2084
Folge 4 Fin - Anarcha IV
Was bisher geschah: Karin Jorzig wurde von ihrem Vater in die Psychiatrie eingewiesen, weil sie versucht hatte
auszubrechen aus ihrer Welt. Dort lernt sie Nina kennen und lieben, beide werden
nach F4 deportiert, einer einsamen Insel. Zusammen mit 47 Mitgefangenen sollen
sie dort den Rest ihres Lebens verbringen. Niemand sonst ist auf der Insel.
Aber eine Frau plant schon lange den Widerstand. Lira hat ein anarchistisches
Retrovirus entwickelt. Bald kommt der Tag an dem sich alles entscheiden wird.
Das Roboterwartungsschiff lag draußen vor Anker. Lira schätzte die
Besatzung auf maximal 7 Mitglieder. Der Versorgungsroboter hatte inzwischen die
Insel erreicht und Lebensmittel und andere Versorgungsgüter abgeladen.
Lira, Karin und Nina hatten sich im Recyclingmüll versteckt. Der Roboter
würde die Müllboxen mit an Bord nehmen - aber was dann?
Karin spürte das Schaukeln beim Transport. Dann ein Gefühl als ob sie
Karussel fahren würde, bis alles plötzlich stoppte. Sie mußten
an Bord angekommen sein.
Ihr Plan war sich auf dem Schiff zu verstecken.
Karin versuchte gerade sich bequemer hinzusetzen, als es plötzlich taghell wurde.
Sicherheitsleute griffen sie.
'Die kommen gleich auf die Insel zurück', das war der Kapitän.
Lira und Nina standen auch mit dem Gesicht zur Wand. Aber Nina lächelte und im
nächsten Moment zerplazte ein Glaskolben mit Virusflüssigkeit. Ein
Sprühregen ging auf die Anwesenden nieder.
Lira drehte sich zum Kapitän, 'Ein Virus, ein sehr wirksamer - ich habe die
Unterlagen dabei, wenn Sie selbst sehen wollen'.
Die Sicherheitsleute wollten die Zentrale informieren, aber der Kapitän lehnte
das vorläufig ab, 'Ich mach mich doch nicht lächerlich.' Die Schiffsärztin sollte zuerst die
Unterlagen prüfen. Die drei Frauen wurden einzeln eingesperrt.
Es dauerte mehrere Stunden. Karin war halb eingeschlafen, als sie die Geräuschen
hörte, als würde ...
Auf einmal ging die Tür auf, es war eine der Leichtmatrosinnen.
'Ich brauche Hilfe, halt das mal.'
'Was wird das?'
'Ich baue einen Drachen, den lasse ich dann am Heck steigen, bei der Fahrt des Schiffes
geht das sicher gut.'
'Was ist mit dem Kapitän?'
'Der hat sich in seiner Kajüte eingesperrt und guckt alte Folgen von Star Treck.'
'Hast Du auch einen Schlüssel für die anderen Sicherheitszellen?
'Liegt da, aber faß erst mal mit an.'
Die ganze Zeit war Karin irgendetwas seltsam vorgekommen, aber erst jetzt begriff sie,
daß es die lila Haare der Matrosin waren, die sie irrietierten. Sie hob
den Schlüssel auf und befreite Nina und Lira.
Als Karin, Nina und Lira an Deck gingen kümmerte sich keine um sie. Die Sicherheitsleute
saßen in einer Ecke und versuchten Stricken zu lernen.
Wieder das Gefühl der Irritation - alle hatten lila Haare. Es gab helles und dunkles,
rotstichiges und grünstichiges lila. Auch sie selbst schien lila Haare zu
bekommen.
Wieso haben auf einmal alle lila Haare?
Lira lachte; Das ist ein Effekt des Virus, die Menschen müssen doch auch bemerken daß
sie an Anarchie erkrankt sind - damit sie wissen, daß sie sich jetzt tun
dürfen, was sie schon immer wollten.
Die Schiffsärztin hatte in einer Kabine einen Raum für besondere
Rauscherfahrung eingerichtet und suchte jetzt ProbandInnen, da sich aber bisher
niemand gefunden hatte, hatte sie offensichtlich einiges im Selbstversuch
getestet.
Der Koch hatte sich in der Küche des Schiffes eingesperrt. Die Schotten waren dicht. Hier
würde kein Virus eindringen. Dann sah er die Schiffskatze, wie sie mitten
zwischen Töpfen auf der Anrichte saß und nach Fleischstückchen
fischte. Als er sie verscheuchen wollte fauchte sie und kippte dann einen der
Töpfe um.
An das Tier hatte er nicht gedacht. Und jetzt bemerkte er auch den lilastichigen Farbton in
ihrem Fell.
Ängstlich zog er sich zurück, horchte in sich hinein, ob auch die Katze den Virus
übertragen konnte. Er fühlte sich seltsam, jetzt war auch alles egal.
Er zog den Kittel aus und tat, was er schon immer hatte ausprobieren wollen. Er versuchte
mit einem Wurf einer Kartoffel alle Konservendosen gleichzeitig aus dem Regal
zu befördern. Die Schotten konnte er jetzt auch wieder öffnen.
Inzwischen kümmerte sich niemand auf dem Schiff mehr um die Routine. Nina und Karin
hatten alle Hände voll zu tun. Während Lira sich vom Koch in der
Kombüse dabei helfen ließ die Retroviren weiterzuvermehren, waren
die beiden damit beschäftigt zu überlegen, wie sie unauffällig
den nächsten Hafen anlaufen könnten.
Der erste Offizier, der gerade einen Joint rauchte, machte nur unsinnige Vorschläge
- Außerirdische melden. Als plötzlich die Maschinen stoppten. Die
Maschinistin hatte beschlossen schwimmen zu gehen, das Wetter war danach.
Nina verlor langsam die Geduld - 'Sauhaufen'.
Karin war völlig begeistert - 'Ist doch toll'.
'Wenn Du auch schwimmen gehst, sind wir geschiedenen Leute.'
Das war ihr erster Streit.
Plötzlich hörten Sie eine Stimme; 'Wartungseinheit 2C4 bitte melden. Was ist bei
Ihnen los sie haben mitten auf ihrer Route gestoppt.'
Beide schwiegen - außer dem ersten Offizier waren sie die einzigen auf der Brücke.
Nina stieß Karin in die Seite - antworte.
'Die Maschinen haben plötzlich gestoppt.'
'Wissen Sie weshalb?'
'Ja, die Hitze - aber die Maschinistin wird sie wieder in Gang setzen.'
'Laufen Sie trotzdem vorsichtshalber den nächsten Hafen an. Wir schicken ihnen einen
Schlepper entgegen.'
Die Schiffskatze war jetzt wunderschön lila violett gescheckt, Karin fragte
sich, ob das lila auch auf andere Tierarten übertragen würde, lila
Möwen, lila Fische - irgendwann würde es vielleicht etwas
eintönig.
Im Hafen konnten Lira, Karin und Nina unbemerkt im Chaos das die Mannschaft
auslöste untertauchen. Sie brauchten unbedingt eine unauffällige
Kopfbedeckung. Nina klaute ihnen Fahrräder und Fahradhelme, so waren die
Haare kaum zu sehen.
Vielleicht hatte die Polizei schon Hinweise auf lila gefärbte Haare bekommen.
Sie fügten die Viren an unterschiedlichen Stellen dem Trinkwasser zu.
Dann tauchten sie in einem leerstehen Gebäude unter.
10 Stunden später informierten Lira die Medien.
Als die erste Warnung kam, war es zu spät - auch die Ausgangssperre kümmerte keine
mehr. Zuerst versuchten die Sicherheitskräfte noch alle Personen mit lila
Haaren zu isolieren, aber als auch die Katzen und Hunde als
Überträger kenntlich wurden brach das System zusammen. Alle hatten
irgendwann im Laufe des Tages Wasser getrunken. Kurz nach den ersten Meldungen
setzten auch die Wirkungen massenhaft ein. Vielen Leuten schienen die Anweisungen völlig egal.
Und nach jeder weiteren Meldung in den Medien verbreitete sich der Virus rasant. Die
Offiziellen verließen panikartig diesen Teil des Landes, aber wo immer
sie hinkamen, Anarcha IV breitete sich auch dort schon aus.
Einige Infizierte hatten sich offensichtlich die Haare gefärbt um
unauffällig in andere Landesteile eindringen zu können. Auch eine
kurzfristige Verordnung zur Beschlagnahmung aller Haarfärbemittel kam zu
spät.
Der Vetreter Hartmut F. fuhr an diesem Tag seine übliche Route. Das Radio hatte er
nicht eingeschaltet, so daß er vom Virus nichts erfuhr. Wie immer hielt
er sich bei den Ortsdurchfahrten nicht an Geschwindigkeitsbegrenzungen. Die
Autowracks vor sich sah er gerade noch rechtzeitig um Bremsen zu können.
Zu sehen war niemand. Als er Ausstieg stürzte eine Horde Kinder an ihm
vorbei. Mit lila Haaren, das schien eine neue Mode zu sein. Von seinem Auto
ließen sie nur eine verbeulte Karosserie übrig. Zwei der anderen
AutofahrerInnen fand er an Bäume gefesselt und mit Wachsmalkreide bemalt.
Als Herr H. nach Hause kam mußte er feststellen, daß seine Frau zum Mittagessen
seine Kakteen gedünstet hatte. Sie trug eine Perücke. Und auf seinem
Lieblingsssessel lag sein lilafarbener Schäferhund.
Eva Meyer war gerade 57 geworden . Sie maß jeden Morgen mit dem MediDock A ihre
Körperfunktionen um festzustellen, ob sie auch gesund war. Zwar
fühlte sie sich heute hervorragend, aber das Gerät zeigte bedenkliche
Werte. Eva Meyer beschloß alle Termine abzusagen und nahm einige
Tabletten.
Als ihre Tochter kam ging es Eva Meyer bereits sehr viel schlechter - die lila Haarfarbe
ihrer Tochter fand sie recht unpassend. Aber ihre Tochter würde schon
wissen, was modisch war.
Erst als die Tochter sich über die Meßwerte des MediDock A halb kaputt lachte,
wurde sie mißtrauisch. Als ihre Tochter das Gerät aus Spaß
ausprobierte waren die Meßwerte eindeutig; Ihre Tochter war tod.
Als sie dann im Spiegel bemerkte, daß sich auch ihre Haare lila färbten, war sich
Eva Meyer sicher, die einzige logische Schlußfolgerung war; Sie war auch
tod, sie hatte alles hinter sich, dies mußte das Jenseits sein.
Endlich konnte sie tun, was sie schon immer wollte.
Als erstes schmiß sie den MediDock A aus dem Fenster.
Karin, Nina und Lira saßen im Restaurant, ihre Getränke mußten sie sich selber
holen, die Bedienung sonnte sich auf der Straße, alle verfolgten die
Vorgänge auf dem Drei-D-Schirm. Die Reporterin, die sich die Freiheit nahm
zwischendurch immer mal wieder von der Schwierigkeit des Verhältnisses zu
ihrer Großmutter zu erzählen, machte es nicht einfacher, den ohnehin
seltsamen Berichten zu folgen. Ein Kameramann filmte immer nur die Füße.
Karin fand das nicht uninteressant. Wenigsten einmal keine lila Haare, obwohl
auch der Haarflaum auf den Beinen leicht lila schimmerte, sie fand das doch
noch gewöhnungsbedürftig. Außerdem war sowieso alles (un)klar,
es gab Meldungen aus New York, Peking, Leningrad, Madagaskar und Tutlingen -
alles in lila. Der Virus war überall.
Impressum: Paula & Karla Irrliche
Zuletzt aktualisiert 30.10.14
Medizin, Zukunft. 2084 - Ein feministischer Science Fiction von Carlotta - über; - Biotechnologie Biopolitik Kontrolle Norm Normalisierung Macht Biomacht Gewalt Repression Widerstand Feminismus Michel Foucault
Lira und Nina stießen an, nur Karin sah unglücklich aus. Lira berührte sie;
'Was ist?'
'Dann hatten die GenetikerInnen also doch recht - es funktioniert.'
'Was?'
'Die
Gentechnik.'
'Nein - wieso?'
'Du siehst doch eine kleine genetische Veränderung und die Welt wird unregierbar. Du
hast das Virus doch selbst entwickelt.'
'Das liegt nicht an den Genen.'
'Aber das Virus, sonst wäre ...'
'Nicht das Virus ist entscheidend, nur das Alle daran glauben, auch die Herrschenden. Alle
glauben auf einmal das die Verhältnisse sich ändern - das ist es. Und
keine fühlt sich schuldig, wenn sie Dinge tut, die sie schon immer wollte
- schließlich liegt es ja am Virus, nicht? - Das einzige was dieses Virus
wirklich bewirkt ist eine dauerhafte Veränderung der Haarfarbe. Das Virus
ist nur die passende Ausrede für die Revolution.'
'Ja, und der Polizist vorhin - auf einmal hat er seine Uniform ausgezogen und ist dann im
Unterzeug auf dem Polizeiwagen rumgehüpft.'
'Das hat er sich vorher nur nicht getraut.'
'Ja, aber ...'
'Ja, aber was? Wie sieht die Wirkung bei Dir aus, merkst Du schon was?'
--
'Meine Haare sind lila.'
'Und sonst?'
'Es wird Frühling.'
FIN
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