Datenschreine - Facebook, Google & Co - und der Glaube an die Berechenbarkeit der Menschen
Zu Beginn des 20ten Jahrhunderts war die Rassenlehre anerkannter Teil der aufklärerischen Natur- und Gesellschaftswissenschaften - sie war 'Stand der Forschung' in den westlichen Wissenschaften, in den USA und Europa -. Ausgangspunkt dieser Wissenschaft war die Vermessung des Menschen, die Anthropologie. Selbst Max Weber, einer der wichtigsten Soziologen der Zeit, sah sich genötigt im Vorwort des Buches 'Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus' positiv Bezug auf die Rassenlehre zu nehmen und sich quasi dafür zu entschuldigen, dass er diese wichtige Wissenschaft in seiner Theorie nicht ausreichend berücksichtigt.
Die Gefahr der Rassenlehre liegt in ihrer ideologischen Wirkung, darin dass Menschen sie durch gesellschaftliche Setzungen als 'Self Fulfilling Prophety' wirklich werden lassen. Die Gefahr liegt nicht in ihren biologischen Missbrauchsmöglichkeiten - der Züchtung von Superrassen u.a. -, da diese eine rein irreale Fiktion sind. Die Gefahr liegt also darin, dass Menschen dieser Wissenschaft Glauben schenken und damit gesellschaftliche Gewaltverhältnisse legitimiert werden .
Nun ist die Rassenlehre kein Einzelfall, kein einmaliges Missgeschick der aufgeklärten Wissenschaft. Im Gegenteil: Naturwissenschaft und die technische Erfassung der Welt, insbesondere die Vermessung des Menschen, sind von ihrem Fundament her immer auch schon säkularisierter Ersatz für die Religion. Sie wurden als Konkurrenzideologie konzipiert und konnten sich nur dadurch gegen die protestantische und katholische Konkurrenz durchsetzen. Das heißt sie waren und sind auch Instrument der ideologischen Absicherung der Herrschaftsverhältnisse. Dies bedeutet, dass Aufklärung und Antiaufklärung - die kritische Hinterfragung alter Ideologien und ihrer 'Wahrheiten' und die Produktion neuer Ideologien und ihrer 'Wahrheiten' - in den Naturwissenschaften und der technischen Durchdringung der Welt fast untrennbar miteinander verknüpft sind.
In den 50er und 60er Jahren gab es, ausgelöst durch die Erfahrung des Nationalsozialismus, eine kritische Auseinandersetzung mit dieser Form verkürzter Rationalität der modernen Wissenschaften. In Deutschland sind hier die kritische Theorie und die wissenschafts- und technikkritische Basisbewegung der 70er und 80er Jahre zu nennen.
Heute ca. 40 Jahre später scheint dieses Wissen auch innerhalb der Linken vergessen zu sein. Die Linke wiederholt die Fehler, die schon einmal auch von ihr zu Beginn des 20ten Jahrhunderts gemacht wurden - z.B. in der Welterklärung eines Ernst Heckel, den eugenischen Diskursen vieler Sozialreformer oder der technokratisch-behavioristischen Erziehungsutopie des 'neuen Menschen' des Sozialismus -. Auch heute wieder reproduzieren viele Linke unkritisch den Glauben an den 'Stand der Forschung' der modernen Menschenvermessung.
Beide, die Rassenbiologie und die Anthropologie des beginnenden 20ten Jahrhunderts, finden heute ihre Wiederaufnahme in neuer Form.
Das Menschenbild der Rassenbiologie wird modern individualisiert, aber nicht weniger irreal entsubjektivierend und repressiv kategorisierend, in der Neurologie und der Genetik ideologisch reproduziert. Die Irrationalität, genauer: verkürzte Rationalität, dieser Wissenschaften vom Menschen, die gerne auch marketing-gerecht als Lebenswissenschaften bezeichnet werden, darzustellen, würde den Rahmen dieses Textes sprengen. Ich kann hier nur auf andere Texte und Texthinweise auf ak-anna.org verweisen. In diesem Text will ich nun nur auf die moderne Form der technischen Vermessung des Menschen eingehen.
Diese moderne Variante der historischen kolonialistischen und rassenbiologischen Erfassung des Menschen kommt ebenfalls postmodern individualisiert daher und verknüpft sich mit den Namen Facebook, Apple, Amazon, Google, der NSA u.a.. Dies sind die Akteure einer modernisierten technokratischen Vermessung des Menschen. Und wie bei der Anthropologie 100 Jahre zuvor liegt das Problem nicht in konkreten Missbrauchsmöglichkeiten, diese sind vergleichbar irreal wie die der Rassenvermessungen des Kolonialismus, sondern in ihrer ideologischen Funktion für die Legitimierung eines technokratisch Menschenbildes, der bestehenden Herrschaftsverhältnisse und ihrer neoliberalen Zuspitzung.
Der Glaube, das Subjekt wäre erfassbar und berechenbar, falls ich dazu nur ausreichend Daten sammle, folgt dabei der gleichen verkürzt rationalen Logik, die im 19ten/20ten Jahrhundert dazu gedient hat, die Vernichtungsmaschinerie des NS, den Kolonialismus und Pol Pots Menschenschlächterei zu legitimieren. Dies will ich im folgen weiter ausführen.
- Nicht die Datensammlungen sind das Problem sondern der Glaube der Menschen daran, dass diese Daten Relevantes über ein Subjekt aussagen und der Glaube, dass die Menschen auf Grund der Daten berechenbar werden.
Daten sind kein Wissen. Wer kennt nicht die Persönlichkeitstests, die Rankings, IQ-Tests, die modularen Creditpoint-Systeme moderner Universitäten, Multiple-Choice-Tests und die klassischen Schulnoten oder auch die Hochschultitel (Ein Hochschulrektor wird übrigens korrekt mit Seine Magnifizenz angeredet). Was werfen AnarchistInnen heute für Drogen ein, die sie dazu bringen, derartige Absurditäten auf einmal als sinnvolle Bewertungsmaßstäbe für Menschen anzuerkennen? Grundsätzlich funktionieren die Auswertungssysteme moderner Datenverarbeitungsmaschinen - 'Supercomputer' :) - nach strukturell vergleichbaren Mustern. Sie verarbeiten nur mehr Daten. Weder die einzelne/der einzelne Mensch noch die Welt als gesamtes ist aber auf Formalisierung reduzierbar.
Darüber hinaus sprengt selbst der formalisierbare Anteil der Welt immer noch jede Rechendimension. Bis heute ist es nicht einmal möglich, die bisher bekannten formal erfassten Wechselwirkungen innerhalb einer einzelnen Körperzelle mit Hilfe der zusammengeschalteten Rechenleistung aller 'Supercomputer' der Welt ohne vorherige drastische Vereinfachung virtuell abzubilden. Und dies wird auch bei exponentieller Steigerung der Rechenleistung in absehbarer Zeit nicht möglich sein.
Angesichts dieser Realität zu behaupten, es wäre möglich auf Grund von Daten mit Hilfe von Rechenverfahren Relevantes über einen Menschen auszusagen, ist einfach abstrus.
- Die Gefahr liegt darin, dass die moderne Vermessung des Menschen dazu genutzt wird, die bestehenden Herrschaftsverhältnisse zu legitimieren und weiter zu verschärfen.
Nicht zufällig gleichen sich die Systeme der Menschenbewertung und der Warenverwaltung. Bei vielen Hochschulmanagementsystemen handelt es sich um modifizierte Datenbanksysteme aus dem Ressourcenmanagement kapitalistischer Großbetriebe, z.B. SAP. Die im Hintergrund von Apple, Google usw. rechnenden Maschinen funktionieren nicht wesentlich anders.
Dass der Mensch im Kapitalismus selbst zur Ware - modern Humanressource genannt - reduziert wird, ist bekannt, erlebt heute aber einen neuen Höhepunkt, im Vokabular des Self-Marketing, in der Art der technischen Erfassung und in den Bewertungsschemata. Die Wertzuordnung, Klassifizierung und Verwaltung des Subjekts über die Datenmaschinerie wird dabei als Teil herrschaftsförmiger Gewalt wirklichkeitssetzend und bildet in diesem Sinn eine Realität/Wahrheit ab, die sie selbst schafft. Das Subjekt ist in der entfremdeten Warenwelt gezwungen sich mit diesen Verhältnissen zu arrangieren. Postmodern soll es dies 'freiwillig' als Selbstzurichtung - Selbstoptimierung - für die kapitalistische Verwertung immer mit einem Lächeln auf den Lippen leisten. Der Coach steht bereit, es bei dieser Selbstunterwerfung zu unterstützen. Wie die tanzenden Schwarzen - die 'lachenden Neger' - der Vergangenheit, soll es sich die entfremdete Zuordnung zu eigen machen, unter Androhung des völligen Marktausschlusses beim Versagen. Lern' Dich mit Facebook zu verkaufen.
Die Reduzierung des Subjekts auf einen Datenstring ist wirklichkeitsbestimmend, vergleichbar der Rassenbiologie - und vergleichbar der Bewertung am Aktienmarkt durch die Ratingagenturen. Solange alle sich danach richten, ist dies trotz völliger Idiotie fast unhintergehbar auf Grund der Machtwirkung. Erfahrbar als reale Gewalt - das sagt aber nichts über die Rationalität/Wahrheit dieses Reduktionismus aus, nur über seine ideologische Wirksamkeit.
Und wenn einige hier nun einwenden, diese Daten sagen doch aber ganz viel - über mich/dich - aus, dann zeigt dies aus meiner Sicht nur, wie weit diese ideologische Verstellung bereits in ihren Alltag eingedrungen ist, ihre Wahrnehmung überformt hat. Nicht die Daten sagen etwas aus, sondern Wissen entsteht durch die menschlich Erkenntnisfähigkeit. Als Mensch kann ich Daten interpretieren, dadurch erzeuge ich Wissen. Rechenmaschinen können aus Daten nur neue Daten erzeugen. Der Glaube an den Formalismus der Rechenmaschinen zeigt nur die fatale Wirksamkeit dieses Kernbestandteils der neoliberal technokratischen Ideologie: Den Glauben daran, dass es seine Ordnung hat, Menschen formal zu sortieren - und dies heißt immer auch einen Teil der Menschen auszusortieren.
Im 20ten Jahrhundert waren auch rassenbiologische 'Wahrheiten' ähnlich weit in der Bevölkerung einschließlich von Teilen der Linken verankert und ebenso auch sexistische 'Wahrheiten' über Männer und Frauen.
- Für die Subjekte ist die Ideologie der Berechenbarkeit des Menschen in Zeiten allgemeiner Verunsicherung als Halt ähnlich verlockend wie der islamische oder christliche Fundamentalismus. Auch die Selbstverortung über die eigenen Daten liefert einfache Antworten, Scheinsicherheit in Zeiten neoliberaler Zerstörung des sozialen Gefüges der Gesellschaften. Die Selbstvermessung ist nur eine andere Form, den Rosenkranz zu beten und kritische Selbsthinterfragung zu vermeiden, sie zu ersetzen durch die Antworten der großen Rechenmaschine.
Hier kann Mann/Frau die (Selbst)Kontrollphantasien voll ausleben, wenn sonst schon alles außer Kontrolle gerät. Die Datenbeichte ersetzt den Gang zum Priester.
Die verkürzte technokratische Logik ist aber in nichts weniger gefährlich als der Irrglauben fundamentalistischer Eiferer.
Ein Beispiel aus einem anderen Bereich, das einer ähnlich verkürzten Logik folgt: Es gibt immer mal wieder die Diskussion über das Klonen von Menschen. Wenn ich unter Menschen konkrete Subjekte verstehe, ist es aber trivial, dass diese nicht klonbar sind, da Subjektivität nicht biologisch determiniert ist, sondern die Ichkonstitution in einem komplexen Prozess im Leben stattfindet und permanent weiter stattfindet, in Form von Umschriften usw.. Die Wissenschaften die diese Prozesse fassen sind Psychoanalyse, Philosophie, Soziologie, u.a.. Die Biologie (d.h. auch die Neurologie) hat hier so gut wie keine Bedeutung. Die Biologie (heute meist in ihrer Form der Neurologie) wird hier aber trotzdem häufig eingesetzt und mit erheblichen propagandistischen Aufwand dazu genutzt ein deterministisches Subjektbild im Sinne des Neoliberalismus durchzusetzen, das Menschen auf Biomaschinen reduziert. Wenn ich nun im Zuge der Kritik an der Genetik, den Begriff der Klonbarkeit (von Menschen und im biologistischen Diskurs eben damit auch von Subjekten), ohne ihn zu kritisieren, benutze, übernehme ich damit auch die boiologistische Ideologie, die der Rede von der Klonbarkeit von Menschen (im Sinne der Klonbarkeit von Subjekten) zu Grunde liegt.
Der Datendeterminismus, der behauptet, das Menschen auf Grund von Daten durch binär kodierbare Algorythmen (Computer basieren ausschließlich auf binärer Logik, und seien sie noch so komplex, sie bleiben der binären Logik verhaftet) vorausberechenbar seien, ist einem ganz ähnlichen Menschenbild und vergleichbaren ideologoischen neoliberalen Interessen verpflichtet (größtenteils sogar den selben - siehe z.B. das 'Human Brain Project' der EU).
Naturwissenschaft und das technische Weltbild sind nicht nur konkrete Anwendung, sie sind vor allem auch die Religion der Moderne und als solche die zentralen Ideologie produzierenden Instanzen des kapitalistischen Systems. Insofern muss ich immer eine Ideologiekritik mit denken, wenn ich über Naturwissenschaft und Technik schreibe, insbesondere bei Technik die auf den Menschen bezogen ist und behauptet Aussagen über diesen zu treffen. Notwendig ist eine Ideologie kritische Position, die den Mythos des berechenbaren Menschen (Und damit eine der zentralen Ideologien des modernen Neoliberalismus) nicht duplizierst.
Das heißt, vergleichbar den GenkritikerInnen, die unkritisch den Begriff der Klonbarkeit von Menschen übernehmen, z.B. um dieses Klonen dann mit großem ethischem TamTam zu verwerfen, und die damit ohne es zu merken bereits die Ideologie der Genetik selbst übernommen haben, d.h. als GegnerInnen diese Ideologie duplizieren, werfe ich der überwiegenden Mehrheit der GegnerInnen der Überwachungstechnik vor, durch die unkritische Übernahme ihrer technologischen Behauptungen, die Ideologie der Überwachungstechnologie zu reproduzieren. Und damit einen wesentlichen Teil der Funktion dieser Technologie für die Herrschenden - nämlich ihre ideologische, die Durchsetzung eines spezifischen Menschenbildes, des Datendeterminismus - selbst mit zu transportieren.
Es gilt hier und heute, dem Glauben an die Berechenbarkeit des Menschen entgegen zu treten. Ob wir Facebook nutzen oder nicht, ob unsere Daten gesammelt werden oder nicht, ist im Verhältnis dazu von nachgeordneter Bedeutung.
Jörg Djuren, überarbeitete Textfassung - Juni 2015
(Erstveröffentlichung - graswurzelrevolution 397 - Münster, März 2015)
Kurze Texte zur Kritik aktueller politischer Verhältnisse - J.Djuren
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Impressum: Paula & Karla Irrliche
Zuletzt aktualisiert 30.06.15
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