Carlotta



2084


Folge 2 - Unter Beobachtung


Was bisher geschah: Karin Jorzig die Tochter des berühmten Professor Jorzig und zu den 100 genetisch wertvollsten Subjekten der Gesellschaft gehörend, entscheidet sich alles aufzugeben und in die aufgegebenen Gebiete der Stadt zu ziehen. Ihr Vater kann das aufgrund seiner gesellschaftlichen Stellung nicht zulassen und läßt sie in die Psychiatrie einweisen. Niemand weiß, wo sie ist.


Das erste was Karin sah als sie erwachte war der wunderschöne Garten jenseits des Fensters. Sie lag in einem Bett. Auf einem Stuhl lag Kleidung die noch unbenutzt aussah. Das Zimmer hatte noch einen Stuhl, einen Tisch einen Schrank, einfach aber nicht geschmacklos. Die Tür hatte weder einen Griff noch einen anderen Öffnungsmechanismus. Das Fenster war nicht zu öffnen und bruchfest.
Sie dachte erst sie würde die Kleidung nicht benutzen - lieber nackt rumlaufen. Da hörte sie die Stimme. Die Kameras die das Zimmer überwachten waren wirklich kaum zu sehen.
Sie duschte sich - auch hier wußte sie sich beobachtet.
'Guten Morgen Karin, Ich bin Clarissa Deine persönliche Begleiterin überall in diesen Räumen. Ich bin nur für Dich da. Ich weiß, daß Du mir jetzt noch nicht glaubst und vertraust, das macht nichts. Du wirst die Zeit bekommen die Du brauchst.

Ein Frau ist Dir doch lieber als Betreuerin - oder habe ich falsch geraten?
Soll ich mich lieber in einen Mann verwandeln?'
Karin hätte sich fast übergeben. Sie hatte in ihrer Studienzeit über das individuelle Psychiatrie-Betreuungsprogramm von amtex gelesen. Eine virtuelle psychiatrische Betreuungsperson ganz auf die individuelle Patientin zugeschnitten, lernfähig, einfühlsam- so schrieben sie. Es gab praktisch nur noch Verwaltungspersonal in den Kliniken.
'Du weißt, Deine Aufenthaltsdauer und weitere Behandlung liegt in meinem Ermessen.'
Konnte mensch einen Computer betrügen? Karin wußte das jede Ihrer Bewegungen, der Gesichtsausdruck, Blutdruckschwankungen, alles ausgewertet wurde.


Das eigene Kind, eine geborene Lügnerin. Sie erinnerte sich noch an den Schock, als die Ärzte ihr mitteilten, daß ihre Tochter diese Disposition hatte. Heute hatte sie sich wider einmal den Tag Zeit genommen um ihre Tochter im Kindergarten zu beobachten. Sie schaltete den Bildschirm ein und klickte die Kameras im Kindergarten durch. Da saß ihr Tochter - wieder allein in einer Ecke. Und war es nicht verständlich, daß niemand mit der Defekten spielen wollte.
Wenn sie sich wenigstens bemüht hätte.
Am Abend brachte sie ihre Tochter wie zufällig auf den Tag im Kindergarten zu sprechen. Und da war es wieder, das Kind erzählte, vom Spiel mit den anderen, daß gar nicht stattgefunden hatte.
Sie konnte diese ewige Lügerei nicht mehr aushalten, aber alles war kalt in ihr; 'Lüg nicht schon wieder.'
Dann sperrte sie die Kleine in ihr Zimmer.
Was sollte nur aus ihr werden? Dabei hatten sie jede Minute ihrer Entwicklung überwacht. Aber gegen die genetische Festlegung waren sie nicht angekommen.


Der junge Mann wurde ohne Verzögerung von mehreren Sicherheitskräften zu Boden geworfen und abgeführt. Das war lange nicht mehr passiert. Zwei PassantInnen hatten den Mann vorher daran gehindert über einen Zaun zu fliehen. Daß Tragen von Masken in der Öffentlichkeit war außer zu genehmigungspflichtigen Anlässen untersagt.
Der junge Mann schrie als die Uniformierten ihm den Arm verdrehten.
Die Frau am Kiosk; 'Na - der wird auch noch lernen sich ordentlich zu benehmen - so oder so.'


Die Gänge waren bisher immer leer gewesen. Es war das erste mal seit - sie wußte die Zeit nicht mehr - daß Karin einen Menschen sah.
Die Frau saß leicht zitternt und zusammengezogen in einem Fenster.
Karin näherte sich nur zögernd; 'Hallo.'
Die Frau blickte auf; 'Hallo, Du mußt mir helfen. Wenn ich nicht bestehe komme ich nach F4.'
'Wobei helfen? Was ist F4?'
Die Frau schlug gegen die Wand; 'Ich muß bestehen, ich bin in der Selektion, Du bist meine letzte Chance. Ich muß meine soziale Kompetenz beweisen. Sonst komme ich nach F4.'
'Was ist F4?'
'Keine weiß das. Niemand kommt zurück. Ich habe eine Woche Zeit.'

'Was mußt ich tun?'
'Das weiß ich nicht - frag doch Ihn.'
'Wen?'
'Diesen scheiß Computer.'
Jetzt verschmierte sie Rotz auf der Kameralinse an der Decke. Sie sprang immer wieder hoch.
'Aber, aber, da waren wir doch schon einmal weiter.' - Eine dunkle Männerstimme von irgendwoher.
Karin versuchte die Frau zu beruhigen; 'Wer ist das?'
'Dieser scheiß Computer.'
'Ich bin Mischa Ninas persönlicher Berater, schön Dich kennen zu lernen Karin.'
Es hätte nur noch gefehlt das Ihr eine Hand kreisend über den Rücken gestrichen hätte.
Karin nahm Nina in die Arme.


Sie lief durch den Wald. Hier war jeglicher Eingriff verboten. Als Kinder hatten sie die Pfade trotz Verbot verlassen. Orte an denen eine niemand sah.
Ihr Freund sah ihre Unruhe; 'Du mußt Dich nicht sorgen - seit letztem Jahr ist der ganze Wald kameraüberwacht.'
Sie mußte laut loslachen und fing an zu singen; 'Im Wald da sind die Roäuber, Roäuber,..'
Er verstand das natürlich mal wieder nicht.


Aus den Gerichtsakten I
Es war ein Unfall. Das Gericht schloß die Akten mit der Bemerkung, das sich die junge Frau durch ihre Ablehnung ein Ortungsgerät zu tragen selbst verdächtig gemacht habe. Die beiden Polizisten mußten deshalb annehmen es mit einer Kriminellen zu tun zu haben. Auch wenn das Tragen von Ortungsgeräten keine Pflicht war - so war es doch zuminest Nachts allgemein üblich. Das sich der Schuß aus der Waffe löste war sicher tragisch.


Sie wußte nicht wann sie sich in Nina verliebt hatte. Ob am dritten oder am vierten Tag. Nina spottete nur; 'In wen solltest Du Dich auch sonst verlieben?'
Sie umarmten, sich vebrachten nicht nur die Tage miteinander.
'Na, da werden Mischa und Clarissa aber eine Menge auszuwerten haben.'
'Vielleicht stürzt das Programm ja ab.'
Heute war der siebte Tag.
Sie bemerkte das Gas nicht gleich. Sie konnte sich nicht einmal mehr verabschieden. Als sie aufwachte war Nina nicht mehr da. Dann rannte sie allein durch Gänge, prügelte auf die Wände ein. Und schrie.
'Ninaa! - Ninaa!'
Aber nur die Stille antwortete ihr - und dann nach einer Weile Clarissa.
'Nina war leider ein hoffnungsloser Fall. Wir mußten sie nach F4 überweisen. Es tut mir leid. Wir verlieren ungern eine Patientin. Ich möchte Dich nicht auch noch verlieren.'
An diesem Tag versuchte sie das erste mal soviel wie möglich zu beschädigen - zu zerschlagen.


Aus dem Lexikon
Childwatching - Die heute allgemein übliche Technik das Verhalten und die Entwicklung von Kindern kontinuierlich aufzeichnen zulassen und auszuwerten wurde zuerst in den USA in den 90er Jahren des 20ten Jahrhunderts in einigen Kindergärten entwickelt. Nach dem dort Kameras installiert worden waren um Bilder ins Internet übertragen zu können wurde auch sehr bald der Nutzen der Aufzeichnung und psychosozialen Auswertung erkannt. Aber erst als im Jahr 2011 einige Kommunen mit der flächendeckenden Aufzeichnung und Übertragung des Kindesverhaltens von Spiel- und Freizeitflächen aus begannen, wurde es möglich vollständige Verhaltensmuster präventiv auszuwerten. Mit dem Gesetz zur Unterstützung von Eltern bei ihren Erziehungsaufgaben wurden 2020 die Kommunen gesetzlich verpflichtet die flächendeckende Kamerabetreuung von Kindern in der Öffentlichkeit zu gewährleisten.


Aus den Gerichtsakten II
Die Frau hat mit den beiden ihr nur entfernt bekannten Männern bewußt den Videoüberwachungsbereich verlassen. auf die beiden Männer mußte dies als Aufforderung wirken. Zumindest unbewußt kann der Frau ein Spiel mit dem Risiko unterstellt werden. Das Strafmaß für den Vorwurf der Vergewaltigung ist deshalb auf einen minderschweren Fall zu reduzieren.


Nina war eine Woche weg - oder eine Ewigkeit. Karin stand von ihrem Bett auf und entschied sich. Sie ging systhematisch vor. Zuerst schlug sie ihren Kopf gegen die Wand, das kostete die meiste Überwindung. Sie brauchte das Blut. Überall, wo sie die Kameraaugen erreichen konnte schmierte sie etwas hinein. Sie wußte, daß sie nicht sehr lange Zeit haben würde, bis zur Ruhigstellung. Aber Clarissa ließ nichts von sich hören. Dann versuchte sie in die Elektronik zu pinkeln.
Aber es passierte immer noch nichts.
Sie sah sich um - das Bett.
Tatsächlich ließ sich der Bettpfosten ausbauen. Als die erste Kamera zerklirrte brach sie in Gelächter aus, dann rannte sie durch die Gänge.
Erst jetzt kam das Gas - und Clarissas Stimme: 'Es tut mir leid Karin.'


Sie: 'Manchmal wird mir alles zuviel mit dem Kind'
Die beste Freundin: 'Komm - Du hast Dir das ausgesucht. Du wolltest doch das Kind.'
Sie: 'Muß ich deshalb alles alleine machen.'
Die beste Freundin: 'Du wolltest doch kein weiteres Screening, keine genetische Aufwertung. Dann mußt Du jetzt auch so konsequent sein und mit dem Kind mehr üben. Du hast das entschieden.'

Aus der Werbung I
Ein kleiner genetischer Schalter ein großer Schritt für die Frau. Schalten Sie ihre Menstruation ab - kein Geruch mehr, kein Blut.
Haben Sie sich noch nicht gewundert, wieso Ihre Freundin auch an ihren Tagen so natürlich ist?


Als sie aufwachte, wußte Karin noch bevor sie die Stimme des Computers hörte, daß sie nun auch in der Selektion war. Es war egal. Vielleicht würde es dann vorbei sein.
Sie kauerte sich in eine Ecke und versuchte alles zu vergessen - nur nicht Nina.
Als sie die andere Frau sah, die sich ihr unbeholfen näherte, schrie sie sie an, drohte ihr mit Schlägen.
Alles konnte passieren, alles, aber das mit Nina durfte sich nicht wiederholen, also schlug sie irgendwann auch zu.
Dann schrie sie, trommelte gegen die Wände - sie wollte keine Woche warten.
Und Clarissa gab auf. Das Gas kam. Das letzte was sie hörte war; 'Sie kommt nach F4.'



In der nächsten Folge lesen Sie: Was bedeutet F4? Lebt Nina noch? Werden die beiden sich je wiedersehen?


2084 Teil 3




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Impressum: Paula & Karla Irrliche







Zuletzt aktualisiert 10.10.14



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