2084
Folge 1 - Entscheidungen
Karin
wußte schon bevor sie ihren Vater gesprochen hatte, daß er sie
nicht verstehen würde. Professor Jorzig, der gerne im Fernsehen zu diesem
und jenem gefragt wurde. Und doch liebte er sie wahrscheinlich. Sie hatte ja
seine genetische Disposition.
'Du hast die besten Voraussetzungen, das Screening wurde bei Dir in allen Dispositionen mit
Topwerten abgeschlossen. Ich verstehe nicht, daß Du alles wegwerfen
willst.
Wenn Du Dinge verändern willst dann mußt Du dir die entsprechende Stellung
erarbeiten. Du hast doch alle Voraussetzungen dafür.
Nur so kannst Du was verändern.
Und hör auf zu rauchen - oder willst Du dich selbst zerstören, wie Deine Mutter.'
Was sonst hätte ihr Vater auch sagen sollen?
Dabei hatte sie nicht einmal die Gene ihrer Mutter.
Aus der Politologievorlesung
Heute entscheiden die weltweiten Netzwerke und Foren der
fachlich qualifizierten und engagierten Intelligenz alle wichtigen Fragen.
Nicht mehr politische Partialinteressen stehen im Vordergrund, sondern die
Vernunft und die sachlichen Notwendigkeiten. Die Parlamente haben nur noch eine
repräsentative Funktion.
Karin hatte diesen Satz in ihrer Mitschrift unterstrichen.
War es nicht das, wovon die Nicht-Regierungs-Organisationen Anfang des 21. Jahrhunderts
immer geträumt hatten?
Im Jahr 2026 wurden Krebsbehandlungen für Raucherinnen und Raucher aus dem
Leistungskatalog der öffentlichen Krankenversicherungen gestrichen.
Ihr Professor
hatte länger auf Karin eingeredet. Dies war eine Eliteuniversität -
hier kümmerte man sich um die Studierenden.
'Sie können ja tun und lassen, was sie wollen. Und es ist ganz sinnvoll,
daß junge Leute die Prinzipien ihrer Eltern hinterfragen. Und wenn Sie
meinen, daß es Sinn macht sich mit alternativen Ansätze der
Sozialhygiene zu beschäftigen, tun sie das. Darunter darf aber nicht der
Rest ihres Studiums leiden. Und Sie können doch nicht ernsthaft die
naturwissenschaftlichen Erkenntnisse der Genetik bezweifeln?'
'Ich scheiß auf die Sozialhygiene, das ist Mord.'
'Radikale Positionierungen helfen niemandem.'
'Sie meinen, sie gefährden ihre Machtposition.'
'Sie wissen genau, was ich meine. Wenn Sie der Irrationalität Tür und Tor
öffnen wollen, dann sollten Sie sich überlegen, ob Sie an dieser
Ausbildungsstätte noch richtig aufgehoben sind.'
Sie saßen in einer hinteren Ecke des Parkhauses. Die Kamera, die diesen Teil
überwachte war kaputt. Es war ein kleines Stück Abenteuer. Von hier
aus überblickten sie die naheliegenden Straßen. Karl hatte den Tabak
organisiert, Kia die Blättchen. Nun rauchten sie mit zittrigen Fingern.
Sie scherzten um ihre Furcht und Nervosität zu überdecken. Wenn sie
jetzt jemand sähe, würde dies mindesten Korrekturunterricht in der
Gesamtschule bedeuten.
Aus der Politologievorlesung
Am Anfang des 21. Jahrhunderts hatte sich das
Besitzbürgertum und der nationalstaatliche Parlamentarismus selbst in den
Abgrund gewirtschaftet. Die Machtübernahme durch die internationalen Foren
der Fach- und Nicht-Regierungs-Organisationen verlief glücklicherweise
ohne bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen.
Der Professor hatte an dieser Stelle bemerkt, daß die junge Jorzig aus dem Fenster
starrte.
Was war nur aus
seiner Tochter geworden?
Professor Jorzig sah sie von seinem Platz im Cafe auf der Straße die
Sicherheitskräfte provozieren. Sie wußte doch genau, daß im
Citybereich das Verteilen von nichtgenehmigten Prospekten oder Zetteln verboten
war. Wer will schon permanent mit politischer Propaganda belästigt werden.
Hatten die Menschen nicht ein Anrecht auf ungestörtem Verweilen in der
Kaufzone. Aber sie hörte ja gar nicht mehr zu, redete immer nur von
Freiheit ohne auf die Wünsche anderer Rücksicht zu nehmen.
Diesmal würde er ihr nicht zu Hilfe kommen. Vielleicht würde die Erfahrung
ihr gut tun.
Sie wissen schon warum ihr Kind heute ein Problemkind ist. Als Kleines konnte es sich
schon nicht beherrschen - hat es ungehemmt Süßigkeiten in sich
hineingestopft. Hätten Sie damals nur schon eingegriffen.
Zero-Toleranz - Handeln bevor es zu spät - pädagogisch betreute
Verhaltensnachschulung schon für Kinder ab dem ersten Lebensjahr. Institut
für präventive Pädagogik - www.schulefürübermor.de -
transnet: tt.brainforming.cg
Rauchen gefährdet Ihr Erbgut. - Raucherinnen fügen uns allen Schaden zu und vor allem ihren Nachkommen. -
Auch von Jugendlichen ist verantwortungsbewußtes Handeln im Umgang mit der Welt zu
verlangen. -
Rauchen ist der Anfang, ungeschützter Sexualverkehr das nächste, und dann betteln sie
um Hilfe für ihre geschädigten Kinder.
Karin hatte sich entschieden, sie hatte das Studium hingeschmissen. Sie würde in die
aufgegeben Bereiche der Stadt ziehen. Sie hatte Lust auf die Straße zu
rennen und sich irgendeinen beliebigen Mann als Samenspender zu suchen -
ungeplant, ungetestet. Aber sie wußte, sie würde keinen finden. Hier
hatten alle Angst vor den juristischen Folgen und; 'So was ist
unverantwortlich - gerade als Frau trägst Du Verantwortung für das
Leben.' Sie wußte,
wie ihre männlichen Mitstudenten sich aufpumpen konnten, wenn einmal eine Frau
sexuelle Freizügigkeit einforderte. Sie lachte bei dem Gedanken - einfach
mit dem nächsten Bettler ein Kind zu zeugen.
Vielleicht gab es im Slum Männer, die dazu bereit waren.
Erst einmal würde sie sich eine Arbeit suchen müssen. Ihr Geld würde nicht lange
reichen. Keine Sicherheitskontrollen mehr - Krüppel auf den Straßen
- Rauchen, wann und wo sie wollte - aber auch Elend und Gewalt.
Sie hatte geträumt überfallen zu werden und war letzte Nacht
schweißgebadet aufgewacht. Erst einmal würde sie bei einer Freundin
unterkommen.
Sie hatte es ihrem Vater mitgeteilt. Es würde Tratsch unter den Kollegen geben. Sie
prustete durch die Nase.
Die neue Stellung der Frau. Heute übernahmen vor allem die Mütter die Aufgabe,
für die Qualität des genetischen Materials, das sie an ihre Kinder
weitergaben, und für die Ausbildung zu sorgen. Die heutige Frau war
Managerin ihrer Familie und ihres eigenen Fortkommens.
An einer Ecke spielten einige Kinder Geburtsklinik
'..
ehne mehne
muh
raus bist
du,
ehne mehne
meck,
und du bist
weck'
Freiheit ist Einwandfreiheit!
Es war noch früh am Morgen als es an der Tür klingelte. Karin hatte sich gerade
einen Kaffee aufgesetzt. Als sie öffnete, ließ man ihr keine Chance.
Ihr Schrei verhallte im Treppenhaus. Die Nachbarin war nicht verwundert. Das
war wohl besser so. Die Spritze wirkte sofort. Sie würde jetzt lernen
vernünftig zu sein. Die zwei Männer und die junge Ärztin im
weißen Kittel dankten dem Sicherheitsdienst für die Hilfe. Die junge
Ärztin sah den Widerstand ihrer Patientin. Die Neukonditionierung
würde lange dauern. Wahrscheinlich ein weiterer hoffnungsloser Fall
für die Klinik. Aber der Vater zahlte ja, wohl weil er sich den Fehlschlag
nicht eingestehen wollte - so was kam vor.
Das Kind kletterte im Sonnenschein auf einem der Denkmäler herum. Hier standen sie,
alle wichtigen Köpfe der modernen Genetik. Als die Mutter weitergehen
wollte und das Kind an die Hand nahm, fiel ihr Blick auf die Namenstafel -
Peter Singer -.
Peter Singer - sie überlegte einen Moment, dann fiel ihr ihr Wissen aus der Schulzeit
wieder ein. Ein Ethiker, der sich als einer der ersten gegen das Unglück
behinderter Kinder gewandt hatte - gegen den Zwang ein behindertes Leben
führen zu müssen. Heute hatte man Mitleid mit den Kleinen und solch
ein Elend wurde frühzeitig beendet.
Sie hob ihr Kind hoch und herzte die einwandfreie Haut.
Auch im Jahr 2084 pflanzte sich nur der kleinere Teil der Menschheit
verantwortungsbewußt in Vitro fort. Übernahm nur das oberste Viertel
die Verantwortung für die genetische Disposition ihres Nachwuchses. Die
Unterschichten trieben es nach wie vor wie die Tiere.
Professor Jorzig saß in seinem Sessel und beobachtete die Veränderung des
virtuellen Aquarells. Es würde ihn ein Vermögen kosten, aber sie war
seine Tochter. Sie hatte tatsächlich geplant in die Slums zu gehen. Was
war nur mit ihr passiert?
Sie hatte sogar gedroht ein Kind mit einem Devianten zu zeugen. In einem Aschenbecher hatten
sie die Reste ihres genetischen Dispositionsausweises gefunden. Er begriff sie
nicht mehr. Auch dieses Rauchen. Das mußte die hormonale Disposition
ihrer Mutter sein. Zum Schluß war es mit ihr genauso gewesen. Sie
hätten sich auch für eine Leihmutter entscheiden und nicht nur ihre
genetische Disposition ersetzen sollen.
Aber er konnte Karin nicht aufgeben, verkommen lassen - sie sollte eine Chance haben. Sie
hatte doch auch seine Dispositionen - vielleicht war er zu konservativ, zu
altmodisch familiär.
Aber er würde für die Klinik aufkommen. Zur Not den Rest ihres Lebens.
In der nächsten Folge lesen Sie: Wie wird es Karin weiter ergehen? Hat Karin noch eine Chance? Gibt es
Möglichkeiten zum Widerstand?
Gentechnik entdeckt Science-Fiction-Gene!
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Impressum: Paula & Karla Irrliche
Zuletzt aktualisiert 30.10.14
Gene, Gentechnik. 2084 - Ein feministischer Science Fiction von Carlotta - über; Gen Gene Genetik Gentechnologie Überwachung Normalisierungsgesellschaft Rauchverbot Gesundheit Rauchen Biopolitik Biomacht
Gentechnik entdeckt Science-Fiction-Gene!
- Methoden der Optimierung von Science-Fiction-Literatur durch Gentechnik -
Dem Forschungsinstitut für Optimierungsverfahren durch Gentechnik in XXXX in Oberbayern ist die Isolierung der Science-Fiction-Gene gelungen.
Isoliert wurden sowohl, die für die passive Science-Fiction-Rezeption relevanten, Gene, als auch die Gene, die das Schreiben von Science-Fiction ermöglichen.
Das Institut plant nun durch Gentechnik optimierte Science-Fiction-AutorInnen zu klonen.
Nach Angaben aus dem Umfeld des Forschungsinstituts für Optimierungsverfahren durch Gentechnik in XXXX in Oberbayern soll die genetische Optimierung auch eine Differenzierung nach unterschiedlichen Science-Fiction-Gattungen ermöglichen.
Experimentiert wird zusätzlich mit Kreuzungen. Durch eine Kreuzung des Asimov-Genoms mit dem Bradley-Genom ist eine Roboterversion der Artussage nun in Reichweite des Möglichen. Das Strugatzky-Genom und das Spielberg-Genom erwiesen sich aber als unverträglich.
Im Bereich von Verlagen besteht ein großes Interesse an genetischen Optimierungsverfahren.
Die Verlagswelt erhofft sich durch den Einsatz der Gentechnik und die genetische Optimierung ihrer AutorInnen Kosteneinsparungen im Bereich Lektorat. Außerdem würden die Bücher genetisch geklonter AutorInnen auf Grund der patentrechtlichen Sachverhalte der Genetechnologie ohne Einschränkung automatisch einen Besitzstand der Verlage darstellen.
Darüber hinaus könnten AutorInnen je nach Bedarf, genetisch optimiert, geklont werden, und auf diese Weise, durch den Einsatz der Gentechnik, immer zielgenau, die gerade nachgefragten Science Fiction Gattungen produziert werden.
Da die genetischen Science-Fiction-AutorInnen-Klone außerdem mit eine zeitlichen Terminierung produziert würden, ließen sich, Dank Gentechnik, auch erheblich Kosten im Bereich der Sozialversicherung einsparen. Die Biomasse terminierter Klone kann, nach Ablauf der genetischen Terminierung, sogar im nächsten gentechnologischen Produktionszyklus widerverwendet werden.
Bei Bedarf könnten, mit Hilfe der Gentechnik, Science-Fiction-AutorInnen-Klone, die auf Grund ihrer Terminierung nicht mehr zur Verfügung stünden, auch erneut produziert werden.
Genetisch optimierte Science-Fiction-AutorInnen-Klone werden die Zukunft des Science-Fiction bestimmen. Auf Grund ihrer Optimierung durch Gentechnik ist die überlegenheit der Science-Fiction-AutorInnen-Klone über die bisherigen Zufallsentwicklungen natürlich.
Aber auch das Wissen über die, für die passive Science-Fiction-Rezeption relevanten, Gene wird in Zukunft Anwendung finden.
Für die Vermarktung von Science-Fiction werden gezielt chemische Additiva entwickelt, die die für die Rezeption von Science-Fiction relevanten Gensequenzen aktivieren und auf diese Weise die Wirkung von Science-Fiction durch Gentechnik verstärken. Geplant ist, die protogenetischen Additiva Science-Fiction-Büchern als Imprägnierung beizufügen und sie im Rahmen von Filmvorführungen in der Raumluft freizusetzen. So werden die Gene der RezipientInnen optimal auf das Unterhaltungserlebnis eingestimmt.
Zusätzlich hat ein Cornflakesproduzent bereits Interesse an protogenetischen Additiva deutlich gemacht, für die Produktion spezieller Space-Flakes die im Rahmen aktueller Science-Fiction-Serien gezielt vermarktet werden sollen.
Bisher wurden Bedenken nur von VertreterInnen des Gentechnik-Widerstandes geäußert. Ihre Befürchtung ist, daß die KonsumentInnen der protogenetischen Additiva sich auf Grund ihrer dauerhaft aktivierten Science-Fiction-Gene selbst in Science-Fiction-Figuren verwandeln werden. Befürchtet wird hier eine durch Gentechnik ausgelöste Masseninvasion der Erde durch in Dark Vader mutierte Science-Fiction-LeserInnen.
Als problematischer könnte sich sogar noch eine Mutation in genetisch optimierte Alliens erweisen.
Das Forschungsinstituts für Optimierungsverfahren durch Gentechnik in XXXX in Oberbayern wies dies als Panikmache des Gentechnikwiderstandes zurück. Das schlimmste, was die protogenetischen Additiva verursachen könnten, wäre eine massenhafte Biomorphung von Science-Fiction-KonsumentInnen in niedliche E.T.'s, und Telefone gibt es ja in ausreichender Anzahl.
Die genetisch bedingte Biomorphung ist außerdem nach bisherigem Wissensstand nur von zeitweiliger Natur. Die Optimierung der Science-Fiction-Rezeption durch Gentechnologie ist ein vollständig harmloses Verfahren.
Aus vertraulicher Quelle ist aber bekannt, daß es bei einem Unfall mit den protogenetischen Additiva im Forschungsinstitut für Optimierungsverfahren durch Gentechnik in XXXX in Oberbayern bereits zu einer Biomorphung der Putzfrau kam, die sich bisher nicht wieder zurückgebildet hat. Seit dem wird das Institut von Spiderwoman geputzt.
Anna Irrliche, 2008