Annemarie Arndt
Bleib sauber!
Theaterstück
in zwei Aufzügen
Die Personen des
Stückes
Prolog & Zwischenspiel
Die Frau, Der Mann
1. & 2. Aufzug
Erster Herr, Zweiter Herr, Erste Dame,
Zweite Dame, Das Mädchen, Der Junge, Die Frau, Der Mann, Nadja, Zwei junge
Frauen, Zwei ältere Herren, ÄrztInnen, PflegerInnen
Prolog
Vor dem
geschlossenen Vorhang ein putzender Mann und eine Frau, die die Sauberkeit
nachprüft, hier und da die Nase rümpfend.
Die
Frau: Das
Kaffeekochen wäre nicht nötig gewesen.
Der
Mann (das Putzen intensivierend): Aber das hat doch gar keine Mühe
gemacht.
Die
Frau: Ich
wollte nur sagen, daß Sie sich nicht verpflichtet fühlen
müssen.
Der
Mann: Aber das habe ich doch gerne getan - und bei den vielen jungen Leuten,
die hier arbeiten.
Die
Frau: Ich
will Sie nur nicht überfordern. Wir wissen, was wir an Ihnen haben.
Wie geht es mit den
Kindern?
Der
Mann: Der Große ist jetzt bei der Bundeswehr. Da sorgen sie für
Ordnung.
Das kann dem nicht
schaden.
Die
Frau: Wieso,
hatten Sie mit ihm Probleme?
Der
Mann: Nein. - Er war schon immer sehr sauber. Mit einem Jahr war er trocken.
Aber Sie wissen ja,
wie Jungs so sind.
1. Aufzug
Ein Raum halb
Kinderzimmer halb Abstellkammer in einer oberen Etage eines Hauses mit einer
offenen Tür. Alte Matratzen, Decken und Kissen liegen herum. An einer Wand
steht ein Kleiderschrank und ein Bett, unter dem Bett eine Kiste. Ein nach
innen zu öffnendes Fenster an einer Seite.
Es ist
Nachmittag - Abend, von irgendwoher kommen Stimmen, aus einiger Entfernung. Zu
sehen ist niemand.
Erster
Herr: Was die Gegenkandidatin zum Oberbürgermeister hat als Putzfrau
kandidiert?
Zweiter
Herr: Ja, auf den Plakaten, mit Schrubber. 'Den Müll aus der Stadt
kehren.'
Erster
Herr: Na meiner Putzfrau würde ich das auch nicht überlassen - kein
Wunder, daß sie da verloren hat.
Erste
Dame: Mann hat ja gar keine Lust mehr einzukaufen, überall wird man
angebettelt.
Zweite
Dame: Ich geh schon gar nicht mehr in die Innenstadt.
Erster
Herr: In Leipzig ist es jetzt sauber, gar kein Vergleich zu hier.
Zweiter
Herr: Zu DDR-Zeiten war das richtig dreckig - unglaublich dreckig und
schäbig.
Erste
Dame: Die Ausländer meinen ja auch, sie könnten überall alles
hinwerfen.
Zweite
Dame: Die haben das halt nicht gelernt.
Zweiter
Herr (süffisant laut): Ja, da müssen wir sie wohl mal aufklären.
Zweiter und
erster Herr lachen.
Eine Tür
wird geschlossen, eine andere geöffnet - Schritte.
Eine
näherkommende Frauenstimme: So, hier könnt ihr spielen, und
vertragt Euch. -
Und Ihr räumt
alles wieder ein, was Ihr auspackt.
Ein Mann und
eine Frau in Kinderkleidung stürmen auf die Bühne.
Der
Junge zieht unter denm Bett eine Kiste hervor: Du bist doof.
Das
Mädchen: Ph!
Sie öffnen
einen Schrank mit alten Kleidern. Beide suchen eine Weile. Dann hat der Junge
eine Schirmmütze und einen Stock gefunden.
Der
Junge: Ich bin Polizist.
Das
Mädchen: Polizisten haben eine Uniform.
Der
Junge: Die Geheimpolizei nicht.
Wenn du nicht tust,
was ich sage, verhafte ich dich.
Das
Mädchen: Ach ja.
Der
Junge: Du mußt tun, was ich sage.
Das
Mädchen: Und sonst?
Der
Junge: Kommt der Stock zum Einsatz.
Das
Mädchen: Dann sperr ich dich in den Schrank. - Außerdem bin ich
eine Dame.
Sie zieht ein
Kleid hervor und Stöckelschuhe.
Der
Junge: Du bist gemein.
Das Mädchen
hat sich Kleid und Stöckelschuhe angezogen und schreitet durch das Zimmer.
Der
Junge stellt sich ihr mit dem Stock fuchtelnd in den Weg: Halt, hier
dürfen Sie nicht lang.
Das Mädchen
ignoriert ihn.
Der
Junge: Du bist gemein.
Das
Mädchen: Ich bin eine Dame und kleine Polizisten liegen mir zu
Füßen. - Sagen Sie, Herr Polizeimann, wo bekomme ich hier Lakritze?
Der Junge wendet
sich ab, geht in die andere Ecke des Zimmers, und beginnt den Verkehr zu
regeln: Halt - Stop - Weiter-
fahren -
Sie da, haben Sie
keine Augen im Kopf. Es ist rot. Sie sind verhaftet. Die Verkehrsregeln gelten
auch für Türken.
Das Mädchen
ist weiter als Dame hin und her gegangen, schnäuzt sich und
läßt das Taschentuch fallen, und fängt auch an zu reden.
Beide parallel.
Beide lauter
werdend.
Das
Mädchen: Ach,
das ist doch aber nicht nötig. Das ist sehr liebenwürdig von Ihnen. Ach, das Kleid ist doch nicht der Rede wert. Nein wirklich? Das Mädchen lacht Das kann ich Ihnen aber nicht anvertrauen. Sie würden mich gerne zu einer Lakritz einladen. Aber nur eine. Hier sitzt man schön. Ja, das Wetter. |
Der
Junge regelt weiter den Verkehr: Wenn Sie nicht gehorchen muß ich deutlicher werden. Los, jetzt. Können sie nicht hören! Der Junge prügelt mit dem Stock auf das Bett ein -
unartikulierte Laute von sich gebend. |
Das Mädchen
schubst den Jungen hin. Der Junge fängt an zu schreien.
Der
Junge: Das sag ich Mama!
Während der
Junge schmollend in der Ecke sitzt, stolziert das Mädchen wieder durch das
Zimmer.
Das
Mädchen: Das ist zu liebenswürdig von Ihnen.
Aber, nicht doch.
Sie machen mich ja ganz verlegen.
Meinen Arm?
Aber ja.
Ach.
Die Tür
geht auf und eine erwachsene Frau kommt herein, an der Hand ein Kleinkind im
Strampelanzug(auch eine erwachsene Schauspielerin). Um den Hals hat es einen
Riesenschnuller.
Die
Frau: Na spielt ihr, schön - das ihr euch so gut versteht.
Der
Junge: Ich bin ein Polizist.
Die
Frau: Das ist ein solider Beruf.
Der Junge regelt
wieder den Verkehr.
Das
Mädchen: Ich bin eine Dame.
Die
Frau: Weißt Du denn, wie sich Damen benehmen?
Das Mädchen
stolziert im Zimmer auf und ab.
Die Frau lacht.
Die
Frau: Ich habe euch die kleine Nadja mitgebracht. Ist sie nicht
süß. Sie möchte auch spielen.
Ich gehe dann mal
wieder nach unten.
Die Frau geht
ab.
Der Junge und
das Mädchen begutachten das Kleinkind. Das Kleinkind, noch immer an der
gleichen Stelle sitzend, schafft es nicht beide im Blick zu behalten.
Das
Mädchen stupst das Kleinkind mit dem Fuß an: Kannst du
sprechen?
Das Kleinkind
starrt ängstlich zum Mädchen.
Der
Junge tritt fester zu: Ob du sprechen kannst?
Das Kleinkind
starrt nun zum Jungen, dann wieder zum Mädchen.
Das
Mädchen kniet sich hin: Sag Mama - Mama - Mama - Mama - Mama
Das Kleinkind
lacht das Mädchen an, spuckt dann, Speichel tropft.
Das
Mädchen: Bist du blöd?
Das Kleinkind
lacht.
Das
Mädchen: Sag, ich bin blöd - blöd - ja, blöd.
Das
Kleinkind: Löd.
Der
Junge herumspringend: Blöd ist das Kind, blöd, blöd.
Blöd ist das
Kind, blöd, blöd.
Das
Mädchen: Halt die Klappe, du erschreckst es.
Das Mädchen
versteckt den Schnuller immer hinter dem Kopf des Kleinkindes, das hilflos den
Kopf wendet.
Das
Mädchen: Na, such den Schnuller - such!
Der
Junge: Such!
Das Mädchen
und der Junge werfen sich den Schnuller abwechselnd zu und tanzen im Kreis um
das Kleinkind.
Beide
schreien abwechselnd und überlappend: Such - Such den Schnuller - Such -
.. .
Das Kind
versucht den beiden mit dem Kopf zu folgen, wird immer ängstlicher und
fängt zum Schluß an zu heulen.
Der
Junge wirft den Schnuller in eine Ecke: Hol ihn dir!
Das
Mädchen: Ach dazu ist es zu blöd.
Sie tritt das
Kleinkind nochmal, dann kniet sie sich nieder und streichelt das Kind. Dabei
zieht sie immer wieder an Haaren, Ohren und kneift in das eine oder andere
Körperteil des Kindes.
Schritte auf der
Treppe sind zu hören. Die Kinder wenden den Kopf zur Tür. Ein Mann
tritt ein.
Der
Mann: Na, spielt ihr schön.
Dann
wendet sich der Mann zum Kleinkind: Na, was hat denn das kleine
Scheißerle?
Er
sieht den Schnuller in der Ecke: Ach hast du den Schnuller verloren
Er
hockt sich neben das Kleinkind und knufft es: Da mußt du
besser aufpassen und ihn nicht immer wegwerfen.
Er holt den
Schnuller und stopft ihn dem Kleinkind in den Mund. Das Kind heult noch mehr.
Der
Mann: Ach da ist er doch wieder. Ist doch alles wieder gut.
Er
geht durch das Zimmer zu den Kindern: Ich hab euch auch etwas mitgebracht.
Er wirft dem
Mädchen eine Tüte Lakritze und dem Jungen eine Tüte
Gummibären zu. Beide reißen die Tüten sofort auf und stopfen
die Sachen in sich hinein.
Der Mann greift
sich das Kleinkind und schaukelt es ein wenig auf dem Schoß - dann wirft
er es hoch und fängt es kurz vor dem Boden auf.
Der
Mann lacht das Kleinkind an: Wenn du mir zu schwer wirst, lass ich dich
fallen.
Er setzt das
Kleinkind wieder an seinen alten Platz. Die Kinder stopfen immer noch Lakritze
und Gummibären in sich hinein.
Der
Mann: Ich muß wieder nach unten. Wenn ihr noch mehr wollt,
müßt ihr runterkommen.
Der Mann schaut
die Kinder etwas wehmütig noch mal an, dann verläßt er den
Raum.
Das Mädchen
greift sich den Schnuller und schlenkert ihn, durch den Raum stolzierend, wie
eine Handtasche hin und her: Dieses Jahr ist diese Form besonders
modisch.
Der
Junge: Ich will auch
Er greift nach
dem Schnuller, beide zerren an dem Schnuller.
Das
Mädchen: Nein, laß sein!
Der
Junge: Ich auch!
Der Junge und das
Mädchen rangeln um den Schnuller.
Das
Mädchen: Gib her.
Der
Junge: Du hast ihn schon gehabt.
Das Mädchen
schubst den Jungen hin.
Der
Junge: Du bist gemein.
Das
Mädchen schnuppert in der Luft: Es stinkt
Der
Junge zieht auch die Luft durch die Nase ein: Es stinkt.
Das
Mädchen schaut den Jungen an: Es stinkt erbärmlich.
Der Junge schaut
sich hilfesuchend um, schaut dann zum Mädchen.
Der
Junge: Wer es zuerst gerochen, dem ist es aus dem Arsch gekrochen. - Der
Junge lacht und wiederholt immer wieder Teile des Satzes während er durch
das Zimmer tanzt: Wer es zuerst gerochen, dem ist es aus dem Arsch gekrochen.
.. .
Das Mädchen
schnüffelt im Zimmer und zeigt dann mit dem Finger auf das Kleinkind: Das stinkt.
Das
Mädchen geht zum Kleinkind hin und zerrt am Zeug: Es ist nicht
dicht.
Der
Junge: Die können nur Fressen und Scheißen.
Das
Mädchen: Es ist dreckig.
Der
Junge: Mädchen sind schmutzig.
Das
Mädchen: Ich bin eine Dame. -
Das
Mädchen wendet sich vom Kleinkind ab: Und das ist Aufgabe der Polizei.
Der
Junge spricht in den Raum: Ordnung muß sein. - Dann wendet sich der
Junge zum Kleinkind: Wenn es nicht sofort aufhört zu stinken, muß ich
es verhaften.
Das
Mädchen: Sperr es in den Schrank.
Der Junge zerrt
an dem Kleinkind, kommt aber nicht so recht voran. Das Mädchen tritt hinzu
, drängt ihn beiseite und zieht an einem Arm. Das Kleinkind fängt an
zu schreien.
Der
Junge tritt das Kind: Ruhe!
Das
Mädchen: Los, faß an.
Gemeinsam
schleifen sie das wimmernde Kleinkind zum Kleiderschrank und verstauen es dort.
Sie stehen da
und schauen sich an.
Das
Mädchen schaut nach draußen: Wir müssen uns ein Haus bauen.
Der
Junge weist auf einige alte Matratzen: Da sind Wände.
Das
Mädchen: Schaff sie darüber und die Decke da, und die Kissen.
Das Mädchen
weist auf eine alte Decke und Kissen.
Während der
Junge das Haus baut tanzt das singend Mädchen um ihn herum:
Raffe, schaffe Häusle
baue,
tapfer
in die Zukunft schaue.
Raffe
schaffe, Häusle baue,
tapfer
in die Zukunft schaue.
..
Ab und an
zwischendurch bleibt sie stehen und erteilt Anweisungen:
Die Wand ist nicht
gerade.
Die Decke
hängt durch.
Das ist zu weit
auseinander.
Paß doch auf.
Dann
tanzt und singt sie weiter: Raffe schaffe, Häusle baue,
tapfer in die
Zukunft schaue.
..
Auf einmal
bleibt sie stehen und schweigt, der Junge unterbricht die Arbeit.
Das
Mädchen: Es stinkt immer noch.
Der
Junge: Es stinkt.
Das
Mädchen: Die Strafe war nicht hart genug. Wir müssen es woanders
einsperren.
Der
Junge schaut sich suchend um: Vor die Tür geht nicht.
Das Mädchen
und der Junge schauen sich beide um, ihr Blick bleibt am Fenster hängen.
Beide
zusammen: Es muß hier raus.
Das
Mädchen: Frische Luft wird ihm gut tun.
Sie laufen beide
zum Schrank und reißen die Türen auf. Das Kleinkind, in diverse
heruntergerissene Kleidung verstrickt, lächelt sie an.
Das
Mädchen: Du fäßt hinten an.
Der Junge und
das Mädchen schleifen das Kleinkind zum Fenster, zwischendurch lassen sie
es fallen, heben wieder an.
Das
Mädchen macht das Fenster auf: Frische Luft. - Und dann leicht
affektiert: Wie das riecht.
Der
Junge: Ich rieche nichts.
Das
Mädchen: Faß an.
Sie hiefen das
Kind auf den äußeren Fenstersimms und schließen das Fenster.
Das Kind zieht sich in eine Ecke des Simmses zurück.
Der Junge
läuft zum Haus und läßt sich hineinfallen.
Das
Mädchen: Du hast es kaputt gemacht.
Beide
prügeln sich, ein Kissen fliegt gegen das Fenster, das Kleinkind
verschwindet nach unten aus dem Blickfeld.
Das
Mädchen: Das baust du wieder auf.
Der
Junge: Du bist gemein.
Der Blick des
Jungen streift das Fenster, bleibt daran hängen, starrt. Das Mädchen
folgt dem Blick.
Der
Junge: Es ist weg.
Das
Mädchen: Schau nach.
Der
Junge geht zum Fenster, öffnet es und schaut raus: Es liegt unten.
Das
Mädchen: Ein dummes Kind.
Der
Junge: Ich glaube es ist kaputt.
Das
Mädchen spricht in den Raum hinein: Es wollte ja nicht mit uns spielen. - Das
Mädchen zum Jungen gewandt: Bau das Haus wieder auf.
Während der
Junge das Haus wieder aufbaut, fängt das Mädchen wieder an zu tanzen
und zu singen: Raffe, schaffe Häusle baue,
tapfer in die
Zukunft schaue.
Raffe schaffe,
Häusle baue,
tapfer in die
Zukunft schaue.
..
Der Vorhang
fällt
Schluß erster Aufzug
Pause
Zwischenspiel
Der Vorhang ist
noch geschlossen, von hinten kommen der Mann und die Frau aus dem Prolog in den
Zuschauerraum.
Die
Frau: Hier stinkt es nach Schweiß - vergessen Sie bitte nicht zu
lüften.
Der
Mann wischt über einige Armlehnen: Ja, hier sind auch überall
Fettflecke, aber die werde ich beseitigen.
Die
Frau zeigt in den Saal: Da drüben - einfach weg damit.
Der Mann geht
durch die Reihen und wischt.
Die
Frau geht ab, zu sich selbst redend: Das ist eklig - widerlich - Menschen - als
ob das mit teurem Parfum zu kaschieren wäre.
Auch der Mann
geht putzend aus dem Zuschauerraum ab.
Der Vorhang
öffnet sich
2. Aufzug
Auf der
Bühne ein großer Raum, eine Art moderner Salon - eine Party. An den
Seiten Türen, geöffnete Glastüren führen in die
Sommernacht. Im Hintergrund auf einem abgeräumten Tisch, zwischen dem
Buffet, liegt das Kind und wird von ÄrztInnen und PflegerInnen ausgenommen
- ab und an zuckt es. In einer Ecke spielen die Kinder.
Im Raum bewegen
sich Wein trinkende Damen und Herren und unterhalten sich gedämpft. Es
treten je Einzelne oder Gruppen nach vorne, um sich lauter zu unterhalten.
Zwei Damen und
ein Herr nähern sich dem Bühnenrand.
Die
erste Dame: Ist denn das nötig. Können sie das nicht woanders
machen?
Der
Herr: Nur wenn die Nierchen ganz frisch sind, haben sie noch einen Wert.
Die
erste Dame: Aber es ist pietätlos.
Die
zweite Dame: Wer weiß, vielleicht hat dieser tragische Unfall so
noch sein Gutes und ein kleiner Einstein wird dadurch gerettet. - Zur ersten
Dame gewandt: Nehmen Sie doch noch etwas von den Muscheln.
Die drei begeben
sich zum Buffet.
Ein Herr und
eine Dame haben sich tanzend dem Bühnenrand genähert.
Die
Dame: Für die Kinder muß es schrecklich gewesen sein, dies
mitanzusehen.
Der
Herr: Sie haben es aber gut verdaut - es sind gesunde Kinder.
Die
Dame: Ja, sie spielen schon wieder - könnten wir uns doch ihre Unschuld
bewahren.
Der
Herr: Die Mutter von Nadja ist zusammengebrochen.
Die
Dame: Sie trifft wohl auch eine Mitschuld. Das Kind muß doch wissen,
daß es nicht auf Fensterbretter klettern darf.
Der
Herr: Moderne Erziehung. Sehen sie sich die beiden anderen Kinder an, die sind gerade
gewachsen - denen passiert sowas nicht.
Die
Dame: Ein tragisches Schicksal, aber sie haben Recht, die Mutter ist schuld.
Alle
auf der Bühne versammelten beginnen im Chor als Canon zu intonieren: Die Mutter, die
Mutter, die Mutter ist schuld. Die Mutter, die Mutter ist schuld.
Dann
stoßen sie alle an und trinken.
Der
Herr: Kinder brauchen klare Bezugsgrößen. Man muß ihnen zeigen, woran sie
sind.
Die
Dame: Ich möchte nicht mit der Mutter tauschen.
Der
Herr: Sie sind doch aus einem ganz anderen Stoff. - Seine Hand gleitet über ihren
Rücken: Kommen Sie.
Der Herr
führt die Dame nach draußen. Sie verschwinden aus dem Blick.
Einer
der Ärzte ist lautstark vernehmbar: Schwester, was ist das hier für eine
Sauerei. Geben sie mir das Messer dahinten.
Eine der
Schwestern holt vom kalten Buffet das Tranchierbesteck.
Zwei ältere
Herren kommen durch eine offene Seitentür auf die Bühne -
offensichtlich vom Clo
Der
erste Herr: Das kommt davon.
Der
zweite Herr: Und die Mütter müssen ja unbedingt arbeiten.
Der
erste Herr: Das der Staat bei sowas nicht eingreift, sonst sind die doch
immer gleich da.
Der
zweite Herr: Die organisierte Beschäftigung Jugendlicher früher
hatte auch ihre Vorteile. Das war im Faschismus gar nicht so schlecht. Wir sind
wenigstens nicht auf dumme Gedanken gekommen.
Viele
Jugendliche wissen doch gar nichts mit sich anzufangen.
Auf Fenstersimsen
rumklettern.
Die brauchen
jemanden.
Sonst machen die
Randale und stecken irgendwas an, und dann ist das Geschrei groß.
Der
erste Herr: Da muß erst was passieren. Aber glauben Sie mal nicht,
daß sich was ändert.
Am liebsten
würden die jungen Frauen doch gleich abtreiben.
Der zweite Herr
begutachtet zwei junge Frauen, die sich dem Bühnenrand nähern: Na ja,
man kann es ja
verstehen, wenn man die jungen Dinger so sieht. Wir haben früher auch
nicht lange gefackelt. - Er lacht.
Der
erste Herr: Von uns wollen die doch sowieso nichts mehr.
Die beiden
jungen Frauen haben jetzt den Bühnenrand erreicht.
Die
erste Frau: Ein schöner Abend.
Die
zweite Frau: Ja, wenn der Unfall nicht wäre.
Die
erste Frau: Wir sollten ihn uns nicht verderben lassen.
Die
zweite Frau lacht: Aber, aber, das wichtigste im Leben einer Frau sind die
Kinder.
Die
erste Frau auch lachend: Ja sieh sie dir an, unsere Zukunft.
Von
der Seite kommt das Mädchen seilspringend und singend:
Raffe, schaffe
Häusle baue,
tapfer in die
Zukunft schaue.
Raffe schaffe,
Häusle baue,
tapfer in die
Zukunft schaue.
..
Der Junge folgt
ihr auf einem Steckenpferd das er mit Schlägen und Schreien antreibt:
Vorwärts.
Dummes Tier!
Mach das du
vorankommst!
Du kriegst keinen
Hafer.
..
Der Vorhang
fällt hinter den beiden, so daß sie allein zurückbleiben. Sie
irren ein wenig umher, bevor sie seitwärts abgehen, immer noch singend und
schreiend.
Schluß
Impressum: Paula & Karla Irrliche
Copyright für alle hier publizierten Texte von Annemarie Arndt: CC 00
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Die Texte von Annemarie Arndt dürfen beliebig abgeschrieben, abgedruckt, zitiert, gespiegelt, weiterverwendet werden. Wer das tun will: nur zu! Bitte schickt falls möglich ein Belegexemplar / einen Link an die HerausgeberInnengemeinschaft Irrliche. Wir freuen uns auch, wenn die Quelle angeben wird und über eine Verlinkung. Bei Angabe der Autorin bitte keine Textänderungen ohne Absprache vornehmen. Für Leute, die es - warum auch immer - rechtlich verbindlich haben wollen. Diese Texte sind vollständig gemeinfrei. Sie stehen unter der
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Zuletzt aktualisiert 30.10.14
Kindheit. Bleib sauber! - Theaterstück von Annemarie Arndt über; politische privat politisch Politik Theater Stücke Widerstand Gegenwehr Theaterstück Sexismus sexistisch Antikapitalismus Kapitalismus Kritik Mord Antiautoritär Sexuelle Gewalt Familie Kinder
Theaterstücke & Kindheit
Kindheit, Zeit der Unschuld
10 jährige Kinder foltern 8 jährigen Spielkameraden.
KindersoldatInnen und Kinderprostitution gehören zum strukturellen Alltag des Kapitalismus.
Im Mythos Kindheit verdrängt die Gesellschaft die Gewalt, die sie alltäglich bereit ist den Kindern in ihrer Kindheit anzutun. Eine Gewalt, die gerade auch von Kindern untereinander reproduziert wird.
Ein Theaterstück über Kindheit, sollte als Theaterstück diese Verdrängung, diese Lüge, aufdecken.
Kindheit in Film und Theaterstücken ist aber meist mehr ein Theaterstück, weit entfernt von realen Verhältnissen der Kindheit.
Kindheit, Zeit des Erwachens
In Umfragen ist die Angst vor Arbeitslosigkeit die größte Angst von Kindern.
Sexistische Werbung, die Frauen auf Sexualobjekte reduziert, gehört zum Alltag von Kleinkindern.
Der Mythos Kindheit behauptet, es würde alles getan um Kinder in ihrer Kindheit vor Bedrängungen, die sie überfordern, zu schützen. Real ist Kindheit im Kapitalismus eine Form brachialer Sozialisation hin zum funktionierenden Marktding, daß schon als Kind lernt sich selbst zu Markte zu tragen.
Ein Theaterstück über Kindheit müßte diese realen Gewaltverhältnisse analysieren und als Theaterstück den Zusammenhang, von Gewalterfahrungen in der Kindheit und ihrer Funktionalität für die kapitalistische Sozialisation, herausarbeiten.
Kindheit in Film und Theaterstücken wird aber meist so dargestellt, als hätten Kindheit und Kapitalismus nichts mit einander zu tun, als wäre Kindheit immer schon diese Form der Sozialisation gewesen.
Kindheit, Zeit der Spiele
7 jähriges Kind mit 48 Stundenwoche und Terminkalender.
Samstagsarbeit für SchülerInnen soll in NRW wieder eingeführt werden.
Schule als Zwangsarbeitslager.
Der Mythos Kindheit erweckt den Anschein, Kinder hätten heute unendlich viel mehr Zeit als ihre Eltern sie als Kinder gehabt hätten. Real wird Kindheit in einer Welt, in der die Verwertung am Markt zum Fetisch geworden ist, immer mehr zu einer Zeit, der gewaltsamen Optimierung der �Kleinen', um ihre Verwertung als Arbeitskraft im Interesse der Konzerne sicherzustellen.
Ein Theaterstück über Kindheit müßte die Realität dieses Ausbildungsterrors, der reale Bildung, wie sie in freier Interaktion erworben wird, zunehmend verhindert, thematisieren und als Theaterstück auf die Bühne bringen.
Kindheit in Film und Theaterstücken läßt aber diese Realität der Kindheit meist außen vor, bzw. ist selbst Teil des kapitalistisch propagandistischen Tugendterrors.
Kindheit, Zeit des Lachens
Depressionen und psychische Erkrankungen bei Kindern nehmen zu,
SchülerInnenselbstmorde, Eßstörungen und Haßgefühle.
Im Mythos Kindheit ist Kindheit, bis auf äußerlich hereinbrechende Katastrophen, eine Zeit der Unversehrtheit. Real ist Kindheit aber als Gewaltverhältnis strukturiert, bei dem Kinder weitestgehend zwei Personen (Eltern) willkürlich ausgeliefert sind, zwei Personen, die selbst wieder massiv unter Druck gesetzt werden funktionsfähige MitbürgerInnen im Sinne des Kapitals zu produzieren.
Ein Theaterstück über Kindheit müßte neben dem Mythos der Kindheit auch den Mythos der Elternschaft und Mutterliebe, bzw. Elternliebe, als das Entkleiden, was er ist, der Keilriemen der dieses Gewaltverhältnis am Laufen hält.
Kindheit in Film und Theaterstücken verkauft uns Kindheit als Seifenoper und nicht als kritisches Theaterstück.
Kindheit, Zeit der Freiheit
Welche andere Gesellschaft bringt Ihren Kindern unter Androhung der Strafe der Verstümmelung und des Todes das Regelbefolgen bei? Der Autoverkehr als sozialisatorische Instanz der Kindererziehung weist auf die ganze Verachtung, die diese Gesellschaft Kindern entgegenbringt.
Und der postfaschistische Populismus setzt dies fort, mit der Forderung von 0-Tolleranz für jugendliche Normabweichungen.
Im Mythos Kindheit wird dies nicht einmal am Rand thematisiert, bzw. der eigene Haß wird auf böse Menschen, die von Außen die Kindheit bedrohen, projiziert.
Ein Theaterstück über Kindheit müßte den Haß einer überalternden Gesellschaft auf Kinder und Jugendliche, der, unter dem Deckmantel der Vernunft, Gewalt schürt und Kindheit als totalitäres Überwachungslager zu organisieren trachtet, im Theaterstück aufdecken.
Kindheit in Film und Theaterstücken, wie Kindheit zur Zeit dargestellt wird, verdeckt diese Realität.
Anna Irrliche, 2008