J.Djuren


Der Kapitalismus zählt seine Toten nicht

 

 

"Man kann nicht umhin, erst einmal die Gewaltförmigkeit dieser Gesellschaft nachzuzeichnen, die sich noch im Gewaltvorwurf gegenüber der Studentenrevolte nicht unwirksam verschleiert. Nicht einmal Wohlmeinende und Kluge haben verstanden, dass angesichts der geschichtlichen Lage und der Entstellung oder Verkehrung unserer zwischenmenschlichen Beziehungen der Friede nur als unversöhnlicher über uns kommen kann, dass er den Frieden der Unterdrückung als Kirchhofsruhe unfriedlich aufkündigen muss." (Peter Brückner, Frankfurt 1972 - Prof. P. Brückner wurde in den 70er Jahren aufgrund seines politischen Engagement vom Dienst an der Universität Hannover suspendiert und erhielt Hausverbot um den Kontakt mit den StudentInnen zu erschweren.)

 

Im folgenden will ich einige Überlegungen zu aktuellen Macht- und Gewaltverhältnissen aus der Sicht eines gewaltfreien Anarchismus zur Diskussion stellen. Ausgangspunkt meines Nachdenkens waren einige Alltagsbeobachtungen, die ich hier kurz darstellen möchte.

 

Impressionen

 

1

Im Fernsehen läuft ein Bericht über die Ausweitung der Kameraüberwachung. In Großbrittanien werden Innenstädte flächendeckend überwacht. In den USA überwachen Eltern via Internet und Videokameras ihre Kinder im Kindergarten.

In Hannover freut sich die Hannoversche Allgemeine Zeitung mit der Bevölkerung über neueste technische Errungenschaften, die in den nächsten Jahren in hannoverschen Straßen- und U-Bahnen zum Einsatz kommen sollen. Die neu in allen Waggons installierten digitalen Fernsehbildschirme sollen dann auch als Überwachungskameras eingesetzt werden können.

Die neuen HeldInnen spielen bei Big Brother usw. mit.

Bei RTL lacht währenddessen das Publikum über 'Kurzfilme', die bei der Videobespitzelung abhängig Beschäftigter durch ihre Firmen enstanden sind. Menschen werden als arbeitsschue und dumme BetrügerInnen ausgestellt, und die Menschen vor dem Bildschirm klatschen dazu - Entsolidarisierung und die Konstruktion der Anderen, Sozialrassismus beginnt im Wohnzimmer.

 

2

EXPO-Stadt Hannover, zukunftsweisend. Die SoKo Grafitti arbeitet jetzt auch mit dem Bundesgrenzschutz zusammen. Die Gegenkandidatin des Bürgermeisters kandidiert als Putzfrau verkleidet, ausfegen will sie Schwulencafés und Bettler. Auf den neugestalteten Plätzen der Innenstadt wurde auf Bänke bewußt verzichtet, der Rasen wurde durch Pflaster ersetzt. Straßencafés werden großzügig genehmigt. Wildes Plakatieren wird wieder schärfer verfolgt, die alten Flächen werden nun privat vermietet. Das Recht dafür wurde an die Stadtreklame kostenlos abgegeben, sie mußte sich nur verpflichten im Umfeld alle Plakate abzureißen. Für die Sauberkeit setzt die Stadt auch gerne Soziahilfeempfänger in Zwangsarbeit ein. Auch der Bahnhof wurde neu gestaltet, teils mit öffentlichen Geldern. Öffentlich ist er nicht. Die Vorzeigelinke der Grünen, die in der Stadt mitregieren, meint, man müsse überlegen, wieviel Punker auf der Vortreppe des Bahnhofes noch erträglich seien.

 

3

Im Wendland in einem alternativen Tagungshaus mit Kamin wird uns das Rauchen strengstens untersagt. Die Frau Mutter Großbürgerin ist stolz darauf wahrscheinlich auch Deutsche zu sein. Auch die Bücher bitte nicht anfassen. Wir fahren sofort weiter. Bei einer Demo spricht eine der Rednerinnen von den Indianern, die noch instinktiv wüßten, das AKWs schlecht sind.

Die meisten meiner Bekannten teilen die Ablehnung der Atomenergie, bei der Informationstechnologie wird es schon komplizierter, die medizinische Normierung aber treiben sie selbst aktiv mit voran. Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper. Neue vorgeburtliche Untersuchungen werden nach kurzer Zeit so alltäglich, das fast alle sie durchführen lassen. Krüppel sind nicht erwünscht.

Marieluise Fleißer schrieb 1930/31 den Roman 'Eine Zierde für den Verein' vom 'Rauchen, Sporteln, Lieben und Verkaufen', eine Analyse des präfaschistischen KleinbürgerInnentums. Die Handlung spielt in den 20er Jahren; Eine Frau Anfang 30, die Selbstständigkeit sucht, ist in einer Kleinstadt Außenseiterin. Das Rauchen ist auch damals schon ein Symbol der Unschicklichkeit, ihrer "ungesunden" und "jüdischen" Anormalität. Die kommenden Faschisten stehen auf der Seite der Gesundheit, des (Leistungs)sports und des Verkaufens. Auch da, - ein gesunder Geist in einem gesunden Körper. Und ein "gesunder" weiblicher Körper hat auch noch weitere soziale Normen zu erfüllen.

60 Jahe später schreibt ein Firmenchef und selbsternannter Ernährungsberater, wie häßlich und unappettitlich die Haut seiner jungen Arbeiterinnen durch das Rauchen würde.

Auch viele linke Utopien beinhalten die Norm gesunder Körper. Das Ideal der Krankheitsfreiheit ist aber ebenso faschistoid wie das der Drogenfreiheit.

Ich habe übrigens noch nie geraucht.

 

4

Seit ca. 20 Jahren werden die Studienbedingungen kontinuierlich wieder verschärft. Immer mehr Klausuren, immer mehr Verschulung. Das Gleiche gilt für die Zerschlagung der Oberstufenreform an den Schulen. Seit ca. 20 Jahren beschwert sich die Industrie über ein immer weiter sinkendes Niveau der Ausbildung. Dabei betreiben sie Zerstörung der Allgemeinbildung selbst.

Demnächst wird es wohl flächendeckend Studiengebühren geben. Bildung und Wissenschaft werden vollständig käuflich, soweit sie es nicht schon sind.

 

 

Betrachte ich diese Beispiele und die Gesetzesentwicklung (z.B. Polizeigesetze / AusländerInnengesetzgebung / Demonstrationsrecht) läßt sich für die letzten 20 Jahre in vielen Bereichen eine massive Verschärfung der innenpolitischen Repression feststellen. Zumindest wenn ich auch die alltäglichen 'kleinen' Zwangsverhältnisse, die Verschlechterung der Arbeitsmarktlage, den Zwang zu immer weitergehender Optimierung der eigenen Funktionalität, die Verschärfung der Aussehens- und Körpernormen, die Renaisance der Familie als Zwangsverhältnis, den Zwang keine Zeit zu 'vergeuden' - sei es für linke Politik oder auch nur zum Schlafen, usw. wahrnehme, läßt sich sagen, das Staat und Gesellschaft vor 20 Jahren in vielem bei weitem nicht so repressiv waren wie heute. Trotzdem wird diese Repression von erheblichen Teilen der Bevölkerung offensichtlich als neue Freizügigkeit des anything goes wahrgenommen. Absurd deutlich wird diese Logik an der Politik des: Weniger Staat und Mehr Polizei.

Damit komme ich zur Gewaltfrage. Wie sind Gewalt und Herrschaft heute organisiert, was macht ihre Unsichtbarkeit für viele aus?

 

Zuerst etwas zu meinem Gewaltbegriff. Ich halte die Fokussierung auf körperliche Gewalt für falsch. Dies ist für viele zweifelsohne Konsens, aber nicht trivial. So ist es z.B. eine Verharmlosung struktureller Gewalt, wenn ich Autonome, die Steine schmeißen, angreife, selbst aber gerichtliche Mittel nutze. Die Justiz und die Staatliche Ordnung stellt für mich eine sehr viel brutalere und brachialere Gewalt dar als z.B. die RAF. Z.B. starben allein an den Außengrenzen der BRD von 1993 - 1999 mehr als 100 Flüchtlinge. Berücksichtigte ich die Gewalt im Gefängnisssystem, in den Psychiatrien u.a. wird dies noch deulicher. Wichtig ist aber noch darüber hinaus, die Gewalttätigkeit eines Systems zu begreifen, das nur selektiv Lebenschancen zuteilt. Der Kapitalismus zeigt sich vor allem dort in seiner Gewalttätigkeit, wo er gar nichts zu tun scheint, eben dort, wo Menschen verelenden, verhungern oder auch 'nur' sich zu miesesten Bedingungen verkaufen müssen.

Aber auch die gesellschaftliche Alltagsgewalt, z.B. die sexistische Repression, hat eine Dimension, dergegenüber alle Widerstandshandlungen als fast gewaltfrei erscheinen. Und auch die Alltagsgewalt ist nicht primär eine Form der körperlichen Gewalt. Auch sie ist vor allem eine Gewalt, die unangepasst sich verhaltenden Menschen, z.B. Frauen und Mädchen, die sich nicht rollenkonform verhalten, die Lebensmöglichkeiten beschneidet, bzw. vollständig entzieht.

Wenn aus dem BürgerInnentum Gewaltfreiheit als Erlösungsvision gepredigt wird, dann ist dies fast immer mit einer massiven Verharmlosung nichtkörperlicher Gewalt verbunden. Es hilft den Kindern nur sehr bedingt, wenn sie nicht mehr geschlagen werden dürfen, aber eine schwarze Pädagogik der Drohungen mit Liebesentzug und des Schürens von Versagensängsten gleichzeitig ausgeweitet wird. Wenn die Leistung zum Maßstab des Menschseins wird.

Diese Formen selektiver Gewalt haben als eine Form des totalitären Humanismus eine doppelte Funktion. Sie schließen einen Teil der Menschen aus, und sie dienen gleichzeitig als identitätsstiftende Funktionen für die, die es geschafft haben, den Selektionskriterien zu genügen. Toleranz wird zur repressiven Toleranz.

 

 

Die Eltern schlugen das Kind nie - sie ließen ihm alle Freiheiten - ihrem Kind.

Wunschkind.

'Dich hat der Weihnachtsmann gebracht.' - Ein Streicheln über den Kopf, kurz an die Wange gedrückt.

'Du mußt nicht zum Musikunterricht. Du mußt nicht noch abends lernen.

Du mußt nicht Geburtstag feiern. Du mußt nicht mit uns essen.'

Aber das Kind wußte ja - die Arbeitslosigkeit, der Abschluß, die Arbeitslosigkeit, die Anderen. 'Willst Du denn keinen Freund/keine Freundin?

Wir lieben Dich.

Liebst Du uns.'

Das Kind mußte ja selber wissen, wie es am besten zurechtkam.

 

Als das Kind 11 Jahre alt wurde, schnürte es sein Bündel

und trat aus dem Spiegel heraus.

 

 

Das Ziel bürgerlicher Herrschaft ist, diesen Austritt aus dem Spiegel zu unterbinden. Die Kinder sollen durch ihre Leistung das Ansehen der Eltern erhöhen, sie sollen sie spiegeln. Dabei wird die eigene Schicht reproduziert.

 

Komme ich auf mein erstes Beispiel in den Impressionen zurück. Die Kameraüberwachung stellt in diesem Sinn nicht so sehr eine Gewalt der alten Form dar, also des direkten repressiven Zwanges, als vielmehr ein Mittel der Selektion. Überwacht werden vor allem die Aufenhaltsorte der Mittel- und Oberklasse. Die Slums werden nicht kameraüberwacht, es sei denn sie sollen aufgewertet und yuppisiert werden. Es geht darum, den Zugang zu kontrollieren, zu selektieren. Die Kamera wird auf diese Weise zukünftig zu einem Statussymbol. Welche/Wer was auf sich hält wird überwacht. Das neue bürgerliche Subjekt, das hier ensteht, definiert sich geradezu darüber, daß es sich permanent unter Beobachtung weiß. Dies ist vielleicht die eigentliche Aussage von Serien wie Big Brother. Die souveräne Bürgerin/der souveräne Bürger der Zukunft zeichnet sich offensichtlich dadurch aus, daß sie auch unter Dauerbeobachtung völlig unauffälig und souverän agiert. Und Zlatko gibt den neuen Typus des ursprünglichen Wilden Rousseaus.

Wieso sollte sie/er es unter diesen Bedingungen noch als Repression wahrnehmen?

 

Das heißt, ich behaupte, daß die in den aufgeführten Beispielen dargestellten Gewaltverhältnisse vor allem selektiv auf den Bürger/die Bürgerin selbst gerichtet sind. Nähmlich als Selektionsmechanismen, mit denen diese sich sozialrassitisch abgrenzen können. Sie stellen also die neuen Identitätsraster einer sich wieder stärker formierenden Herrschaftsschicht dar.

 

Ich will dies auch anhand der anderen Beispiele etwas ausführen.

 

So kann ich mir z.B. nicht vorstellen, daß teure Anwendungen der Gentechnik tatsächlich für alle Menschen gedacht sind. Ich würde viel eher davon ausgehen, daß diese im Zuge der Privatisierung von Krankenkassen und erst recht international auf die Mittel- und Oberschichten zielen. Daß sich hier, z.B. mit der In Vitro Vertilisation und Präimplantationsgenetik, ein neues Raster der Sexualität für eben diese Schichten herauskristallisiert, mit denen sie sich dann von der Unterschicht, die sich ja immer noch, wie die Tiere fortpflanzen würden, abgrenzen könnten. Das heißt In Vitro könnte das neue Sexualitätsdispositiv eines neu/alten BürgerInnentums werden. Als Fortsetzung der leib- und frauenfeindlichen Sexualdisziplinierung, die bisher dem Bürger als Indentitätsraster gedient hat, wäre dies nur konsequent. Einhergehen würde dies dann mit einem entsprechenden Körper und Gesundheitsstyling. Rauchen ist ja bereits heute ein Unterschichtphänomen - laut Sozialstatistik. Gesunde, disziplinierte, leistungsvitale Angestellte rauchen nicht - sie joggen.

 

Im städtischen Raum ist die Selektion so offensichtlich und ausgiebig diskutiert, daß ich sie hier wohl nicht weiter ausführen muß. Yuppiecity ist halt für sie und nicht für alle.

 

Auch im Bildungsbereich ist die primäre Funktion des Schul- und Universitätssystems zur sozialrassistischen Reproduktion sozialer Schichtungen ausführlich bereits in den 60er Jahren dargelegt worden, z.B. von Ivan Illich in seinem Buch 'Schulen helfen nicht'. Die Prüfungsinstrumentarien und Gebühren garantieren den Ausschluß der Armen und Unangepaßten. Häufig im Zusammenhang mit anderen Faktoren wie Beziehungen die noch direkter die soziale Herkunft reproduzieren.

 

Natürlich gibt es auch noch den repressiven direkten Zwang. Die Tendenz ist aber, die Notwendigkeit seiner Anwendung als Versagen der Gesellschaft wahrzunehmen, bzw. sie sozialrassitisch auf bestimmte in dieser rassistischen Sichtweise zurückgebliebenen Teile der Gesellschaft, z.B. Nichtdeutsche, Sozialhilfeabhängige usw. zu beschränken.

Für diesen Zweck werden dann auch mafiose Strukturen in Dienst genommen, soweit die Polizei sich selbst nicht diesen Strukturen annähert. Deutlich wird dies in der Ghetoisierungspolitik und dem Zusammenwirken lokaler Politik mit organisierter Kriminalität - z.B. in Bezug der Ausweisung von Sperrbezirken und der Kriminalisierung bestimmter Drogen. Denn diese Kriminalisierungen von Rauschgiften und Prostitution macht die organisierte Kriminalität überhaupt erst möglich.

 

Die derzeitige Politik kann als Mittel zur Ausweitung der Differenz, als Kampf der Mittelschichten gegen die Armuts- und 'randständigen' Bevölkerungsteile, begriffen werden.

Das heißt nicht, daß nicht auch vielfältige andere Herrschaftsverhältnisse, Sexismus - Rassismus - u.a., eine Rolle spielen. Aber es gibt eine/n TäterIn, auch die Globalisierung fällt nicht vom Himmel.

Das heißt nicht, daß die TäterInnen ihr gesamtes Handeln vorausplanend abstimmen, um so ihre Herrschaft zu sichern. Paranoische Konstruktionen von Weltherrschaft sind eher dazu angetan die tatsächlichen Organisationsformen zu verschleiern. Organisationsformen, die darauf beruhen, daß die weltweit in wesentlichen Herrschaftsfunktionen befindliche Mittelschicht sich auch ohne detaillierte Absprache und Geheimdiplomatie aufgrund ähnlicher Sozialisation in der Herrschaftspraxis optimal ergänzt. Einer Herschaftspraxis in der sie sich auch als Schicht überhaupt erst konstituiert und reproduziert.

Die Organisationsformen, gleichen dabei zunehmend eher den Strukturen linker Netzwerke und nicht alten hierachischen Formen.

Die agierenden Mittelschichten handeln zwar weitgehend einheitlich, aber nicht aufgrund einer organisierten Planung, sondern eher aufgrund gleicher Intressen und Lebensumstände, die sie auf der Basis einer Vielzahl vielfältigster neuer und alter Institutionen organisieren und bündeln. Ihre Macht beziehen sie dabei ebenfalls nicht aus einer klar organisierten Struktur, sondern aus ihrer hegemonialen Stellung in allen Bereichen, Medien - Politik - Wissenschaft - Wirtschaft - Militär - u.a., der Gesellschaft. Das primäre Interesse dieser Mittelschichten, und zwar sowohl der alten CDU-AnhängerInnen wie der neuen Grünen- & Schröder-Fraktion ist dabei trivialerweise nicht der 'Wohlstand für Alle' und auch nicht die 'internationale Konkurrenzfähigkeit' oder die 'Sicherung des Industrie- und Wirtschaftsstandorts Deutschland', ihr primäres Interesse ist vielmehr im Ausbau ihrer Vormachtstellung und der Absicherung ihrer absoluten Dominanz in diesem System zu sehen. Massenverelendung und die Erhöhung der Arbeitslosigkeit sind nicht Nebenprodukte irgendeiner diffusen Modernisierung und Globalisierung, sie sind durch bewußtes Handeln herbeigeführte Ergebnisse dieser Politik.

 

Bewußt heißt dabei nicht unbedingt, daß sich diejenigen, die dies tun, klar gemacht haben das sie allgemeine schichtsprezifische Interessen durchsetzen, bewußt heißt nur, daß sich die Handelnden im konkreten Einzefall bewußt aufgrund egoistischer Interessen für bestimmte Machtpolitiken entscheiden.

Praktisch jeder Mann weiß im Alltag seinen Körper geschickt zu seinem Vorteil als Repressionsinstrument gegen Frauen zu verwenden. Untersuchungen über Körpersprache und Gestik belegen dies vielfältig. Und doch würden die meisten Männer wahrheitsgemäß behaupten, daß ihnen diese bewußt zum eigenen Vorteil eingesetzte Körpersprache nicht bewußt ist. D.h. ein Mann weiß, daß bestimmte körperliche und andere Verhaltensweisen in bestimmten Situationen ihm gegenüber Frauen und zum Teil auch gegenüber Männern zum Vorteil gereichen, in diesem Sinn setzt er sie bewußt ein, er ist sich dabei aber nicht unbedingt bewußt, damit das Patriarchat, das Geschlechterverhältnis und seine Identität als Mann zu reproduzieren.

Ebensowenig reproduziert sich die Mittelschicht bewußt. Die TäterInnen bleiben so auch für sich selbst unsichtbar, schließlich 'sind sie ja keine SexistInnen und RassistInnen'. So kommt es zum Phänomen der 'antirassistischen' RassistInnen, der 'antisexistischen' SexistInnen und der 'gewaltfreien' GewalttäterInnen, und der sich sozialdemokratisch oder christsozial verstehenden Planenden und Ausführenden einer asozialen Politik, einer Mittelschicht der TäterInnen, die sich immer ob der an ihnen geübten Kritik in der Opferrolle sehen.

'Wieso muß dieser Fußgänger genau vor meinen Mercedes laufen?'

 

Anarchistisches Handeln setzt die andauernde Auseinandersetzung mit den eigenen Verstrickungen vorraus.

 

Verstärkt wird diese Ignoranz gegenüber der eigenen TäterInnenschaft noch durch die Ausblendung der auf der kapitalistischen Rationalität fußenden Gewalt.

So verhungern die Menschen aus diesem Mittelschichtsblickwinkel halt nicht aufgrund des Kapitalismus, sondern aufgrund ihrer starrköpfigen und kurzsichtigen Verweigerungshaltung gegenüber den kapitalistischen Notwendigkeiten, die in dieser Lesart als allgemein menschliche Notwendigkeiten angesehen werden. So sind sie nicht Opfer kapitalistischer Repression, sondern Opfer starrköpfiger Verführung durch gestrige SozialismusanhängerInnen oder ihrer Unfähigkeit. Die Nichteinsichtsfähigkeit in die Notwendigkeiten des Kapitalismus, oder die Unfähigkeit zur Anpassung wird als Krankheit gedeutet. Die kapitalistische Gesellschaft übt aus dieser Sicht keine Gewalt aus, sie bietet nur 'Chancen'. Chancen für die Hungernden in Afrika.

Daß die, die diese 'Chancen' nicht nutzen, nicht nutzen können, evtl. verrecken und falls sie sich wehren, erschossen werden, folgt hier einer ähnlichen Logik wie die Elendsverwaltung einer 'offenen Psychiatrie', die nur noch dafür zu sorgen hat, das die Irren, die nicht in der Gesellschaft funktionieren, nicht stören. Eine Psychiatrie, die sich aber ansonsten nicht mehr in der Verantwortung sieht für das, was diesen Menschen passiert. Zwar ist damit die alte totale Institution abgeschaft, aber nur um die Menschen dem direktem Durchgriff der Produktionsverhältnisse auszuliefern. Und die werden weiterhin auch repressiv abgesichert.

 

Dieser Kapitalismus beruht nicht mehr, zumindest nicht primär, auf der Macht zu töten, dieser Kapitalismus beruht auf der Macht sterben zu lassen, den Menschen keine Lebensmöglichkeiten zu lassen. Und die postmodernen Mittelschichten halten sich so für völlig schuldfrei, denn sie tun ja nur nichts - nichts gegen die inhumane Logik des Kapitals.

 

Der Kapitalismus zählt seine Toten nicht.



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Zuletzt aktualisiert 30.10.14





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