ein guter Junge.
Egal, was die Polizei sagte. Sie kannte ihn doch von klein auf, ihren Enkel. Und er war doch das einzige Opfer.
Die Verhöre dauerten jetzt schon wieder fast den ganzen Tag.
Sie hatten ihn gefunden, schon halb verwest in seinem Kellerlabor. Irgendein übereifriger Polizist hatte gleich alles absperren lassen.
Bioterrorismus!
So ein Unsinn, dabei hatte ihr Junge doch nur Kranken helfen wollen. Sie kannte ihn schließlich. Seine Mutter war ja abgehauen mit diesem 'Farbigen', wie man jetzt sagte. Das waren ja attraktive Männer, für eine Nacht, aber für immer?
Und sein Vater, ihr Sohn, war für sein Land gestorben in einem anderen Land.
Also war er bei ihr aufgewachsen.
Sie hatte ihm beigebracht, stolz auf sich zu sein. Nur Menschen, die auf sich selbst stolz sind, können auch andere Menschen respektieren.
Jetzt lag auch ihr Enkel schon im Grab, das heißt, das, was sie von ihm übrig gelassen hatten. Sie hatten ihn aufgeschnitten, Obduktion nannten sie das, und dann verbrannt, aus Sicherheitsgründen.
Wahrscheinlich wollten sie nur vertuschen, dass irgendeiner von diesen Junkies, die in diesem Viertel rumliefen, ihn ermordet hatte. Die wurden immer unverschämter.
Und die Polizei tat nichts.
Sie hatte ihren Enkel immer wieder gebeten, sich doch anderswo ein Labor zu suchen. Doch er hatte immer nur geantwortet: "Dies ist genau der richtige Ort."
Und dann vor vier Wochen hatte er sie überraschend besucht.
Er war so glücklich gewesen. Die ganze Zeit hatte er davon geredet, dass er jetzt soweit wäre, dass sich alles ändern würde, dass die Welt jetzt begreifen müsste und das Land würde wieder auferstehen, gereinigt. Sie verstand davon nichts, aber sie hatte sich für ihn gefreut.
Dann hatte sie nichts mehr von ihm gehört, bis die Polizei kam.
Sie hatten sie immer wieder dasselbe gefragt. Und heute hatten sie sie noch einmal aufgefordert, ihre Aussagen zu wiederholen.
Dabei hatte sie doch alles gesagt.
Er war ein guter Junge.
Die alte Frau starrte aus dem Fenster.
Der Polizist betrachtete die alte Frau durch die Glasscheibe. Vermutlich hatte sie wirklich nichts gewusst, nichts von dem, was ihr Enkel geplant hatte.
Sie hatten Glück gehabt. Der Polizist, der zuerst zum Tatort gerufen wurde, hatte kurz vorher einen Kursus zur Seuchenbekämpfung absolviert. Übereifrig hatte er alles absperren lassen, glücklich, mit seinem Wissen wichtig zu tun. Dann hatte er den medizinischen Dienst informiert.
Die zuständige Medizinerin war zuerst nicht sehr engagiert gewesen. Doch dann sah sie das Labor und den Leichnam und verschärfte die Maßnahmen.
Sie hatten einen Ausbruch des Virus verhindern können.
Dem Polizisten graute immer noch, wenn er an das dachte, was der Tote geplant hatte. Der Polizist ging alles noch mal in Gedanken durch.
Der Tote hatte versucht, einen Virus zu entwickeln, der für alle farbigen Menschen tödlich war, für Weiße aber ungefährlich, von ihnen aber auch übertragen wurde. Und er war überzeugt gewesen, dass seine Versuche erfolgreich waren.
Offensichtlich hatte er alle Farbigen gehasst. Überall im Labor hingen Naziembleme.
Er hatte sich selbst infiziert, um den Virus zu verbreiten. Er hatte sich dann wohl schlafen gelegt, um am nächsten Morgen mit der Verbreitung des Virus zu beginnen, als menschlicher Todesbote.
Doch der Virus war unbemerkt mutiert und tötete nun auch Weiße. Der Virus hatte ihm keine Zeit gelassen.
Die Menschen hatten wahnsinniges Glück gehabt.
Die alte Frau stand auf. Sie durfte gehen.
Sie war jetzt allein.
Sie war sich sicher, dass einer dieser farbigen Junkies ihren Enkel auf dem Gewissen hatte. Die Polizei wollte das nur vertuschen.
Die Farbigen gehörten hier einfach nicht her, dieser Gedanke kreiste immer wieder in ihrem Kopf.
Am Abend benutzte sie das erste Mal das Parfum, das ihr Enkel ihr vor vier Wochen mitgebracht hatte. Er war doch ein guter Junge gewesen.
Zwei Wochen später war der Ausbruch des Virus nicht mehr zu stoppen.
Die alte Frau war das erste Opfer.
FIN
Yuriko Yushimata
Wer hat Angst vor dem Schwarzen Mann?
Die Sonne stand niedrig über der sumpfigen Landschaft. Sie war nur dürftig in altes Sackleinen gekleidet. Hunger, Hunger schrie ihr Magen. Aber jedes Mal, wenn sie Menschen hörte, versteckte sie sich.
Sie wollte nicht sterben.
Dann hörte sie die Glöckchen und wusste, es war der Schwarze Mann. Sie glaubte schon, seine Kutte durch das Gebüsch zu sehen.
Er durfte ihr nicht zu nahe kommen. Sie nicht berühren.
Sie lief kopflos in den Sumpf. Doch das Läuten der Glöckchen hörte nicht auf.
Sie spürte, wie der Boden unter ihr nachgab, ein Sumpfloch, sie saß fest, die Glöckchen kamen näher, immer näher.
Nun würde es also auch sie treffen. Sie wimmerte.
Der schwarze Mann, die Pest, hatte ihr Dorf praktisch ausgerottet. Es war das Jahr 1347.
Schweißgebadet wachte Miriam auf. Wieder dieser Alptraum, wie so viele Nächte in letzter Zeit.
Ihre Mutter hatte schon Kaffee gekocht. Als sie in die Küche schlurfte, sah sie kopfschüttelnd ihre Tochter an.
"Du darfst nicht so lange wach bleiben. In Deinem Alter mussten wir schon arbeiten. Manchmal denke ich, das war gar nicht so schlecht."
Ihr Vater schaute hinter der Zeitung hervor.
"Oder Du musst halt heiraten, aber das ist ja auch nichts mehr für Euch. Wie geht es eigentlich Thomas?"
Miriam nahm ohne ein Wort ihre Kaffeetasse und schlummelte in ihr Zimmer zurück. Sie spürte die missbilligenden Blicke ihrer Eltern im Rücken.
"Was willst Du denn werden?
Wir machen uns halt Gedanken."
In der nächsten Nacht war sie wieder dort.
Diesmal stand sie mitten auf einer Lichtung, es war kalt, sie zitterte. Dann sah sie die Toten, einen Berg Leichen, halb verkohlt, aber nicht richtig verbrannt, der Pesteiter war noch überall.
Sie musste hier weg.
Sie versuchte zu laufen, aber ihre Beine gehorchten ihr nicht. Statt wegzulaufen trugen sie sie immer näher zu den Leichen hin.
Sie warf sich auf den Boden und schlug auf ihre Beine ein, sie schrie. Die Beine waren gelähmt.
Dann hörte sie wieder die Glöckchen. Sie kroch, nur mit Hilfe ihrer Arme, in den Schutz eines Gebüsches.
Diesmal sah sie sie wirklich. Ein Mann in schwarzer Kutte und mit den Pestglöckchen. Sie nahm zumindest an, dass es ein Mann war, das Gesicht konnte sie im Dunkel unter der Kapuze nicht sehen.
Der Schwarze Mann. Sie erinnerte sich an das Kinderspiel – Wer hat Angst vor dem Schwarzen Mann? –. Die Pest als Kinderbelustigung.
Wollt Ihr sterben?
Er zog einen Leiterwagen mit Leichen. Hinter ihm ging eine alte Frau in Lumpen gekleidet, die kichernd sabberte. Das Gesicht hatte sie irgendwo schon einmal gesehen, wenn sie sich nur erinnern könnte, wo?
Sie kamen direkt auf sie zu.
Sie verkroch sich tiefer im Gebüsch. Nicht, schrien ihre Gedanken, er durfte sie nicht berühren.
Kurz vor ihr bogen sie ab, und doch war Miriam sicher, dass die beiden sie die ganze Zeit beobachteten, alles sahen, als wäre kein Gebüsch da.
Sie spürte, dass nun auch ihre Arme ihr nicht mehr gehorchten. Sie spürte sie nicht mehr.
Was sollte sie tun?
Sie wollte nicht sterben.
Sie biss sich in die Hand, tiefer, bis der Schmerz ihr die Arme zurück gab.
Scheiße, sie hatte sich tatsächlich im Schlaf in die Hand gebissen. Das Blut tropfte auf das Bettlaken. Sie war mit einem Schlag ganz wach.
Im Badezimmer war Verbandszeug und etwas Jod.
Ihre Eltern schliefen noch.
Diese Träume wurden ihr langsam unheimlich. Sie musste etwas tun. Sie würde nach draußen vor die Stadt fahren. Ihren Eltern schrieb sie einen Zettel.
Der Tag war wunderbar.
Doch am Abend wieder zu Hause spürte sie, dass es noch nicht vorbei war. Sie überlegte und wusste, was zu tun war.
Zumindest dachte sie das.
Sie legte sich ins Bett.
Diesmal war sie in einem Ort. Die niedrigen Häuser standen geduckt am Rand der durchweichten Straße. Es stank nach Kot und verbrannten Leichen. Viele Häuser standen leer, aus anderen spürte sie die Blicke hinter den Riegeln auf ihre erbärmliche Gestalt gerichtet.
Das Sackleinen war nass und dreckig. Ihre Haare waren verfilzt. Die Hand war eitrig verschorft.
Dann hörte sie die Glöckchen.
Der Ton kam aus einer Seitenstraße. Ohne lange zu überlegen nahm sie alle ihr verbliebenen Kräfte zusammen und schritt zügig aus, bis sie direkt vor dem Mann in schwarzer Kutte stand. Der schien einen Augenblick irritiert.
Das reichte für sie aus, das Beil, das sie hinter ihrem Rücken versteckt gehalten hatte, traf ihn unvorbereitet. Er sackte leblos zusammen.
Blut floss in den Schlamm und Kot. Miriam zog ihm die Kapuze vom Kopf.
Sie war nicht überrascht.
Es war ihr Vater.
Nun erkannte sie in der alten Frau auch ihre Mutter.
Die Alte lachte und kam zahnlos auf Miriam zu.
"Gut, wenn das so ist, bist Du jetzt an der Reihe."
Mit diesen Worten riss die Alte dem Mann die Kutte vom Leib und reichte sie Miriam.
Doch Miriam lachte nur. Dann trat sie etwas zurück.
"Er ist nicht tot. Er glaubt es nur, weil er es glauben will. Ihn umzubringen, wäre mir viel zu psychoanalytisch korrekt.
Du weißt doch, ich tue nie das, was ich soll.
Das Blut ist nicht echt.
Das Beil ist aus Gummi."
Sie warf das Beil ihrer Mutter zu, die es ungläubig untersuchte. Dann drehte sie sich um und ließ die beiden mit der Kutte stehen.
Einmal drehte sie sich noch um. "Ab jetzt ist der Mummenschanz vorbei."
An diesem Morgen wachte Miriam mit einem Lächeln auf den Lippen auf.
FIN
Yuriko Yushimata
Computerspiele
Almut hatte, obwohl ihr Enkel zu Besuch war, den Kaffeekranz nicht abgesagt. Was sollte es, der Kleine spielte sowieso die ganze Zeit mit seinen Computerspielen.
Bella schüttelte gerade den Kopf. "Da muss man sich nicht wundern."
Marlies stimmte ihr zu. "Sicher, die Kinder spielen die ganze Zeit diese Spiele, und dann gehen sie in die Schule und erschießen ihre Mitschüler. Dit kommt von dat, das hat schon mein Vater immer gesagt."
"Aber die Eltern heute erlauben den Kindern ja alles," ergänzte Margret, zuckte mit den Schultern und ließ sich noch ein Stück Torte geben. "Aber bitte die fettreduzierte."
Missbilligend schauten Almuts Freundinnen auf die Tür zum Zimmer ihres Enkels, aus der die Geräusche eines Computerspiels zu hören waren.
Almut schenkte allen noch etwas entkoffeinierten Kaffee nach. Sie wackelte etwas unsicher lächelnd mit dem Kopf und blickte zur Tür des Zimmers ihres Enkels Lars. "Ach, das ist eigentlich gar kein richtiges Computerspiel, das Lars da spielt. Das ist schon so alt und ganz harmlos – Pacman. Das hat schon mein Sohn früher gespielt."
Ihre Freundinnen sahen Almut nachsichtig an und gingen zu einem anderen Thema über.
Niemand bemerkte es, als sich die Tür zum Wohnzimmer öffnete. Plötzlich stand Lars im Raum, seine Bewegungen wirkten seltsam starr. Almut sah ihn an. "Na, was ist denn? Möchtest Du auch ein Stück Kuchen?"
Doch Lars blieb einfach starr stehen. Dann fing sein Körper an zu zucken und er krampfte sich zusammen. Plötzlich übergab er sich. Doch was dort aus seinem Mund kam, überstieg das Begriffsvermögen von Almut und ihren Freundinnen.
Lauter schwarze kleine Flummis mit kleinen spitzen Zähnen und Knopfaugen, die wie wild im Zimmer auf und ab sprangen.
Marlis war die erste, die sich fasste. Sie setzte an zu reden. "Was ..."
Doch das hätte sie besser nicht getan, denn kaum hatte sie den Mund geöffnet, verschwanden schon mehrere Flummis in der Öffnung. Kurz darauf lag Marlis schreiend am Boden, weitere Flummis nutzten die Gelegenheit. Der Schreck ließ auch die anderen Kaffeegäste ihren Mund öffnen. Nach zehn Minuten war alles vorbei.
Die Flummis waren in den Leibern der Frauen verschwunden.
Nach kurzer Zeit standen die Frauen wieder auf. Doch dies waren nicht mehr die Frauen von vorhin. Mit starrem Blick, ohne zu reden, machten sie sich auf den Weg auf der Suche nach weiteren Menschen. Das Pacman-Syndrom, wie es in den Medien bald genannt wurde, breitete sich rasend schnell aus. Ein Land nach dem anderen fiel ihm zum Opfer.
Die Flummis konnten auch schwimmen.
Natsuki betrank sich. Es war zu spät. Sie hatte bereits vor zehn Jahren versucht, die Menschen zu warnen. Doch niemand hatte auf sie gehört. Nicht nur Kinder wurden durch Computerspiele verändert, auch die Viren lernten dazu.
Irgendwann hatte es soweit kommen müssen.
Die Viren hatten die Muster von Pacman übernommen. Und die Menschheit wurde im wahrsten Sinne des Wortes überrollt. Erst Deutschland, dann Europa, die USA und jetzt Japan.
Als die schwarzen Flummiviren die Straße herabströmten, ging sie ihnen entgegen.
Es war egal, alles egal.
Doch dann sah sie die Frauen. Ihr Trainingscenter war hier um die Ecke. Es war das nationale Ping-Pong-Team. Sie hatten sich als Barriere gegen die Flummiviren auf die Mitte der Straße gestellt.
Der Kampf war furios und doch umsonst. Eine Spielerin nach der anderen wurde überwältigt.
Dann war nichts mehr zwischen ihr und den grinsenden schwarzen Flummis.
Natsuki brach der Schweiß aus, endlich wachte sie auf.
"Scheiß Traum."
Der Computerbildschirm flimmerte noch. Sie hatte bis spät in die Nacht Pacman gespielt, um sich abzulenken.
Natsuki holte sich ein Glas Wasser, schaltete den PC aus und legte sich wieder schlafen.
Sie lachte beim einschlafen.
Den kleinen schwarzen Flummi mit spitzen Zähnen, der schnell unter einem Schrank verschwand, übersah sie.
FIN
Yuriko Yushimata
Angst
Sie konnte sich gerade noch an das Brett anklammern, bevor der Strudel sie ergriff. Doch es half nichts. Immer schneller drehte sich alles, sie sah die Gesichter zu sich herabschauen, Alltagsgesichter, fühllos. Dann wachte sie auf. Wieder eine Nacht, in der sie keinen Schlaf fand. Es war das vierte oder fünfte Mal, dass sie hochfuhr. Sie stand auf und ging ins Bad. Kaltes Wasser half, dann Kaffee und Morgengymnastik. Vier Stunden Schlaf mussten reichen.
Auf der Sitzung sah man ihr nichts an. Sie hatte sorgsam darauf geachtet alle Spuren der Nacht zu verwischen.
Der Wirkstoff 'Synam', das neue Produkt, schlug nicht an, es wurde nicht gekauft. Dabei war viel investiert worden. Der Konzern war einer der größten am Markt für Beauty- und Healthprodukte.
Sie war als Feuerwehr hierher geschickt worden. Der Leiter des Marketing erläuterte gerade die bisherige Kampagne. Sie hörte nur halb zu und dachte an die Nacht und an das Gefühl zu ertrinken. Der Mann hörte auf zu sprechen. Alle am Tisch sahen zu ihr.
Sie nickte, dann blätterte sie in den verteilten Unterlagen, sah die Herren und die eine Frau außer ihr in der Runde an und ließ ein bisschen Zeit verstreichen. Sie sorgte dafür, dass ihr die Skepsis deutlich anzusehen war und fing an, als sie sich der Aufmerksamkeit aller Anwesenden sicher war.
"Eine Positivkampagne, Positivkampagnen bringen in einem umkämpften Marktsegment kaum etwas. Sehen Sie, es geht nicht darum, Ihnen Fehler nachzuweisen, sondern Perspektiven zu entwickeln. Die Verknüpfung eines Produktes mit einem positiven Assoziationsraum ist nicht falsch, führt aber alleine heute nicht zum gewünschten Ergebnis. Wir brauchen etwas Zwingenderes. Eine Kampagne, die der Kundin einflüstert, das kannst Du kaufen und damit tust Du dir etwas Gutes, reicht heute nicht hin, wir brauchen eine Kampagne, die ihr vermittelt, das musst Du kaufen, um zu überleben in dieser Welt.
Nehmen Sie das Beispiel der Produkte zur Körperhaarentfernung.
Frauen haben inzwischen Angst vor Körperhaaren. Sie finden sie widerlich, unhygienisch. Sie scheuen keine Kosten für die Entfernung. Das ist unser Erfolg. Sicher nicht nur von unserem Konzern allein, aber auch unser Erfolg. Wir haben systematisch daran gearbeitet. Und wir arbeiten weiter daran.
In den eigentlichen Kampagnen zu Enthaarungsmitteln wird das Thema nur am Rand berührt. Wir betonen eher das angenehme Hautgefühl, das Gefühl der Reinheit und die Attraktivität. Aber gleichzeitig liefern wir den Redaktionen der unterschiedlichen Magazine, den Jugendzeitschriften, den Beratungsseiten im Internet, den medizinischen Ratgeberseiten maßgeschneiderte Artikel darüber, wie Mädchen und Frauen mit Körperhaaren leiden, weil sie als unattraktiv und schmutzig wahrgenommen werden und was sie dagegen tun können. Wir geben Tipps für den Bikinisommer am Strand und wir geben implizit, immer nur implizit, denen, die sich nicht die Körperhaare entfernen, die Schuld an ihrer eigenen Ausgrenzung. Dabei ist die Lösung immer nur einen Klick entfernt. Und wir verknüpfen das Thema Körperbehaarung kaum merklich mit den sexuellen Ängsten und den Versagensängsten.
So wird eine erfolgreiche Kampagne gemacht."
Sie machte eine kurze Pause, sie hatte jetzt die volle Aufmerksamkeit, dann fuhr sie fort.
"Die Menschen sind voller Ängste. Die Welt wird als immer unsicherer wahrgenommen. Das ist unser Kapital, das Kapital, auf dem eine gute Produktkampagne aufbauen sollte und das wir ausbauen müssen. Geben Sie den Kundinnen einen Fokus für ihre Ängste, etwas, auf das sie all ihre Verunsicherung projizieren können, und dann weisen Sie ganz nebenbei auf das Produkt als Lösung hin."
Sie sah in die Runde. "Ich warte auf Vorschläge."
Natürlich kam erst mal nichts Sinnvolles. Aber zumindest ein jüngerer Mitarbeiter schien begriffen zu haben, was sie gesagt hatte. Nachdem sie kurz mit dem Leiter der Abteilung gesprochen hatte, sprach sie ihn an. Sie nahm ihn mit zu einer Unterredung. Die Blicke, die ihnen folgten, als sie die Abteilung verließ, kannte sie schon. Solange sie Erfolg hatte, konnte ihr das egal sein.
Sie gingen in eine nahe gelegene Bar und plauderten. Er war intelligent und hatte tatsächlich begriffen, was sie gesagt hatte. Sie sprachen einige Ideen durch. Er war charmant. Sie kannte das.
Für Männer, die ein paar Jahre jünger waren, ging eine unwiderstehliche Anziehungskraft von Frauen aus, die ihnen überlegen waren, eine höhere Position hatten.
Sie blieb distanziert und war doch eindeutig. Für eine Nacht ohne Angstschweiß würde es reichen.
Zur Sitzung am nächsten Morgen kamen sie getrennt an. Er begriff, was die Professionalität von ihm verlangte. Sie hatte das nicht anders erwartet.
Beim Frühstück hatten sie noch eine Idee entwickelt. Sie überließ es ihm, sie vorzustellen.
Zuerst war er etwas unsicher, aber dann machte er seine Sache gut. Er stand auf und hielt eine aktuelle Tageszeitung hoch.
Die Schlagzeile warnte vor der Pferdegrippe. "Wovor haben die Menschen heute am meisten Angst? Lesen wir dazu die Schlagzeilen, schauen wir uns Filme im Kino an oder schauen wir, welche Bücher Bestseller werden.
Viren, Viren und Infektionen, das Fremde, das unerkannt in uns eindringt, uns von innen aushöhlt und unseren Körper übernimmt, gegen uns arbeiten lässt, das sind die zentralen Bilder der Angst der Moderne.
Wie können wir uns das zunutze machen?"
Der junge Mann sah im Kreis die anderen Teilnehmer der Sitzung an, pausierte einen kurzen Augenblick, dann fuhr er fort.
"Der Wirkstoff 'Synam' hilft gegen keinen bekannten Virus. Ich weiß das so gut wie Sie.
Aber was hindert uns daran, einen unbekannten Virus zu postulieren, gegen den nur 'Synam' hilft, als einziger verlässlicher Wirkstoff. Einen Virus, der mit den bekannten Methoden nicht nachgewiesen werden kann und der deshalb um so gefährlicher ist. Kann doch niemand davor sicher sein, bereits zu den Infizierten zu gehören. Ein Virus, der im Verdacht steht verantwortlich zu sein für viele Erkrankungen und Todesfälle, die bisher keiner Ursache eindeutig zugeordnet werden konnten.
Und umfangreiche Schadenersatzprozesse sind ausgeschlossen. Selbst wenn die Unwirksamkeit von 'Synam' nachgewiesen werden würde, wäre es doch nur die Unwirksamkeit bezogen auf einen nichtexistenten Virus. Ein Schaden entsteht dadurch nicht.
Ich denke, dies ist die Lösung unseres Problems."
Die Diskussion verlor sich dann schnell in den Details.
Das war nicht ihre Aufgabe.
Nach der Sitzung hörte sie, wie die junge Kollegin, die einzige andere Frau in der Sitzung, den jungen Mann fragte, ob dies nicht unmoralisch wäre.
Er schüttelte den Kopf.
"Wir geben der Angst der Menschen doch nur ein Gefäß, darin können sie sie sicher verwahren und wir liefern ihnen mit 'Synam' gleich eine Möglichkeit, etwas gegen die Angst zu tun.
Im gewissen Sinn helfen wir den Menschen, mit ihren Ängsten klar zu kommen. Natürlich nicht uneigennützig. Aber auch ein Psychotherapeut lässt sich bezahlen.
Und die katholische Kirche hat sich früher auch die Ablassbriefe bezahlen lassen. Ich finde nichts Unmoralisches daran, den Menschen Erleichterung zu verschaffen."
Sie sah aus dem Fenster, der junge Mann begriff schnell. Er würde sicher bald weiter aufsteigen in der Hierarchie.
Die Informationen über den Virus verbreiteten sich schnell, nachdem sie die ersten Texte verbreitet hatten. Gerade die Nichtnachweisbarkeit des Virus beunruhigte, da keine wissen konnte, ob sie nicht schon infiziert war. Und Todesfälle und Erkrankungen, bei denen die Ursachen nicht wirklich geklärt waren, gab es reichlich. Die Menschen griffen dies begierig auf. Der Konzern unterstützte auch eine Selbsthilfegruppe von Opfern des Virus und ihren Angehörigen, die sich in kurzer Zeit bildete. Immer neue Texte tauchten auf, längst stand hinter den wenigsten der Konzern, ein Selbstläufer.
Der Wirkstoff 'Synam' war nun eines der Topprodukte des Konzerns.
Einige Monate lief alles gut, doch dann kam es in einigen Städten zu Unruhen, da kurzfristig ein Lieferengpass aufgetreten war. Es gab zwei Tote. Langsam wurde die Angst der Menschen vor dem Virus immer irrationaler. Sie vermuteten ihn überall, schließlich war er nicht messbar.
Dann wurde der Wirkstoff 'Synam' von einem angesehenen Fachwissenschaftler in einer Fernsehenthüllungssendung als völlig unnütz bezeichnet. Im Internet machten Berichte die Runde über Menschen, die trotz 'Synam' an unbekannten Ursachen gestorben waren. In einschlägigen Medien wurden die ersten Verdächtigungen laut über eine geheime Verschwörung im Hintergrund, die den Virus absichtlich freigesetzt hätte.
Der Name des Konzerns fiel dabei immer wieder und die Vermutung, dass er zusammen mit dem Wirkstoff 'Synam' entwickelt worden wäre.
Die Panik richtete sich nun zunehmend auf den Konzern. Die Verschwörungstheorien, dass der Konzern den Virus in geheimen Biolaboren entwickelt hätte, um den Wirkstoff 'Synam' besser verkaufen zu können, ergriff immer weitere Kreise und wurde auch in seriösen Medien diskutiert. Die Marketingabteilung versuchte umzusteuern und Beweise für die Nichtexistenz des Virus zu verbreiten. Als dies bekannt wurde, führte dies erst recht dazu, dass die Menschen davon ausgingen, dass der Konzern diesen gefährlichen Virus auf die Menschheit losgelassen hätte und nun alles verharmlosen wollte.
Wie sollten sie beweisen, dass es einen Virus, der nicht existierte, nicht gab?
Dann entführte eine terroristische Gruppe den Aufsichtsratsvorsitzenden des Konzerns.
Der alte Mann saß zitternd vor seinen Entführern auf einem Stuhl. Er war mit Handschellen hinten an die Stuhlbeine gefesselt. Die junge maskierte Frau vor ihm glaubte ihm kein Wort. Ihr kleiner Bruder war aufgrund unbekannter Ursachen erkrankt und dann an einer Gehirnblutung verstorben. Sie schlug den alten Mann mit der Waffe. Sie wollten ein Geständnis. Doch der alte Mann begann nur zu wimmern.
Er wurde von ihnen zum Tode verurteilt. Die Leiche schickten sie in Einzelteilen mit der Post an den Konzern.
Die Panik in der Bevölkerung nahm weiter zu, obwohl Wissenschaftler im Fernsehen darstellten, dass die Anzahl der Todesfälle aufgrund unbekannter Ursachen in den letzten zehn Jahren sogar leicht gefallen war. Die Menschen sahen darin nur den Versuch, die Wahrheit zu vertuschen.
Das Parlament setzte einen Untersuchungsausschuss ein. Mehrere hohe Manager des Konzerns wurden festgenommen.
Die Frau war inzwischen bei einem anderen Konzern beschäftigt. Ihre Rolle bei der Vermarktung des Wirkstoffs 'Synam' hatte sie schon fast vergessen, als der Mord am Aufsichtsratsvorsitzenden über die Bildschirme lief.
Die Menschen waren vollständig wahnsinnig. Wie konnten Menschen so etwas tun?
Ihre Alpträume waren in der letzten Zeit immer schlimmer geworden. Und es hatte sich lange keine Affäre mehr zur Ablenkung ergeben.
Sie nahm an diesem Abend die ganze Röhre Schlaftabletten. Sie konnte die Alpträume nicht mehr ertragen, sie wollte schlafen, einfach schlafen, ohne Angst.
FIN
Yuriko Yushimata
Auch Sie?
Sie halten dies hier für unterhaltsam. Aber wieso hatten Sie dieses koddrige Gefühl vor einigen Tagen? Und die Kopfschmerzen? Und was ist mit den Menschen, die Ihnen nahe sind?
Viren sind überall. Sie nutzen jede Chance.
Morgen vielleicht schon.
Vielleicht hat dieses Buch vorher ein Todkranker berührt, nicht aus Böswilligkeit, nur Zufall.
Ein dummer Zufall.
Vielleicht sind sie schon so gut wie tot.
Das passiert.
Glauben Sie mir.
FIN
Social Fiction / Science Fiction Kurzgeschichten – Y.Yushimata
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Impressum: Paula & Karla Irrliche
Zur Autorin: Yuriko Yushimata
Die französische Linguistin und feministische Philosophin Julia Kristeva hat in ihren frühen Texten ausgeführt, dass das AutorInnensubjekt im Prozess des Schreibens & Lesens eines Textes erzeugt wird und die 'Erfindung der AutorIn' selbst Teil der Textpraxis ist.
Sie bezog sich dabei auf die Theorien Michail Bachtins.
Yuriko Yushimata ist eine in diesem Sinn bewusst konzipierte fiktionale Autorinnenposition.
Sie ist als Distanzsetzung zur Realität entworfen, um auf diese Art und Weise aus einer Position der bewussten Entfremdung über die Realität zu schreiben.
Dies verweist nicht zufällig auf die Methodik der Ethnomethodologie.
Zuletzt aktualisiert 30.06.15
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